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Theologie angesichts des Digitalen

Beiträge zu den theologischen Herausforderungen durch Digitalität und Digitalisierung

von Roman Winter-Tietel (Band-Herausgeber:in) Lukas Ohly (Band-Herausgeber:in)
©2023 Sammelband 264 Seiten

Zusammenfassung

Die Theologie ringt mit ihrer digitalen Zukunft. Wie weit kann sie sich auf den digitalen Logos einlassen, ohne ihren eigenen Logos aus den Augen zu verlieren? Die Beiträge dieses Buches versuchen, darauf eine Antwort zu geben, indem sie in interdisziplinärer Breite aktuelle Debatten um die Digitalisierung aus einer jungen Perspektive reflektieren. Das Verhältnis von Theologie und Digitalität wird unter anderem aus einem (religions)philosophischen, ethischen, systematisch-theologischen und ökumenischen Blickwinkel thematisiert. Ein besonderes Kennzeichen dieses Buches sind die kreativen Köpfe dahinter: die Mehrheit der AutorInnen sind NachwuchswissenschaftlerInnen, die als Digital Natives im wissenschaftlichen Diskurs noch (zu) wenig wahrgenommen werden. Damit richtet sich das Buch aber nicht allein an das junge akademische Publikum. Es soll vielmehr ein Impulsgeber für die Theologie insgesamt werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • Verortungen // Aufgaben
  • Noch etwas vergessen?
Theologische Aufnahmen der Digitalität und ihre blinden Flecken
  • Verstummt die Dogmatik angesichts boomender Digitalität?
Ein praktisch-theologischer Zwischenruf
  • Philosophie // Theologie
  • „Chatte, dass ich Dich sehe“
Zur theologischen Ontologie virtueller Welten
  • On Virtuality
A Negative-Theological Concept of Aesthetic Designs to Signify Divine Transcendence in Art and Liturgy?
  • Digitales Selbstbewusstsein
Philosophische Interventionen
  • Gestell und Deutung
Eine Phänomenologie der Digitalität
  • Ethik // Leben
  • Autonomer Mensch und autoregulative Maschine
Eine Verhältnisbestimmung von Theologie und (hochautomatisierter) Technik
  • Digitale Vergöttlichung
Kann das Digitale helfen, die Theosis zu verstehen?
  • Kierkegaards Begriff eschatologischer Hoffnung in Zeiten digitaler Vorwegnahmen
  • Grundriss einer Theologie des Verlassens
Theologische und christologische Überlegungen im Zeitalter der Digitalisierung
  • Anhang: Call for papers (2022)
  • Reihenübersicht

Roman Winter-Tietel

Einleitung

Dass in Zeiten revolutionärer Veränderungen die Ethik eine bedeutsame Rolle in der Gesellschaft einnimmt, verwundert wohl nicht. Bedeutsame Umbrüche, ob in der Technik, den Medien oder der Wirtschaft, evozieren neue Formen des sozialen Miteinanders und rufen daher eine (ethische) Überprüfung der etablierten Interaktionen der gesellschaftlichen Subjekte auf den Plan. Überall, wo Menschen miteinander interagieren, ist daher eine moralische Dimension ihres Lebens berührt. In den gegenwärtigen Zeiten hat sich die menschliche Interaktion nicht nur anteilig in das virtuelle Netz von Sozialen Medien und Plattformen verlagert, sondern sie wird darüber hinaus durch nicht-menschliche Akteure angereichert oder konstituiert, wenn nicht gar konterkariert. Diese Verbindung von algorithmischen Intelligenzen und fleischlichen Menschen zu einem Gefüge aus digitaler und lebendiger Lebenswelt hatte u.a. Stalder (2016) als eine Kultur der Digitalität beschrieben. Forschende nach ihm, aber auch nicht wenige vor ihm haben mit ethischen Impulsen zu dieser neuen Perichorese der Lebenswelt Stellung bezogen. Die Theologische Ethik war in dieser Debatte sicherlich nicht lautstark, aber durch Theologen wie Lukas Ohly mindestens seit Beginn an prominent vertreten.

