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Das Historische als Argument

Geschichtsbezüge in Bildungsdebatten

von Katharina Gather (Band-Herausgeber:in) Ulrich Schwerdt (Band-Herausgeber:in) Norbert Grube (Band-Herausgeber:in)
©2024 Sammelband 220 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

In Bildungsdebatten spielen historische Argumente eine wichtige Rolle. Die Beiträge des Bandes fokussieren explizite und implizite argumentative Bezugnahmen auf „das Historische“ in unterschiedlichen thematischen, räumlichen und zeitlichen Bildungsreformkontexten. Ihr Spektrum reicht vom deutschen Humanismus um 1500 über Debatten zur Schulreform des 19. und 20. Jahrhunderts und bildungspolitische Ambitionen in Sozialen Bewegungen bis zu aktuellen erinnerungs- und geschichtspolitischen Diskursen. Aus verschiedenen methodologischen Perspektiven wird beleuchtet, wie und als was „das Historische“ im argumentativen Geflecht erscheint.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort der Reihenherausgeber*innen
  • Inhalt
  • Einführende Gedanken 
zum „Historischen als Argument“
  • Bildungsreformdebatten 
und fachliche Diskurse
  • Bildung, Geschichte und Nation. Zur Herausbildung historischer Begründung nationaler Bildungsreform im deutschen Humanismus
  • Historische Legitimationsstrategien der mehrsprachigen Bildungsplanung des Luxemburger Schulwesens seit dem 19. Jahrhundert
  • Wie konturiert sich das Historische als Argument? Geschichtsbezüge in westdeutschen Bildungsreformdebatten der 1960er und 70er Jahre
  • Zwischen Geisteswissenschaft und Kritischer Theorie. Der Geschichtsbegriff und seine argumentative Funktion bei Herwig Blankertz
  • Bildungspolitische Ambitionen 
in sozialen Bewegungen
  • Historisierende Indienbezüge in Jugendkulturen des 20. Jahrhunderts
  • Erinnerungen an die pädagogische Zukunft? Bezugnahmen auf Vergangenes in Debatten um Schule und Kindergarten in der Zürcher Lehrer*innenbildung der 1960er und 70er Jahre
  • Erinnerungs- und geschichtspolitische Diskurse
  • „Aufarbeitung der Vergangenheit“: 
Adornos Postulat als ein unvollendetes Projekt
  • Verschickungskinder im Spannungsfeld von Citizen-Science, Reconciliation Policies und Nutzer*innen-Forschung – Einblicke in eine geschichtspolitische Arena
  • Autor*innenverzeichnis

Katharina Gather, Nobert Grube und Ulrich Schwerdt

Einführende Gedanken zum „Historischen als Argument“

„Nichts ist so unvorhersehbar wie die Vergangenheit.“1

Mit diesem „Witz aus Sowjetzeiten“2 verweist der Osteuropahistoriker Karl Schlögel unter Bezugnahme auf geschichtspolitische Wissenskämpfe3 im kommunistischen Russland auf die Unabgeschlossenheit und permanente Aktualisierbarkeit der Vergangenheit4, nicht zuletzt auf deren politische Indienstnahme. Die Instrumentalisierung der Geschichte zum Zwecke der Legitimierung von Macht- und Herrschaftsansprüchen reicht weit in die Antike und das Mittelalter zurück.5 Zu einem nicht (nur) martialisch, sondern vor allem debattenreich und öffentlich gedachten „Kampfplatz der Vergangenheitsinterpretationen und Zukunftserwartungen“6 wurde ‚die Geschichte‘ allerdings erst im 18. Jahrhundert, als sie durch das von der Aufklärungsphilosophie beförderte Verständnis von der zeit- und raumbedingten Perspektivität historischer Deutungen ein neues erkenntnistheoretisches Fundament erhielt.

