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Die selbstständige Einziehung nach § 76a Abs. 4 StGB und § 437 StPO

von Marcel Bienhüls (Autor:in)
©2023 Dissertation 194 Seiten

Zusammenfassung

Im Juli 2017 wurde in Deutschland die Möglichkeit der selbstständigen Vermögensabschöpfung eingeführt. Dabei handelt es sich um ein Novum unter den Abschöpfungsinstrumenten, denn der von der Einziehung Betroffene muss einer Straftat nicht überführt sein. Es genügt der Verdacht, dass der sichergestellte Gegenstand aus einer Straftat herrührt.
In der vorliegenden Arbeit wird dieses neue Abschöpfungsinstrument auf seine Vereinbarkeit mit strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Prinzipien und Garantien überprüft. Im Fokus stehen dabei die Spannungen mit der Unschuldsvermutung, dem Eigentumsgrundrecht, der freien richterlichen Beweiswürdigung und dem Rückwirkungsverbot. Zudem wird der Frage nachgegangen, ob diese neue Maßnahme eine strafähnliche Wirkung zeitigt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • A) Einleitung
  • B) Die selbstständige erweiterte Einziehung im Spannungsfeld strafrechtlicher Grundsätze
  • I.) Das Bruttoprinzip
  • 1.) Strafcharakter der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung aufgrund des Bruttoprinzips?
  • 2.) Der Meinungsstand seit 1992 und seine Bewertung
  • 3.) Fazit
  • II.) Strafähnlichkeit des neuen § 76a Abs. 4 StGB?
  • 1.) Gesetzgeberische Argumente gegen eine Strafähnlichkeit
  • a) Verfahren ad rem
  • b) Zukunftsgerichtete Abschöpfungsmaßnahme
  • c) Die Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
  • d) Übertragbarkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 73d StGB a.F.
  • 2.) Strafcharakter der selbstständigen erweiterten Einziehung?
  • a) Funktion und Wirkung der selbstständigen erweiterten Einziehung
  • aa) Die rechtswidrige Tat
  • bb) Das „Herrühren“ aus einer rechtswidrigen Tat
  • b) Das Problem der Mischfinanzierung
  • c) Strafcharakter in den übrigen Fällen
  • aa) Zugrundelegung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
  • bb) Strafcharakter nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
  • d) Zwischenergebnis
  • 3.) Konsequenzen
  • a) Schuldgrundsatz
  • b) Unschuldsvermutung und in dubio pro reo
  • aa) Die Kriterien des § 437 StPO als Lösung?
  • (1) Nachweis der Vermögensherkunft
  • (a) Kritik
  • (aa) Missverhältniskriterium
  • (bb) Die Kriterien des § 437 S. 2 StPO
  • (cc) Zusammenfassung
  • (b) Andere Beurteilung durch die Rechtsprechung?
  • (aa) Übertragbarkeit der Rechtsprechung
  • (bb) Anforderungen der Rechtsprechung erfüllt?
  • (2) Die Beweislastumkehr
  • (a) Gibt es bereits eine Beweislastumkehr im Strafrecht?
  • (b) Das Verständnis der Nichterweislichkeit einer Tatsache bei der üblen Nachrede
  • (aa) Vergleichbarkeit der beiden Rechtsinstitute?
  • (bb) Zulässige Ausnahme von dem Grundsatz in dubio pro reo?
  • bb) Zwischenergebnis
  • c) Die Selbstbelastungsfreiheit des Einziehungsbetroffenen
  • aa) Die Rechte des Einziehungsbetroffenen im Hauptverfahren
  • bb) Die besondere Ausgestaltung des selbstständigen Einziehungsverfahrens
  • 4.) Ergebnis
  • C) Die freie richterliche Beweiswürdigung
  • I.) Geltung der freien richterlichen Beweiswürdigung für die selbstständige Einziehung
  • II.) Die Garantie der freien richterlichen Beweiswürdigung