Als die Herausgeber im Jahr 2022 den titelgleichen Workshop planten, waren ihre Überlegungen von diesem langjährigen Eindruck (der Prominenz der Theologischen Ethik beim Thema Digitalisierung) geleitet. Es ging darum, einen ergänzenden Impuls zu geben, bei dem auch die Dogmatik eindringlicher in den Diskurs eintritt. Es ist nämlich bezeichnend, dass in der beschriebenen gesellschaftlichen Transformation gerade seitens der Ethik Stellungnahmen erwartet und teilweise gegeben werden. Von der Dogmatik jedoch – wie vielleicht von der Theologie insgesamt – werden in den gesellschaftlichen und politischen Debatten, die um die Gestaltung einer menschlichen Zukunft (auch betreffs eines Zusammenlebens mit nicht-menschlichen Akteuren) kreisen, keine Antworten (mehr) erhofft – so scheint es. Bernhard Lauxmann wird in diesem Band konstatieren, dass dieser Eindruck zu Recht besteht und darin begründet ist, dass die Dogmatik eine „rückwärtsgewandte“ sowie am „Wort“ verhaftete und damit scheiternde Disziplin ist. Ein harsches Urteil, das vielleicht nicht nur für die Dogmatik, sondern die gesamte Theologie gilt? Jedenfalls läge darin ein möglicher Grund ihrer gesellschaftlichen, politischen und visionären Irrelevanz. Denn entweder könnte sie sich nur zur Kritik am Bestehenden und Neuen hinreißen, ohne ernsthafte Alternativen zu präsentieren, oder ihre so vermeintlichen Alternativen und Visionen wären nichts weiter als Wiederholungen des Vormaligen und in der Vergangenheit Gebliebenen. Solche Antworten braucht die gegenwärtige Gesellschaft (die westlich-demokratische jedenfalls) scheinbar nicht mehr. In Zeiten, in denen Antworten auch durch Künstliche Intelligenzen (KI) gegeben werden (können), richtet man den Blick nicht länger zurück, um nicht zu Stein zu erstarren.

Befragt man etwa eine solche KI – im konkreten Fall handelt es sich um ein Interview, das Roman Winter-Tietel mit ChatGPT im Januar 2022 geführt hat – zum Thema der zukünftigen Arbeitswelt, antwortet sie, dass es im Zuge der Integration von KI-Systemen in die menschliche Lebens- und Arbeitswelt wahrscheinlich zu offenkundigen Neuerungen kommen wird. Eine konkrete Erweiterung der Arbeitsfelder wird in Zukunft, neben der Datenanalyse und Entwicklung von KI, die ethische Reflexion darüber sein, wie „KI-Systeme immer mehr in unser Leben eingebettet werden“ (ChatGPT) können. Scheinbar sehen nicht allein also die (heutigen) Menschen einen Relevanzbedarf an ethischer Reflexion der gegenwärtigen und zukünftigen Lage der Digitalität. Was kann die Theologie und insbesondere die Dogmatik zu diesem Diskurs beitragen? Warum sollte sie überhaupt etwas dazu beitragen? Auf die letzte Frage gibt es immerhin begründete Antworten.

Die Dogmatik reflektiert zwar neben der Geschichte des christlichen Glaubens(verständnisses) die dazugehörigen Lehrinhalte. Sie ist jedoch dezidiert, wie die Praktische Theologie auch, auf die Gegenwart und Zukunft gerichtet, für die sie eine gesellschaftlich-relevante Hermeneutik formuliert, um damit vom christlichen Glauben Rechenschaft und vielleicht sogar Zeugnis1 abzulegen. Um dieser Aufgabe angemessen zu begegnen, evaluieren TheologInnen in systematisch-theologischer Manier ihre Lebenswelt und entwerfen Deutungen und Positionierungen im Sinne des Christlichen. Aus der inhärenten Dynamik der Systematischen Theologie erwächst mithin ihre Bewegung zur Reflexion der Lebenswelt. Ob ihr das gelingt, hängt allerdings nicht unwesentlich von ihrer Methodik ab. An dieser Stelle kann man ein teilweise scheiterndes Vorgehen beobachten, das vielleicht die tendenziöse Irrelevanz der Theologie für die Gesellschaft erklären könnte. Die Gründe dafür sind vielfältig und werden in diesem Band von Ohly und Lauxmann in ihren Beiträgen diskutiert.

