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Frühe deutschsprachige Holocaust- und Lagerliteratur

Produktion und Rezeption unter amerikanischer und britischer Besatzung 1945 bis 1949

von Anika Binsch (Autor:in)
©2025 Dissertation 778 Seiten

Zusammenfassung

Zwischen 1945 und 1949 erschienen im besetzten Deutschland unter prekären Produktionsbedingungen und strengen Kontrollmaßnahmen der Alliierten zahlreiche deutschsprachige Werke der Holocaust- und Lagerliteratur. Diese Werke nehmen eine besondere Stellung ein: Sie eröffnen und konstituieren das Diskursfeld in Deutschland und sind in vielfacher Hinsicht gattungsprägend. Trotzdem geriet die Mehrheit schnell in Vergessenheit. Das Buch lotet die Produktionsbedingungen sowie die Rezeption der Werke in zwei der Besatzungszonen aus und bietet eine erste quantitative Aufarbeitung ihrer Produktionsgeschichte. Zugleich werden die Texte selbst analysiert, um das Spektrum peritextueller und narrativer Darstellungsmuster offenzulegen, auf das Rezipienten in ihren Buchkritiken reagierten.

Inhaltsverzeichnis

  • Deckblatt
  • Titelseite
  • Impressum
  • Widmung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Forschungsstand und eigene Standortbestimmung
  • 1.2 Forschungsfrage und Zielsetzung
  • 1.3 Definition Holocaust- und Lagerliteratur
  • 1.4 Vorgehen, Quellenmaterial, Textkorpus und Aufbau
  • 2 Vom Manuskript zur Publikation: Die Besatzungsjahre als Produktionskontext
  • 2.1 Amerikanische und britische Kulturpolitik, Reeducation und die Bedeutung von Büchern
  • 2.2 Kontrollmaßnahmen und Phasen der Buchherstellung
  • 2.2.1 Lizenzierung
  • 2.2.2 Papierbewilligung
  • Exkurs: Papiernot und Rohstoffknappheit
  • 2.2.3 Post-publication scrutiny
  • 2.3 Frühe Holocaust- und Lagerliteratur von 1945 bis 1949: Eine Annäherung in Zahlen
  • 3 Frühe Werke der Holocaust- und Lagerliteratur von 1945 bis 1949
  • 3.1 Verfasser, Genres und peritextuelle Präsentationsformen
  • 3.1.1 Ausstattung und Umschlag-/Covergestaltungen
  • 3.1.2 Präsentation des Autors
  • 3.1.3 Titelkompositionen
  • 3.1.4 Vorworte und Nachworte
  • 3.1.4.1 Authentizitätsbekundungen
  • 3.1.4.2 Vorwegnahme einer Abwehrhaltung
  • 3.1.4.3 Absichtserklärungen (Motiv & Wirkungsabsicht) und Positionierung zur vermeintlichen „Kollektivschuld“
  • Argumentationsfigur: tendenziell anklagend
  • Argumentationsfigur: tendenziell konfrontierend, aber entgegenkommend
  • Argumentationsfigur: tendenziell entlastend
  • 3.2 „Die Flut der heutigen Literatur über dieses grausige Thema“: Frühe Erinnerungsberichte der unmittelbaren Nachkriegszeit
  • 3.2.1 Erinnerungsberichte: Erzählschema, dominate narrativ-stilistische Darstellungsmittel
  • 3.2.2 Narrativer Blick auf Opfer/Mithäftlinge, Täter und Zuschauer
  • 3.2.2.1 Narrativer Blick auf die Opfer/Mithäftlinge
  • Emil de Martini: „Vier Millionen Tote klagen an …!“
  • Eugen Kogon: „Der SS-Staat“
  • Isa Vermehren: „Reise durch den letzten Akt“
  • 3.2.2.2 Narrativer Blick auf die Täter
  • Emil de Martini: „Vier Millionen Tote klagen an …!“
  • Eugen Kogon: „Der SS-Staat“
  • Isa Vermehren: „Reise durch den letzten Akt“
  • 3.2.2.3 Narrativer Blick auf die Zuschauer
  • Emil de Martini: „Vier Millionen Tote klagen an …!“
  • Eugen Kogon: „Der SS-Staat“
  • Isa Vermehren: „Reise durch den letzten Akt“
  • 3.2.3 Resümee: Deutungsmuster
  • 4 Von der Publikation zum Leser: Die „Flut der KZ-Literatur“ und ihre Rezeption
  • 4.1 Gesellschaftspolitische und kulturell-literarische Themen und Entwicklungen
  • 4.2 Verfügbarkeit von Buchbeständen: Einige Vorüberlegungen zur Rezeptionsvoraussetzung
  • 4.2.1 Vom Verlag an den vertreibenden Buchhandel
  • 4.2.2 Vom vertreibenden Buchhandel an den „richtigen“ Leser
  • 4.2.3 Absatzverhältnisse als Erfolgsindikator?
  • 4.3 Rezeptionshaltungen: Entlastungssehnsucht, taube Ohren und harte Herzen
  • 4.3.1 Von der Flut über die Ebbe zum Tiefstand? Produktionszahlen und Rezeption im Verhältnis
  • 4.3.2 Rezeption früher Holocaust- und Lagerliteratur: Allgemeine Themen, Aspekte und Entwicklungen
  • 4.3.2.1 Der Rezensent als Vermittler?
  • 4.3.2.2 Ist das Literatur?
  • 4.3.2.3 „Literarische Qualität“: Deckmantel der Literaturkritik?
  • 4.3.3 Im Spiegel der Buchkritik: Emil de Martini, Eugen Kogon und Isa Vermehren
  • 4.3.3.1 Bewertung der narrativ-stilistischen Beschaffenheit
  • 4.3.3.2 Die Bedeutung der Gruppendarstellungen
  • 4.3.3.3 Warum gelesen werden sollte
  • 5 Von der „Flut“ zur ‚Ebbe‘: Schlussbetrachtungen und Ausblick
  • 6 Dank
  • 7 Abbildungsverzeichnis
  • 8 Tabellenverzeichnis
  • 9 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In ihrem vielbeachteten und einflussreichen autobiografischen Werk „weiter leben. Eine Jugend“ (1992) meldet sich Ruth Klüger nicht „nur“ als Überlebende des Holocaust, sondern auch als Germanistin zu Wort und verbindet ihr Schreiben über das Erlebte unter anderem mit literaturwissenschaftlichen, rezeptionsorientierten und diskursanalytischen Überlegungen zur Literatur über den Holocaust im Allgemeinen. So etwa, wenn sie ausführt, dass es „unsinnig“ sei, die Lager