Mit dem Entstehen der modernen historischen Wissenschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das Bewusstsein für die Standortgebundenheit geschichtlichen Verstehens geschärft. Der „naive Realismus“ vormoderner Vorstellungen von einem vermeintlich „authentischen Augenzeuge[n]“, der durch sein Erlebnis und „seine Präsenz die Wahrheit einer Geschichte verbürgt“, wurde verabschiedet7, betont Reinhart Koselleck, und quellenkritisches Vorgehen wurde zur professionellen Selbstverständlichkeit. Jenseits disziplinärer Findungsprozesse zeigte sich jedoch, dass „die Geschichtswissenschaft […] kein Monopol auf Geschichte und Erinnerung“8 besaß. Arenen, Akteur*innen und Diskurse außerhalb der Disziplin konnten und können das historische Argumentieren ebenso prägen. Der Historiker Markus Furrer hat in seinen Arbeiten mit Blick auf die Schweiz zeigen können, wie sehr „sich Geschichtsbilder und Mythen“ auch in nicht-autoritären Gesellschaften insbesondere vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Krisen „als Deutungsangebote laufend rezyklieren lassen“ – gerade durch geschichtspolitische Funktionalisierung und geschichtskulturelle Folklorisierung und „trotz Aufblühens einer kritischen Geschichtswissenschaft“.9 Aufgrund einer „ausgefeilten und differenzierten Geschichtskultur“ in „(post-)industrialisierten Gesellschaften“ erkennt Achim Landwehr eine starke Relevanz des Historischen im „Alltag auf allen Ebenen“.10

Eine Annäherung an Muster historischen Argumentierens soll daher diesen ersten Befunden zufolge zunächst außerhalb der disziplinär gebundenen Geschichts- oder auch Erziehungswissenschaft über Verweise auf einige bekannte literarische Beispiele erfolgen.11

1. Facetten historischer Narrative in literarischen Texten

Literarische Texte können als künstlerisch-fiktive Verdichtungen dominanter sozio-kultureller Diskurse angesehen werden12 und sichtbar machen, „daß historisches Denken auch in nichthistoriographische Werke eindrang und erst dadurch seine umfassende Bedeutung bewies“.13 Betrachtet man Literatur im kulturpoetischen Sinne als vielschichtig-reziproke „Verflechtung“14 zwischen Text und historischem Kontext, so lassen sich literarische Texte als Quellen heranziehen, in denen diskursive Muster aufgenommen werden, die sich beispielsweise inhaltlich in geschichtsbezogenen Argumentationen der literarischen Figuren spiegeln können, aber auch in der Komposition der erzählten zeitlichen Verläufe.

Für das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert hat sich zumindest die deutschsprachige Literatur geradezu als Tummelplatz für historisches Argumentieren oder besser: als Verstärkerin vorherrschender historisch grundierter Narrative erwiesen. So wurde nach der maßgeblichen Studie von Caroline Pross die ‚Meistererzählung‘ der gesellschaftlichen Degeneration bzw. Dekadenz durch gesellschaftlich einflussreiche Schriftsteller wie Thomas Mann, etwa in seinen Romanen „Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie“ (1901) und „Der Zauberberg“ (1924), aufgegriffen.15 Dasselbe trifft auch für zentrale Werke Gerhart Hauptmanns zu. In Hauptmanns naturalistischen Dramen „Vor Sonnenaufgang“ (1889) und „Das Friedensfest“ (1889) konturiert sich das Historische ebenfalls als Verfall: Festgefügte familiäre und tradierte soziale Strukturen entfalten trotz besseren Wissens, trotz Lösungs- und Versöhnungsbemühungen ihre Zerstörungskraft.