Unumstritten scheint hingegen der Umstand, dass die Systematische Theologie ihre Aufgabe in der je eigenen Gegenwart hat. Und da die gegenwärtige Situation, wie vielleicht nie zuvor, von einer technologischen Welle (die u.a. als Digitalisierung gelabelt wird) erfasst ist, ist es nur folgerichtig, dass diese digitale Lebenswelt auch das systematisch-theologische Denken selbst mitreißt. Darum soll dieser Trend in diesem Band reflektiert werden.

Dabei wird die Schlüsselkompetenz für den Erfolg der theologischen Forschung möglicherweise darin liegen, inwieweit es der Theologie gelingt, ihrer eigenen Methodik und Sache treu zu bleiben. Es ist immer wieder beobachtet worden, dass die Theologie gerade dann zum Scheitern verurteilt ist, wenn sie in ihren deutenden Modellen und sinngebenden Symbolen meint, die Welt besser erklären zu können als die der Sache eigentlich entsprechenden Wissenschaften. Am Paradigma der Schöpfung kam diese Einsicht etwa darin zum Ausdruck, dass die Theologie nicht länger von Weltentstehungserklärungen und -theorien redet, die neben den naturwissenschaftlichen stehen, sondern von Sinn und Lebensdeutungen (im Anschluss an Luthers Auslegung der Schöpfung2) durch religiöse Symbole. Gegenwärtig gehört Ingolf Dalferth zu den prominentesten Vertretern einer genuin theologischen Methode;3 jedenfalls wäre es nicht vermessen zu sagen, dass sein Lebenswerk auf dieses Vorhaben ausgerichtet ist. Mit großer Klarheit hat er das etwa in seinem Auferstehungsaufsatz4 gezeigt: Solange die Theologie meint, die Auferstehung anders erklären zu können als ihr angemessen qua theologische Methode, nämlich stattdessen durch einen Rekurs auf historische, physikalische oder psychologische Methoden – solange wird die Theologie fehlgehen. Bezieht man diesen kritischen Blick auf die Digitalität, wird man zu dem Schluss kommen: Sie ist keine Sache der Dogmatik! Daher scheint es verfehlt, theologische Erklärungen für die Digitalität zu erwarten. Das können andere Wissenschaften – u.a. die Ethik – besser. Dennoch hat sich die Dogmatik mit dieser Einsicht noch nicht von der Digitalität verabschiedet. Der zentrale Bezugspunkt für sie ist nicht das Phänomen5 der Digitalität als Untersuchungsgegenstand, sondern ihre Wirkung auf den Theologievollzug und den christlichen Glauben. Weil mit guten Gründen anzunehmen ist, dass sich beide transformieren, ist eine theologische Reflexion dazu nötig. Da der Glaubensvollzug und die relevanten existentiellen Glaubensgehalte heute unter andere – und zum Teil neue – Bedingungen gestellt sind, ist die theologische Forschung sinnvoll. Wenn etwa behauptet wird, dass Menschen durch Virtualität oder Cloud-Systeme auferstehen oder ewig leben könnten, so ist es eine theologische Aufgabe, aufzuklären, was Ewiges Leben (eigentlich) bedeutet.