mit Worten beschreiben zu wollen, als liege nichts zwischen uns und der Zeit, als es sie noch gab. Die ersten Bücher nach dem Krieg konnten das vielleicht noch, jene Bücher, die damals niemand lesen wollte, aber gerade sie sind es, die unser Denken seither verändert haben, so daß ich heute nicht von den Lagern erzählen kann, als wäre ich die erste, als hätte niemand davon erzählt, als wüßte nicht jeder, der das hier liest, schon so viel darüber, daß er meint, es sei mehr als genug, und als wäre dies alles nicht schon ausgebeutet worden – politisch, ästhetisch und auch als Kitsch.1

Gewiss, zunächst mag die für Klüger nicht ungewöhnliche provozierende Art und Weise der Formulierung ihrer Betrachtungen ins Auge stechen. Doch das ist nicht der Grund, warum diese Passage am Anfang der vorliegenden Forschungsarbeit steht. Ihre Darlegungen stehen vielmehr am Anfang, weil sie in knappen Zügen die besondere Stellung und Bedeutung der „ersten Bücher“ der Holocaust- und Lagerliteratur hervorhebt. Sie macht auch darauf aufmerksam, dass sich die Autoren mit ihren Texten offenbar einem ausgeprägten Desinteresse seitens der damaligen zeitgenössischen Leser ausgesetzt sahen.2 In Anlehnung an Klügers Erläuterungen kann daher der Beweggrund, frühe Werke der Holocaust- und Lagerliteratur in den Mittelpunkt der Forschungstätigkeit zu stellen, hergeleitet und zugleich der Ausgangspunkt für das vorliegende Projekt abgesteckt werden.