Der Expressionismus von 1910 bis 1920 knüpfte an das historische Verfalls- und Zerstörungsmuster an, doch änderte sich der Blick auf das Historische. Skeptisch, Einzelne wie Gottfried Benn gar zynisch gegenüber der liberalen Fortschrittsgeschichte als historische Sinnstiftung16 betonen Vertreter*innen der ästhetischen Moderne das Fragmentarische, das Leiden und die Entfremdung des bzw. der Einzelnen im Hinblick auf Zivilisation und Massengesellschaft. Mit ihren Utopien von einem ‚neuen Menschen‘ schauen sie, mitunter vitalistisch begeistert und mythisch argumentierend, sehnsuchtsvoll zurück auf das Metaphysische, vermeintlich unverdorben Naturhafte und auf eine idealisierte ‚reine Kindheit‘. Derlei Perspektiven expressionistischer Literatur sind diskursiv vielfältig verflochten mit der Lebensreformbewegung und reformpädagogischen Tendenzen.17 Aus literarisch-fiktionalisierter Gegenwartskritik werden zugleich vermeintliche Gewissheiten gegenüber Vergangenheit und Zukunft abgeleitet. Gerade mit Blick auf die literarischen Figuren kann man verschiedentlich den Eindruck gewinnen, dass die von der Geschichtsschreibung zusehends hinterfragte historische Augenzeug*innenschaft literarisch reaktiviert wird.18

Ein eindrucksvolles literarisches Beispiel über Gewissheiten, Zweifel und Erosion von Überzeugungen hinsichtlich historischer Abläufe liefert Arthur Koestlers Roman „Sonnenfinsternis“ von 1940, in dem der altgediente kommunistische Revolutionär Rubaschow zunächst als begeisterter Repräsentant eines marxistisch-leninistischen Geschichtsverständnisses auftritt. Geschichte, metaphorisiert als anonyme, rücksichtslos und eindeutig verlaufende Kraft, Ur-Material bzw. Bergwerk, werde demnach nicht leidend erduldet, sondern durch die Partei in ihrem Verlauf wissenschaftlich exakt erfasst und zugleich schöpferisch bearbeitet: „Wir waren aber in ihre Tiefen hinabgestiegen, in die formlose, anonyme Masse, die zu allen Zeiten die Substanz der Geschichte darstellt; und wir hatten als erste ihre Bewegungsgesetze erforscht. […] Wir wühlten uns in den Urschlamm der Geschichte hinein, und dort fanden wir das Gesetz ihrer Struktur.“19 Die eugenisch grundierte Selbstgewissheit, dass Geschichte Widerständiges und Schwaches, also „Schutt und Schlamm und die Leichen der Ertrunkenen“, ausscheide20, kommt Rubaschow abhanden, als er im Zuge stalinistischer Parteisäuberungen 1937 inhaftiert und von einem jüngeren Repräsentanten der technokratischen Funktionärselite verhört wird. Durch seine politisch-ideologische Standortänderung bezeugt er nun mit seinem historischen Perspektivwechsel die Brutalität und Totalität des stalinistischen Regimes: „Ich habe Menschen zerstört, die mir nahestanden, und anderen Macht verliehen, die ich nicht mochte.“21 Nunmehr gerinnt die vermeintlich gesetzmäßig vorantreibende Geschichte zu schmerzhaften Erinnerungen an eigene Verfehlungen in der Vergangenheit, die metaphorisch als schmerzhaft eitriger Zahn inkorporiert ist: „Seine Vergangenheit war wund, sie eiterte bei jeder Berührung.“22 Unbewältigte Vergangenheit und Erinnerung mutieren zur Richterin23, der Rubaschow seine Schuld bekennt und der er sich unterwirft.