Dass die Systematische Theologie diese Aufgabe und ihre Sache in der Tat nicht mehr länger ignoriert, zeigen die mannigfaltigen Publikationen zum Thema, die gerade in den letzten Jahren Konjunktur erleben. Genannt seien an dieser Stelle nur zwei: der Digitalitätsband von W. Beck, I. Nord und J. Valentin6 sowie die EKD-Denkschrift „Freiheit digital“7. Die hier vorgelegten Workshopergebnisse reihen sich ohne Zweifel in diese Debatte ein, setzen aber eigene Schwerpunkte. So war es von Beginn an für die Herausgeber ein Anliegen, gerade junge AkademikerInnen, also digital natives, in den Forschungsdiskurs einzubinden, um diesen TheologInnen und PhilosophInnen eine Stimme zu verleihen. Entsprechend müssen die Beiträge auch eingeordnet werden: Sie sind Versuche seitens kreativer Köpfe, die gegenwärtige Dynamik der Digitalität für die Theologie so fruchtbar zu machen, dass innovative Forschung dabei entsteht, ohne Verwerfungen (aber durchaus Kritik) auszusprechen.

Damit soll nicht der Digitalität oder einem „Zeitgeist“ unkritisch das Wort geredet werden. Alle hier versammelten Beiträge sind sich der Problemlage, die durch die Digitalität und die damit einhergehende teils fragwürdige Nutzung der Daten aus der Privatsphäre für die gegenwärtige und zukünftige Arbeitswelt, für die Ethik und die Anthropologie sowie für das menschliche Selbstverständnis entstehen, umfänglich bewusst. Nicole Kunkel, Kathrin Burghardt, Christian Schlenker und Winter-Tietel werden darauf ausführlich eingehen.

Was die hier präsentierte theologische Forschung u.a. leitet, ist darüber hinaus noch etwas anderes. Zunehmend lässt sich ein Sachverhalt beobachten, den die Theologie bis jetzt (völlig) vernachlässigt hat und der ihr zum Verhängnis werden könnte, nämlich ihre eigene Perichorese durch die Digitalität. Ohly wird das in seinem Beitrag zuweilen die „Kolonialisierung“ der Theologie nennen. Gemeint ist damit die Beobachtung, dass theologisch Forschende oder Kritisierende eine Perspektive zum Thema Digitalität einzunehmen meinen, die scheinbar davon gefeit ist, in den digitalen Sog gezogen zu werden, d.h. eine Perspektive, in der sich die Forschenden frei von der digitalen kulturellen Dynamik wähnen. Ihre kritische Metasicht scheint sich außerhalb der technischen und sozialen Dynamiken zu befinden, sodass ihnen ein unverzerrter Blick auf die Digitalität gelingt. Doch ist hierbei wohl in Zweifel zu ziehen, wie das denn möglich sein soll. Ist die Theologie etwa kein Teil der Lebenswelt, und können TheologInnen eine Vogelperspektive einnehmen im Gegensatz zu allen anderen Wissenschaften? Beides ist fragwürdig. Daher rührt unser Verdacht, dass die Theologie der Digitalität unlängst auf den Leim gegangen ist. Sie mag die Digitalität kritisieren oder loben, ist aber je schon in ihrem Fahrwasser, sodass auch ihre Kritik selbst eine „digitale“ ist.

Seit einiger Zeit verfolgen die Herausgeber eine Reflexion dieser Problematik. Sie sehen aktuell zwei Möglichkeiten, wie die Theologie mit dieser Involviertheit umgehen kann. Die erste Möglichkeit wird in Ohlys Beitrag angedeutet. Er skizziert im Schluss seines Artikels einen Lösungsvorschlag durch eine Rückführung auf die Reflexion des hermeneutischen Zirkels, in dem die Theologie je schon lebensweltlich beheimatet ist, weil sie aus dem Widerfahren des Glaubens „west“. Ohlys Pointe ist dabei, dass sich die Theologie auf ihr zirkuläres Verstehen besinnen sollte. Das zirkuläre Verstehen setzt beim Vorverständnis an, das sich nicht herstellen lässt, sondern stets nur ereignet. In dem Rekurs auf das Vorverständnis entsteht eine „Selbstdistanz im Selbstvollzug“; eine Distanz, die just eine Perspektive auf die Digitalität erlauben könnte, ohne von ihr okkupiert zu sein.