  • III.) Eingriff in die freie richterliche Beweiswürdigung?
  • 1.) Zwingende Vorgabe
  • 2.) Reduzierung der Beweisstandards
  • 3.) Unverbindliche Hilfestellung
  • 4.) Auslegung und Ergebnis
  • D) Vereinbarkeit mit Art. 14 GG
  • I.) Prüfungsmaßstab
  • II.) Schutzbereich und Eingriff
  • III.) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
  • 1.) Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage
  • a) Formelle Verfassungsmäßigkeit
  • b) Materielle Verfassungsmäßigkeit
  • aa) Legitimes gesetzgeberisches Ziel
  • bb) Geeignetheit und Erforderlichkeit
  • cc) Angemessenheit
  • (1) Die Begrenzung der selbstständigen Einziehung
  • (a) Straftatenkatalog
  • (b) „Herrühren“ aus einer Katalogtat
  • (aa) Weites Verständnis
  • (bb) Schutz der Rechte Dritter
  • (c) Zeitpunkt des Katalogtatverdachts
  • (d) Zwischenergebnis
  • (2) Die Beweislast bei der selbstständigen Einziehung
  • (a) Beweislastverteilung
  • (aa) Abgrenzung zwischen Anscheinsbeweis, Beweislastumkehr und Beweismaßreduktion
  • (bb) Die Zuordnung des § 76a Abs. 4 StGB
  • (cc) „Beweislastumkehr 2.0“
  • (dd) Zwischenergebnis
  • (b) Die Eigentumsvermutung des § 1006 BGB
  • (3) Abwägung
  • dd) Bestimmtheitsgrundsatz
  • (1) Entkoppelung von Katalogtatverdacht und Sicherstellungszeitpunkt
  • (2) Voraussetzungen der selbstständigen erweiterten Einziehung
  • (a) Vorgaben des Parlamentsgesetzgebers
  • (b) Wirksame Rechtskontrolle
  • (c) Vorhersehbarkeit der Maßnahme
  • (d) Zwischenergebnis
  • 2.) Ergebnis
  • E) Art. 316h EGStGB und das Rückwirkungsverbot
  • I.) Einschlägiges Rückwirkungsverbot
  • II.) Das allgemeine Rückwirkungsverbot
  • 1.) Abgrenzung zwischen echter und unechter Rückwirkung
  • 2.) Übertragbarkeit auf § 76a Abs. 4 StGB?
  • 3.) Zulässigkeit der echten Rückwirkung
  • a) Einschlägige Fallgruppe
  • aa) Überragende Belange des Gemeinwohls
  • (1) Entlastung der Rechtsprechung
  • (2) Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung und Rechtstreue der Bevölkerung
  • (3) Abschöpfung des Tatertrages
  • (4) Bedeutung der Gemeinwohlbelange
  • bb) Fehlende Vertrauensschutzwürdigkeit
  • (1) Die strafrechtliche Bewertung durch den Gesetzgeber
  • (a) Übertragbarkeit auf die selbstständige erweiterte Einziehung
  • (b) Stichhaltigkeit der Argumentation
  • (2) Der Vergleich mit zivilrechtlichen Vorschriften
  • (3) Zirkelschluss des Bundesverfassungsgerichts
  • cc) Abwägung
  • (1) Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts
  • (2) Gegenüberstellung der widerstreitenden Interessen
  • b) Zwischenergebnis
  • 4.) Zulässigkeit der unechten Rückwirkung
  • a) Fehlende Geeignetheit oder Erforderlichkeit
  • b) Abwägung
  • III.) Ergebnis
  • F) Zusammenfassung und Ausblick
  • I.) Zusammenfassung der Ergebnisse
  • II.) Ausblick
  • Literaturverzeichnis

A) Einleitung

Zum 01.07.2017 ist in Deutschland die selbstständige Einziehung nach § 76a Abs. 4 StGB durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung eingeführt worden.1 Dabei handelt es sich um ein völlig neues Abschöpfungsinstrument, das es in dieser Form bisher in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben hat.2 Bereits das Gesetzgebungsverfahren wurde von zahlreichen kritischen Stellungnahmen begleitet.3 Auch nach Einführung dieser Norm riss die Kritik, auf die im Laufe der Arbeit genauer eingegangen wird, nicht ab.