Die Abkehr von großen Geschichtserzählungen wie vom desillusionierten, zuweilen auch heroischen Gestus ihrer Dementis prägte nach 1945 weite Teile der westdeutschen Literatur. Dies zeigt sich beispielsweise in Werken aus der Danziger Trilogie. Als historischen Augenzeugen und unangepasstes Individuum beschreibt Günter Grass in der „Blechtrommel“ (1959) die Hauptfigur Oskar Matzerath, der es gelingt, sich innerhalb welthistorisch bedeutsamer Ereignisse als scheinbar ‚ewiges Kind‘ Fluchträume der Verweigerung und des Individuellen zu erobern, das die eigene Deutung der Geschichte durch die notorische Unzuverlässigkeit seiner Erzählungen aber zugleich unterläuft. In der Novelle „Im Krebsgang“ (2002) wird die Rekonstruktion der NS-Vergangenheit der Figuren Paul Pokriefke, seiner Mutter Tulla und seines Sohnes Konrad zum Versuch der Vergangenheitsbewältigung. Tulla Pokriefke gebiert ihren Sohn Paul, nachdem sie, 1945 aus Ostpreußen fliehend, die Torpedierung des Passagierschiffes ‚Wilhelm Gustloff‘ durch ein sowjetisches U-Boot überlebt hatte. Gleichsam vorwärts und rückwärts gehend, im Krebsgang eben, erzählt die Novelle aus der Sicht von drei Generationen den Untergang der ‚Wilhelm Gustloff‘. Die Auseinandersetzung der Familie Pokriefke mit der eigenen Vergangenheit im Nationalsozialismus ist gefühlsbezogen, sie mündet in keine linear erzählte Kontinuität, sondern wird immer wieder durchbrochen und generationenbezogen aktualisiert. In der Novelle verzahnt sich das unmittelbare Erleben eines Ereignisses aus spezifischer Perspektive in der innerfamiliären transgenerationellen Kommunikation mit geschichtskulturellen Erfahrungen in der Gegenwart – und so bleibt das historische Erlebnis präsent, es zieht immer neue Spuren in historischen Auseinandersetzungen. So endet die Novelle: „Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“24

Optimistischer erscheinen hingegen die Deutungen historischer Zäsuren und Übergänge, die jüngst Lutz Seiler in seinen autobiographischen Romanen „Kruso“ (2015) und „Stern 111“ (2020) anhand des Zusammenfalls der DDR thematisiert hat. Auch hier agieren die literarischen Hauptfiguren, die sich den zeitgenössischen Erwartungszumutungen zu entziehen versuchen, um sich als nicht-konforme, gleichwohl sozial agierende Subjekte individuelle Handlungsmöglichkeiten inmitten lebens- und weltgeschichtlichen Wandels zu eröffnen, lediglich als vermeintliche historische Erlebniszeug*innen, da sie der geschichtliche Wandel selbst unerwartet und überraschend überfällt. In Seilers Romanen ist Erinnerung mit warmherziger Melancholie und Abschied von Vergangenheit, zugleich auch mit Aufbruch verbunden – als ob mit dieser Kombination die Selbstvergewisserung vergangener und künftiger Zeiten gelingen kann. Die zahlreichen kathartischen Bilder deuten jedoch an, dass jedweder geschichtliche Wandel von den Hauptpersonen Veränderungen abfordert, ihn dadurch allerdings auch ermöglicht.25

2. Historisches Argumentieren: Geschichts- und politikwissenschaftliche Perspektiven

Auf Ebene des wissenschaftlichen Diskurses, besonders innerhalb der Geschichts- und der Politikwissenschaft, sind verschiedene Varianten historischen Argumentierens beschrieben und analysiert worden. Zugleich wurde von der historischen Zunft immer wieder reflektiert, wie insbesondere die eigene Disziplin in öffentliche Debatten und damit in historische Argumentationsweisen verwoben war.

In begriffsgeschichtlicher Perspektive waren hier vor allem Reinhart Kosellecks Studien zur „Semantik geschichtlicher Zeiten“26 grundlegend, in denen er den durch aufklärerische Reflexion angestoßenen Wandel des Geschichtsverständnisses herausarbeitet. Geschichte im neuzeitlichen Verständnis – als Kollektivbegriff eine Prägung des 18. Jahrhunderts27 – hatte nicht mehr die traditionelle Funktion einer Lehrmeisterin („Historia Magistra Vitae“); sie vollzog sich nicht mehr als göttlicher Plan oder „als Wiederkehr des immer Gleichen“, sondern als „offener Prozess“.28 Nicht zuletzt die politischen Umwälzungen nach 1789 führten dazu, dass die Einsicht an Plausibilität gewann, Geschichte werde von Menschen gemacht, sei also gestaltbar und veränderbar. Die Offenheit für konkurrierende Deutungen ging daher in zwei Richtungen: Sie verwies in die Zukunft: – „denn Geschichte, verstanden als ein prinzipiell unabgeschlossener, sich beschleunigender Prozeß, weist stets über sich hinaus“ –; und in die Vergangenheit – „denn die Vorstellung von der Geschichte als machbarer, also nicht determinierter Prozeß führte zu der Einsicht, daß auch die Vergangenheit nicht eindeutig festgelegt ist. Wie Geschichte verstanden werde, hänge vom Standpunkt des Betrachters ab.“29