Eine andere Möglichkeit des theologischen Zugangs zur Digitalität scheint in den Beiträgen von Schlenker und Winter-Tietel auf. Während es bei der ersten Möglichkeit um eine kritische Distanz im Vollzug unter den Bedingungen der Digitalität geht, folgt die zweite Möglichkeit einer Ausrichtung auf die genuine Quelle theologischen Denkens trotz der Bedingungen der Digitalität: die Selbstoffenbarung. In der Linie dieses theologischen Zugangs lassen sich gegenwärtig Denker wie Jean-Luc Marion8 oder Michel Henry9 benennen. Worum es dabei geht, kann man wie folgt skizzieren: Verneint man die Annahme, dass die lebensweltliche Erfahrung eins sei mit der Quelle der Glaubenserfahrung, das heißt die Annahme, dass der göttliche und der menschliche Geist eins seien,10 so folgt daraus der Schluss, dass es unterschiedliche Quellen von Erfahrung geben muss. Entweder also lässt sich die Glaubenserfahrung aus der menschlich-lebensweltlichen Erfahrung herleiten oder eben nicht. Gesetzt den Fall, es gebe eine andere Quelle der Glaubenserfahrung – eine Glaubenserfahrung, die zwar (selbstverständlich) in der menschlich-lebensweltlichen Erfahrung sich phänomenalisiert, nicht aber aus ihr entspringt, dann könnte die Theologie im Rekurs auf diese Quelle eine Position einnehmen, die gerade nicht lebensweltlich imprägniert ist, weil die Glaubenserfahrung und die Position nicht aus der Lebenswelt stammen. Und in der Tat hat die christliche Theologie (fast durchweg) eine solche Quelle behauptet oder angenommen, die sie mit dem Begriff der Offenbarung symbolisiert hat. Eine wesentliche Charakterisierung dieser Quelle war ihre Nicht-Phänomenalisierung im Horizont der Welt.11 Dass hierbei nicht auf eine supranaturale Offenbarung rekurriert wird, dürfte unlängst aus der Nennung von Denkern wie Marion oder Henry klar sein. Es sei mit ihnen darauf hingewiesen, dass es eine Erfahrung in der menschlich-lebensweltlichen Erfahrung gibt, die nicht aus ihr stammt, sondern widerfahren ist aus den Bedingungen der Möglichkeit für Erfahrung überhaupt. Diese Bedingung der Möglichkeit für die Glaubenserfahrung hat die Theologie die Selbstoffenbarung Gottes genannt. Es lassen sich für diesen Sachverhalt aber auch andere analoge Nicht-Phänomene mit ihren phänomenalen Substituten in Anschlag bringen, nämlich (alle?) Substituten, die ihren Urgrund in einem nicht-phänomenalen Widerfahrensmoment (oder einer Gabe) haben: Freisein und Lebendigkeit. Gemeinsam ist ihnen, dass sie zwar in der menschlich-lebensweltlichen Erfahrung ausgewiesen werden können, aber gerade nicht mit ihr identisch sind,12 weil sie aus einer anderen Quelle herrühren. Die Quelle selbst ist mithin kein Phänomen im Horizont der Welt (weil sie als solche nicht erscheint), wohl aber Bedingung der Möglichkeit, dass überhaupt etwas erscheint.13 Henry hat das mit dem Leben der Lebendigen so umschrieben:

Das Leben hat keine phänomenologische Existenz, wenn wir darunter einen spezifischen Phänomenalisierungsmodus der reinen Phänomenalität verstehen. Die phänomenologische Nichtexistenz des Lebens in diesem radikalen Sinne führt wiederum zu der […] Substitution, die als eines der beständigsten Merkmale des abendländischen Denkens erkannt wurde, nämlich zur Substitution des Lebens des Lebendigen durch dessen Bezeichnung als lebendig Seiendes. […] Wie jedes Seiende jedoch hat es sein Sein nur durch seine Eigenschaft als Phänomen.14

Das Leben (nach Henry) (so wie auch die Freiheit oder der Glaube) ist kein Phänomen der ekstatischen Welt. Es ist eine Selbstimpression menschlich-lebendigen Fleisches, deren phänomenale („sichtbare“) Form die der Qualia ist und ihr Substitut das lebendig Seiende.