Aufsehen außerhalb des Fachpublikums erregte dieses Instrument erstmals durch eine groß angelegte Maßnahme der Berliner Strafverfolgungsorgane gegen die in der Bundeshauptstadt grassierende Clankriminalität. Zunächst wurden im Juli 2018 – ein Jahr nach Inkrafttreten des § 76a Abs. 4 StGB – 77 Immobilien des sogenannten Remmo-Clans von der Staatsanwaltschaft und dem Landeskriminalamt Berlin beschlagnahmt.4 Es bestand der Verdacht, die Beschlagnahmeobjekte seien mit Geld aus Straftaten erworben worden.5 Dazu gehörte unter anderem der Einbruch in eine Mariendorfer Sparkasse im Oktober 2014, wobei die drei Täter mehr als 9 Millionen Euro erbeuteten.6 Nach der Sicherstellung der Immobilien wurden in einem späteren Schritt auch die daraus generierten Mieteinnahmen beschlagnahmt.7 Durch Beschluss des Landgerichts Berlin vom 07.04.2020 wurden zwei der Immobilien eingezogen.8 Die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde vor dem Kammergericht war erfolglos.9 Deshalb hat sich das von der Einziehung betroffene Clanmitglied an das Bundesverfassungsgericht gewandt. Die anhängige Verfassungsbeschwerde wird dort unter dem Aktenzeichen 2 BvR 533/21 geführt.10

Seit dem Vorgehen der Berliner Strafverfolgungsbehörden hat § 76a Abs. 4 StGB bereits eine Novellierung durch das Gesetz zur Verbesserung der strafrechtlichen Bekämpfung der Geldwäsche erfahren, die seit dem 18.03.2021 in Kraft ist.11 Die aktuelle Fassung der Norm lautet:

(4) 1Ein wegen des Verdachts einer in Satz 3 genannten Straftat sichergestellter Gegenstand sowie daraus gezogene Nutzungen sollen auch dann selbständig eingezogen werden, wenn der Gegenstand aus einer rechtswidrigen Tat herrührt und der von der Sicherstellung Betroffene nicht wegen der ihr zugrundeliegenden Straftat verfolgt oder verurteilt werden kann. 2Wird die Einziehung eines Gegenstandes angeordnet, so geht das Eigentum an der Sache oder das Recht mit der Rechtskraft der Entscheidung auf den Staat über; § 75 Absatz 3 gilt entsprechend. 3Straftaten im Sinne des Satzes 1 sind

1. aus diesem Gesetz:

a) Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat nach § 89a und Terrorismusfinanzierung nach § 89c Absatz 1 bis 4,

b) Bildung krimineller Vereinigungen nach § 129 Absatz 1 und Bildung terroristischer Vereinigungen nach § 129a Absatz 1, 2, 4, 5, jeweils auch in Verbindung mit § 129b Absatz 1,

c) Zuhälterei nach § 181a Absatz 1, auch in Verbindung mit Absatz 3,

d) Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Inhalte in den Fällen des § 184b Absatz 2,

e) gewerbs- und bandenmäßige Begehung des Menschenhandels, der Zwangsprostitution und der Zwangsarbeit nach den §§ 232 bis 232b sowie bandenmäßige Ausbeutung der Arbeitskraft und Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung nach den §§ 233 und 233a,

f) Geldwäsche nach § 261 Absatz 1 und 2,

2. aus der Abgabenordnung:

a) Steuerhinterziehung unter den in § 370 Absatz 3 Nummer 5 genannten Voraussetzungen,

b) gewerbsmäßiger, gewaltsamer und bandenmäßiger Schmuggel nach § 373,

c) Steuerhehlerei im Fall des § 374 Absatz 2,

3. aus dem Asylgesetz:

a) Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragstellung nach § 84 Absatz 3,

b) gewerbs- und bandenmäßige Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragstellung nach § 84a,