Lothar Gall hat während des Historikertages 1996, der dem Thema „Geschichte als Argument“ gewidmet war, darauf hingewiesen, dass der Begriff ‚Geschichte‘ in der deutschen Geschichtswissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts „im Zentralen, im sie letztlich Begründenden und Rechtfertigenden zunächst faktisch identisch mit Geschichtsphilosophie“ gewesen ist. Nur scheinbar paradox konnten, so Gall, in der Substanz ganz unterschiedliche Geschichtsphilosophien hinter dem Begriff ‚Geschichte‘ stehen: „Ob man mit Hegel von der Geschichte als ‚Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit‘ sprach, ob man im Gegensatz dazu jeder Epoche mit Ranke ihren eigenen ‚Sinn‘, ein Verhältnis ‚unmittelbar zu Gott‘ zuerkannte, ob man das Ziel der Geschichte in einer dann unüberholbaren Moderne erblickte oder mit Marx in der klassenlosen und letztlich auch staats- und herrschaftslosen Gesellschaft – stets stand dabei ‚Geschichte‘ für einen sinnerfüllten Prozeß, den herauszuarbeiten und erkennbar zu machen das wesentliche, das zentrale, sie legitimierende Ziel der Geschichtswissenschaft sei. Das war das eigentliche, in dieser Form spezifisch neuzeitliche, in der Aufklärung entwickelte ‚Argument der Geschichte‘.“30

Geradezu als Gegenmodell zur traditionellen deutschen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts kann die seit den 1970er Jahren vor allem in Frankreich entwickelte sogenannte „nouvelle histoire“ verstanden werden.31 Mit ihrem Ansatz einer „interessierte[n] Historiographie“32, in der ‚historische Wirklichkeit‘ sich nicht mehr entlang einzelner, vermeintlich fest gefügter (vorrangig politischer) Ereignisse aufspanne, sondern Historiker*innen ihren Untersuchungsgegenstand auf Ebene seiner Konturierung begründen, war Geschichtswissenschaft geradezu geöffnet für historisches Argumentieren, zumal sie in ihren Ausgangspunkten von der Gegenwart geprägt und somit auch auf die Gegenwart ausgerichtet war.33 Die Ersetzung des Begriffs der Geschichte schlug jüngst Achim Landwehr vor, weil er als Kollektivsingular Orientierung, Identität und „homogene Linearität“ andeute, die es aufgrund historischer „Vielzeitigkeit“ nicht geben könne.34 Er plädiert stattdessen für den Begriff „Chronoferenzen“, um „die wesentlich vielfältigeren und allenthalben auffindbaren Möglichkeiten und Praktiken zu behandeln, anwesende und abwesende Zeiten zu koppeln.“35 Auch die von Reinhart Koselleck geprägte Formel „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ sieht Landwehr kritisch, da sie weniger zeitliche Verflechtungen bezeichne, sondern eine temporale, zugleich gegenwartsfixierte chrono- und eurozentrierte Norm dessen setze, was als gleichzeitig gelten solle. Dagegen gerinne das Ungleichzeitige zum ‚Anderen‘, zur auch temporalen (Norm-)Abweichung, die häufig mit Rückständigkeit und vermeintlich vormodernen Bevölkerungsgruppen und Kontinenten parallelisiert werde.36

Als frühester Versuch einer Typologie historischen Argumentierens auf dem Feld der Politik gilt der Ansatz Karl-Georg Fabers aus dem Jahr 1975.37 Faber identifiziert zwei Modi der Argumentation, bei denen jeweils noch einmal drei Varianten zu unterscheiden sind:

Erstens: Der Rückgriff auf historische Einzelbeispiele

- als positive oder negative Exempla mit instrumentell normativer Intention,

- als Ableitung konkreter Rechtsansprüche oder moralischer Verpflichtungen aus historischen Sachverhalten,