Was dem ‚Leben‘ als Selbstoffenbarung eigentümlich ist, besteht folglich darin, daß es sich selbst offenbart. Diese scheinbare Tautologie beinhaltet zwei Bedeutungen […]. Einerseits will Selbstoffenbarung heißen, wenn es sich um das Wesen des Lebens handelt, daß das Leben offenbart, diese Offenbarung vollzieht. Andererseits ist jedoch auch das Offenbarte das Leben selbst. An dieser Stelle unterscheidet sich also der dem Leben eigentümliche Offenbarungsmodus grundlegend von dem der Welt. Denn auch die Welt offenbart, läßt offenbar werden, aber in einem ‚Außen‘, indem sie jedes Ding […] außer sich wirft, so daß das Ding sich immer nur als anders, verschieden und äußerlich im Medium radikaler Außenheit zeigt, die das ‚Außer-sich‘ der Welt ist.15

Die Theologie hat diese Quelle die Selbstoffenbarung Gottes genannt, wobei sie an dieser Stelle eine Deutung vornimmt, die ihr indes widerfährt – nämlich in der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus. Henry hat diese Quellen ebenfalls als Gott verstanden, hat sie aber zugleich mit dem Leben identifiziert, das sich fleischlich selbstaffiziert. Weil die Quelle der Glaubenserfahrung nicht mit der menschlich-lebensweltlichen Erfahrung in eins fällt, darf die Theologie davon ausgehen, dass es außer der lebensweltlichen Erfahrung als Quelle (eine) andere Quelle(n) der Erfahrung von Freisein, Lebendigkeit und Glauben gibt,16 die genuin die Möglichkeit einer lebensweltdistanzierten Theologie evoziert. Lässt die Theologie diese Quelle in ihrer Selbstimpressionalität gelten und ihre Kategorien sich von ihr vorgeben, darf eine Perspektive auf die Digitalität geltend gemacht werden, die extra nos ist. Und das wäre die andere Möglichkeit, wie theologisch über die Transformation christlicher Glaubensinhalte und -vollzüge geurteilt werden kann.

In diesem Band gehen wir den genannten Möglichkeiten eines theologischen Zugangs zur Digitalität nach. Diese Wege erscheinen zwar gangbar, müssen sich aber in der theologischen Praxis erst bewähren. Der Band hält die ersten Ergebnisse dazu fest, ohne eine Vollständigkeit oder Makellosigkeit der Reflexion zu behaupten.

***

Diesem Themenkomplex widmete sich also der damalige Workshop „Theologie angesichts des Digitalen“ in Frankfurt 2022. TheologInnen und PhilosophInnen haben dogmatische und ethische Entwürfe präsentiert, die skizzieren, wie mit der Digitalität auf Augenhöhe umgegangen werden kann. Der Band ist in drei Sektionen unterteilt. Ohly und Lauxmann werden in Verortungen und Aufgaben aus der systematisch-theologischen und praktisch-theologischen Perspektive einerseits in den theologischen Digitalitätsdiskurs und andererseits in die Herausforderungen gegenwärtiger Dogmatik einleiten.

Ohly gewährt einen Überblick über die theologische Digitalitätsforschung. Er reflektiert ihre Einflüsse und Diskursfelder in den jeweiligen dogmatischen Topoi und benennt ein zentrales Problem der Theologie vor dem Hintergrund der Digitalität: Ihre eigene Blindheit für die Imprägnierung durch digitale Muster. Einen aktuellen Diskussionsbedarf erkennt er im Verständnis des Online-Abendmahls, wobei er an dieser Stelle seine eigene Position in Spiel bringt.