4. aus dem Aufenthaltsgesetz:

a) Einschleusen von Ausländern nach § 96 Absatz 2,

b) Einschleusen mit Todesfolge sowie gewerbs- und bandenmäßiges Einschleusen nach § 97,

5. aus dem Außenwirtschaftsgesetz:

vorsätzliche Straftaten nach den §§ 17 und 18,

6. aus dem Betäubungsmittelgesetz:

a) Straftaten nach einer in § 29 Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 in Bezug genommenen Vorschrift unter den dort genannten Voraussetzungen,

b) Straftaten nach den §§ 29a, 30 Absatz 1 Nummer 1, 2 und 4 sowie den §§ 30a und 30b,

7. aus dem Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen:

a) Straftaten nach § 19 Absatz 1 bis 3 und § 20 Absatz 1 und 2 sowie § 20a Absatz 1 bis 3, jeweils auch in Verbindung mit § 21,

b) Straftaten nach § 22a Absatz 1 bis 3,

8. aus dem Waffengesetz:

a) Straftaten nach § 51 Absatz 1 bis 3,

b) Straftaten nach § 52 Absatz 1 Nummer 1 und 2 Buchstabe c und d sowie Absatz 5 und 6.

Die Neufassung diente insbesondere der Klarstellung, dass nicht nur der sichergestellte Gegenstand, sondern auch die daraus gezogenen Nutzungen der Einziehung unterliegen können.12 Zudem sollte dadurch die zur Gesetzeslage von 2017 ergangene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs überholt werden, wonach ein Katalogtatverdacht spätestens im Zeitpunkt der Sicherstellung bestehen musste.13 Seit der Novellierung von 2021 ist es deshalb ausreichend, wenn der Verdacht wegen einer Tat des § 76a Abs. 4 S. 3 StGB erst durch Umstände und Ermittlungen aufkommt, die der Sicherstellung zeitlich nachfolgen.14

Prozessual flankiert wird das neue Abschöpfungsinstrument durch den ebenfalls 2017 eingeführten § 437 StPO:

1Bei der Entscheidung über die selbständige Einziehung nach § 76a Absatz 4 des Strafgesetzbuches kann das Gericht seine Überzeugung davon, dass der Gegenstand aus einer rechtswidrigen Tat herrührt, insbesondere auf ein grobes Missverhältnis zwischen dem Wert des Gegenstandes und den rechtmäßigen Einkünften des Betroffenen stützen. 2Darüber hinaus kann es bei seiner Entscheidung insbesondere auch berücksichtigen

1. das Ergebnis der Ermittlungen zu der Tat, die Anlass für das Verfahren war,

Details

Seiten
194
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631910580
ISBN (ePUB)
9783631910597
ISBN (Hardcover)
9783631910559
DOI
10.3726/b21316
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (November)
Schlagworte
Selbstständige Einziehung Vermögensabschöpfung Strafähnlichkeit Schuldgrundsatz Unschuldsvermutung in dubio pro reo Selbstbelastungsfreiheit Rückwirkungsverbot
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 194 S.

Biographische Angaben

Marcel Bienhüls (Autor:in)

Der Autor studierte von 2010 bis 2015 Rechtswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und absolvierte im Anschluss sein Referendariat beim Oberlandesgericht Hamm. Danach begann er mit seinem Promotionsvorhaben. Seit Juli 2019 ist er zugelassener Rechtsanwalt und arbeitete seitdem berufsbegleitend an seiner Dissertation.

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