- als Verwendung wertbesetzter Ereignisse im Sinne von Zeichen oder Symbolen für den von ihnen einlösbaren Wert oder ‚Unwert‘.38

Zweitens: Die Einführung von übergreifenden historischen Sinn- und Wirkungszusammenhängen

- als Erzählung (Sinn- oder Handlungszusammenhang),

- als Schilderung historischer Bedingungen (Wirkungszusammenhang bzw. Struktur),

- als Reihung von verschiedenen Ereignissen zur Kennzeichnung eines bestimmten historischen Trends.39

In den 1980er und 1990er Jahren wurde eine Reihe weiterer Kategorisierungsversuche zur Analyse geschichtspolitischer Argumentationsmuster entwickelt.40 Eingegangen werden soll an dieser Stelle auf einen jüngeren politwissenschaftlichen Ansatz von Manuel Becker41, der an Fabers Unterscheidung anknüpft. Becker unterscheidet drei Spielarten des historischen Arguments. Erstens: Die historische Überhöhung – als Betonung der ‚historischen Bedeutung‘ eines aktuellen Ereignisses im Sinne seiner Einzigartigkeit, Unvergleichbarkeit oder neue Horizonte eröffnenden Perspektive. Zweitens: Die historische Analogisierung – als Verweis auf vergleichbare historische Konstellationen, das Wiederholenswerte bzw. gerade nicht zu Wiederholende. Drittens: Das Argumentieren mit Autoritäten – als Heranziehung von Historiker*innen als Kronzeug*innen der eigenen Argumentation.

Die von Faber und Becker aus der – im engeren Sinne – politischen Debatte abgeleiteten legitimatorischen Muster historisch angelegter Argumentation treten in den verschiedenen Beiträgen dieses Bandes immer wieder auf. Dennoch ist seine zentrale Perspektive eine etwas andere.

3. Zur inhaltlichen Fokussierung der Publikation – das Historische als Argument in Bildungsdebatten

Mit diesem Band werden Aspekte einer vor sechs Jahren von Gerhard Kluchert markierten bildungshistorischen Leerstelle aufgegriffen, ohne sie bereits mit Befunden ausfüllen zu können. Kluchert monierte, es fehle an einer Studie zur „Geschichte als Argument in der bildungspolitischen Debatte“42, die etwa an Bernd Zymeks Untersuchung zum „Ausland als Argument in der pädagogischen Reformdiskussion“ anknüpfen könne.43 Kluchert ging in seinen Überlegungen zum Verhältnis von Bildungsgeschichte und -reform von einer zunehmenden „Marginalisierung historischen Denkens“44 im 20. Jahrhundert aus, da Bildungsreformkontexte nunmehr von sozialempirischen Wissenschaften, Evaluationen, internationalen Bildungsvergleichen und sozialem Erwartungsdruck geprägt seien. Gleichwohl oder besser: Gerade deshalb forderte er zu Untersuchungen auf, „ob und in welcher Weise in den Reformbegründungen und -debatten Geschichtsbilder und historische Argumente im Allgemeinen auftreten und welche Bedeutung ihnen zukommt“.45 Steht bei Klucherts Fragestellung das Historische vor allem in seiner funktionalen Bedeutung für Reformlegitimationen im Zentrum, wird in diesem Band der Blick eher auf die Wechselbeziehungen und Verflechtungen von Historischem und Bildungsdebatten gerichtet. Grundlegend für die vorliegende Veröffentlichung ist die Frage, wie und in welchen pädagogischen Zusammenhängen auf geschichtliche Dimensionen und Ereignisse, auf Vergangenheiten, ein vages ‚Früher‘ und auf geschichtskulturelle Narrative rekurriert wird und wie das Historische in Kontexten von Bildung und Erziehung überhaupt als solches in den jeweiligen Debatten emergiert. Das Historische als eher unbestimmtes „substantivierte[s] Adjektiv“ deutet begrifflich keinen geschlossenen zeitlichen Gesamtzusammenhang an, sondern eher zeitliche, geschichtliche Vielfalt und Offenheit.46 An einigen Beispielen der pädagogischen Ideen- und Diskursgeschichte soll dieser Zugriff exemplarisch erläutert werden.