Lauxmann wiederum macht auf die Abhängigkeit der Dogmatik von ihrer (medialen) Tradition aufmerksam. Als Praktischer Theologe wagt er einen Blick über die Grenzen seines Fachs mit einem Plädoyer für eine zeitgemäße Dogmatik. Kern seiner Argumentation ist die dogmatische Verortung der Ev. Theologie in der Zeit der Reformation, womit zugleich die mediale Lebenswelt der Reformatoren übernommen wird. Dem Buch und dem Wort verhaftet, fehlt der Systematischen Theologie die Ressource, die Pluralität und Singularität der gegenwärtigen medialen Entwicklung zu verstehen.

In dieser Sektion spiegelt sich daher pointiert die bereits oben beschriebene Problematik der Theologie in einer medialen und kulturellen Umbruchszeit: Ihr Verhaftetsein in einem wenig reflektierten Vorverständnis – oder ihre Mimesis der medialen Transformation. Beide Tendenzen lassen sich auch im Streit um das Online-Abendmahl beobachten: Entweder es herrscht Ablehnung vor, weil man in den alten medialen Formen verhaftet bleibt und kein Verständnis für die Transformation mitbringen kann – oder man begrüßt die Neuerungen, indem man z.B. auf den kontinuierlichen (und zweifellos vorhandenen) Gemeinschaftsaspekt im Online-Mahl verweist, und übersieht so, dass der Sinn des Abendmahls vielleicht gerade in der Diskontinuität und dem Bruch mit der Welt verborgen liegt; mithin übersieht man die Pointe des Abendmahls, weil nur noch die korrelative Methode zentral wird.

Die zweite Sektion Philosophie und Theologie versammelt die Beiträge, die sich an der Grenze der beiden Disziplinen bewegen. Sie sind systematisch-theologischer Natur, insofern es den Beiträgen darum geht, den christlichen Glauben in der Gegenwart kritisch zu reflektieren und seine Formen in der Digitalität aufzuspüren.

Hendrik Klinge widmet sich in seinem Beitrag den Überlegungen zum Virtualitätsbegriff. Er zeigt dabei auf, dass dieser vielfach in der theologischen Tradition – der Sache nach – begegnet. Heute wird der Virtualitätsbegriff dort prominent gebraucht, wo von „Welten“ die Rede ist. Hier will Klinge mit einer ontologischen Differenzierung eingreifen, in dem er die virtuellen Welten in eine kommunikative Ontologie einordnet. Er überträgt seinen Vorschlag auf das, was man gemeinhin Realität versteht und prüft, ob nicht auch diese durch eine kommunikative Ontologie konstituiert sei. Dabei kommt er zu einer provokanten These, nämlich, dass sich Gott in den virtuellen Welten nicht offenbaren kann.

Details

Seiten
264
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631909980
ISBN (ePUB)
9783631909997
ISBN (Hardcover)
9783631895887
DOI
10.3726/b21281
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (November)
Schlagworte
Theologie Digitalität Digitalisierung Ethik Virtualität Anthropologie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 264 S., 4 farb. Abb., 3 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Roman Winter-Tietel (Band-Herausgeber:in) Lukas Ohly (Band-Herausgeber:in)

Roman Winter-Tietel wurde in Wolgograd, Russland, geboren. Er absolvierte sein Studium der Philosophie und Evangelischen Theologie in Oldenburg, wo er mit einer interkonfessionell ausgerichteten Arbeit über das christliche Martyrium im 20. Jahrhundert in Russland und Deutschland promoviert wurde. Derzeit ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt tätig. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Theologie und Digitalität sowie Phänomenologie. Lukas Ohly studierte Evangelische Theologie und Philosophie und wurde Im Jahr 2000 im Bereich Medizinethik promoviert. 2007 folgte seine Habilitation in Bioethik. Seit 2013 ist er Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt. Er ist er der geschäftsführende Herausgeber der Reihe „Theologisch-Philosophische Beiträge zu Gegenwartsfragen".

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