In verschiedenen Ausprägungen wird erkennbar, dass die argumentative Schlagkraft von Geschichte in pädagogischen Kontexten an die Voraussetzung gebunden war, dass Erziehung und Bildung selbst als temporale Prozesse konturiert wurden – und zwar als Verbesserung des Individuums und Vervollkommnung der Menschheit.47 Pädagogische Konzepte können durch ihre Funktion im geschichtlichen Verlauf plausibilisiert werden. Dieses Muster ist in verschieden Kontexten aufspürbar. So wird in oppositionellen politischen Konzeptionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Reflexion über Erziehung und Bildung auf eine gesellschaftlich-politisch erhoffte Zukunft bezogen. In den utopischen Gesellschafts- und Bildungsentwürfen etwa Robert Owens oder auch Étienne Cabets48 geht es um die Aspiration einer besseren Welt, um alternative Zukunftsbilder, die „verzeitlicht“49 mit einem Transformationswillen verbunden sind. So entwirft Robert Owen als Gegenbild zu einer durch Industrialisierung und Pauperismus geprägten britischen Gesellschaft eine harmonische Zukunft, in der alle Missstände aufgehoben sind, da „alles von einer ewig währenden Liebe geleitet [wird], deren strahlende Helle allen beweist, daß der aufrichtige Wunsch besteht, das Glück der Menschen zu vermehren und nicht zu schmälern“.50 Den Transformationsprozess zu einer sittlichen, glücklichen Gesellschaft bindet Owen an die Erziehbarkeit ihrer Träger. Erziehung beschreibt Owen daher als „Reform mit friedlichen Mitteln“.51 Auch der Junghegelianer Arnold Ruge schreibt wenig später in Umkehr der Hegel’schen Geschichtsphilosophie im Blick auf die politische Situation im Deutschen Bund Bildung eine geschichtliche Funktion zu. Sie stehe als „Weltkind“52 am „Webstuhl der Zeit“53, könne geschichtlichen Verlauf hin zu einer anvisierten Republik, die dem menschlichen Wesen entspreche, vorantreiben.54 Weitere Beispiele temporaler Verflechtungen pädagogischer Konzepte ließen sich in reformpädagogischen Konzeptionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden.55 Historische Verweise auf eine vage formulierte Ursprünglichkeit waren mit Abgrenzungen gegenüber ‚alten Erziehungsmethoden‘ der sogenannten Drillschule und Aspirationen fundamentaler Veränderung von Subjekt und Gesellschaft durch Bildung und Erziehung verbunden. Exemplarisch sei auf die schwedische Reformpädagogin Ellen Key verwiesen. Key widmet die programmatische Schrift „Das Jahrhundert des Kindes“ „allen Eltern, die hoffen, im neuen Jahrhundert den neuen Menschen zu bilden“.56 Ausgehend von der Kritik an den „Seelenmorde(n) in den Schulen“57 entwickelt sie eine kindzentrierte Pädagogik. Verbunden mit eugenischen Motiven58 erwartet sie von dieser eine gesellschaftliche Erneuerung, denn „wer hingegen weiß, daß der Mensch unter unablässigen Umgestaltungen das geworden, was er nun ist, sieht auch die Möglichkeit ein, seine zukünftige Entwicklung in solcher Weise zu beeinflussen, daß sie einen höheren Typus Mensch hervorbringt“.59

In den gestreiften pädagogischen Beispielen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert erscheint Geschichte als teleologischer Verlauf und profane säkulare Erfahrungsdimension. Sie wird nicht durch eine transzendente Größe auf ein verheißendes Ziel hin gelenkt, sondern durch das geschichtsmächtige, pädagogisch dazu in die Lage versetzte Subjekt auf ein Ziel hin gestaltbar, ohne darin Bahnen der geschichtlichen Kohärenz – etwa durch die Antizipation ihres Scheiterns oder ihrer Krise – zu hinterfragen.60 In diesem teleologischen Muster liegt dann ein spezifisches argumentatives Gewicht, wenn die in geschichtliche Verläufe verwobenen pädagogischen Konzeptionen mit einem Ausschließlichkeitsanspruch verbunden werden, indem sie auf Vollendungsdimensionen hin bezogen werden.

Erziehung, Bildung und Geschichte sind in diesen Beispielen funktional verflochten.

Eine solche Nähe von Erziehung und Geschichte zeigt aus systemtheoretischer Perspektive auch Wolfgang Meseth hinsichtlich der Rolle der Erziehung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur nach 1945 auf. Als „semantische Felder“61 gesellschaftlicher Selbstbeschreibung fungieren Geschichte und Erziehung als Mechanismen der Bewältigung von Kontingenz und fehlender Eindeutigkeit. Meseth arbeitet Erziehung als temporale Erfahrungsdimension heraus, denn „mit Erziehung vergewissert sich die jeweilige nationale Gemeinschaft der Erreichbarkeit ihrer Mitglieder, mithin also der Grundlage zur Durchsetzung ihrer Integration. Auch mit Erziehung läßt sich die Zukunft […] aus der Perspektive einer gewissen Vergangenheit denken, wenn Wissen und Werte durch Erziehung konserviert werden sollen“, oder aber wenn durch Wandel des Vergangenen Besserung in der Zukunft anvisiert werde.62 Erziehung liefere „symbolische Sicherheit, daß die für gut befundenen Traditionen auch in der Zukunft gegenwärtig sein werden“63, durch Erziehung werde Zukunft über das Individuum ‚steuerbar‘. Der Bezug auf Vergangenes in der Herstellung dessen, was pädagogisch zu bewahren oder zu reformieren sei, liefere darin einen orientierenden Maßstab und Fundus, der hinsichtlich der Offenheit von Zukunft Sicherheit und Kontinuität suggeriere und über das Disparate hinweg Einheitlichkeit des Geschichtsverlaufs herstelle. Vor dem Hintergrund der NS-Vergangenheit mutet diese sich im westdeutschen Erinnerungsdiskurs zeigende lineare Geschichtsauffassung jedoch paradox an, wird die Erfahrung von Genozid und Krieg doch gerade als radikaler Bruch, Scheitern und Krise teleologischer Geschichtsvorstellungen wahrgenommen.64

In argumentativen Kontexten von Bildungsdebatten ist eine funktionale Nähe von Pädagogik und Geschichte in verschiedener Ausprägung besonders spürbar. Darauf verweist auch Paschen in einer systematischen Rekonstruktion und Analyse pädagogischer Argumente in den 1990er Jahren.65 Paschen erkennt eine spezifische Abfolge im pädagogischen Argumentieren. Ausgangspunkt sei eine kritische Defizitdiagnose in Krisensemantik, deren Ursache pädagogisch und daher auch pädagogisch behandelbar und kompensierbar sei. Geschichte könne darin als Stützung fungieren, als Sammlung von Alternativen und Erfahrungen, die argumentativ herangezogen werden. Der Bezug auf Geschichte basiert dann weniger auf Quellenkritik und -analyse, sondern geht von einem intentionalen, präsentistischen Interesse aus, indem er mit Wirkungsabsichten verflochten wird.

Details

Seiten
220
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631895740
ISBN (ePUB)
9783631895757
ISBN (Hardcover)
9783631895733
DOI
10.3726/b20514
Open Access
CC-BY
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Mai)
Schlagworte
deutscher Humanismus um 1500 Schulreform des 19. und 20. Jahrhunderts Bildungsreform Historisches Argumentieren
Erschienen
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 220 S.

Biographische Angaben

Katharina Gather (Band-Herausgeber:in) Ulrich Schwerdt (Band-Herausgeber:in) Norbert Grube (Band-Herausgeber:in)

Katharina Gather forscht und lehrt am Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Universität zu Köln. Ulrich Schwerdt forscht und lehrt am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Paderborn und an der Hochschule für Musik Detmold. Norbert Grube forscht und lehrt am Zentrum für Schulgeschichte (ZSG) der Pädagogischen Hochschule Zürich.

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