Die frühen literarischen Darstellungen von Verfolgungs- und Lagererfahrungen stehen am Anfang des Diskursfelds in Deutschland, das sie eröffnen und zugleich konstituieren.3 Die Autoren, die von Beginn an und über 1945 hinaus von der gesamten literarischen Bandbreite Gebrauch machten, sind die ersten, die von den Verbrechen, der Willkür, dem Terror, den katastrophalen Verhältnissen in den Lagern und später vom Elend in den Gettos und dem systematischen Massenmord berichten.4 Gerade diesen Textzeugnissen kommt daher eine besondere Bedeutung zu, da sie, wie auch Klüger aufzeigt, das Schreiben über den Holocaust auch noch Jahre später beeinflussen (können). Allerdings haben diese frühen Werke – in Anlehnung an das Sprichwort „habent sua fata libelli“ (Terentianus Maurus) etwas überspitzt formuliert – ihr ganz eigenes Schicksal: Die überwiegende Mehrheit von ihnen konnte sich nicht in das kollektive Gedächtnis einschreiben und geriet – sofern diesen Texten überhaupt Aufmerksamkeit geschenkt wurde – nach ihrem Erscheinen sogleich weitgehend in Vergessenheit.5 Was genau mit den Textzeugnissen in den unmittelbaren Jahren nach Kriegsende geschah, d. h., wie genau sie wahrgenommen wurden, ist bis heute weitgehend unbekannt. Das vorliegende Projekt will daher zum einen ausloten, unter welchen Bedingungen die frühen Werke der Holocaust- und Lagerliteratur zwischen 1945 und 1949 unter amerikanischer und britischer Besatzung in Deutschland erschienen und wie genau sie beurteilt wurden – und zwar nicht nur durch die damalige zeitgenössische professionelle Literaturkritik, sondern bereits durch die an der Produktion der Werke beteiligten Akteure. Zum anderen werden auch die Texte selbst narratologisch analysiert, um das Spektrum peritextueller Präsentationsformen und narrativer Darstellungs-, Erinnerungs- und Deutungsmuster, also das angebotene Textrepertoire, offenzulegen, auf das Rezipienten in ihren Beurteilungen reagierten.

1.1 Forschungsstand und eigene Standortbestimmung

Die „weitgehende Abwesenheit der Opfer-Stimme im Diskurs der frühen Nachkriegsjahre“ wurde unter anderem, wie Sascha Feuchert (2012) einen bisher immer wieder bemühten Erklärungsansatz zusammenfasst, vor allem „mit dem vielfach psychisch erzwungenen Schweigen angesichts unaussprechlichen Leides“6 begründet. Gewiss, dieser Erklärungsansatz ist nicht grundlegend falsch.7 Mittlerweile weiß man aber, dass die Annahme eines „bleierne[n] Schweigen[s]“ der Opfer in den unmittelbaren Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges, wie sie sowohl in der Wissenschaft als auch in der breiten Öffentlichkeit vorherrscht(e), einen „‚Mythos‘ “8 darstellt.9 Dass sich die deutsche Literaturwissenschaft lange Zeit recht schwer damit tat, den Werken der Holocaust- und Lagerliteratur überhaupt zu widmen, hat sicherlich auch seinen Teil dazu beigetragen, dass frühe Werke recht schnell nach ihrem Erscheinen weitgehend in Vergessenheit gerieten. Anfänglich galt es vor allem, sich an einer literaturwissenschaftlichen Begriffsbildung zu versuchen, um ihren Forschungsgegenstand zu etablieren; diese Versuche waren aber nicht selten weniger deskriptiv als präskriptiv und gingen einer genauen Definition eher aus dem Weg, als die Frage nach ihr zu beantworten.10 Seit einigen Jahren zeichnet sich jedoch eine Art „Rückbesinnung“ im Sinne eines (Wieder-)Entdeckens der frühen Textzeugnisse ab. Das zeigt sich zum einen in einer verstärkten Hinwendung zu ihnen in Form von Neuauflagen, die meist von kontextualisierenden Beiträgen begleitet werden.11 Das wird zum anderen daran deutlich, dass die frühen Werke verstärkt in den Fokus von Untersuchungen geraten. Trotzdem ist die Forschung, die sich vornehmlich den frühen Werken der Holocaust- und Lagerliteratur aus literaturwissenschaftlicher Perspektive widmet, recht überschaubar. Und hier sind es bisher insbesondere Beiträge und Aufsätze, in deren Rahmen die frühen literarischen Inszenierungen von Verfolgungs- und Lagererfahrungen im Mittelpunkt stehen. So macht beispielsweise Claude Conter in seinem Aufsatz „KZ-Literatur der 30er Jahre oder die Genese der KZ-Darstellung“ (1996) auf gattungsprägende Strukturen und Erinnerungsmuster aufmerksam, die gleich noch genau betrachtet werden.12 Constanze Jaiser widmet sich unter dem Titel „Die Zeugnisliteratur von Überlebenden der deutschen Konzentrationslager seit 1945“ (2006) Werken, die seit Kriegsende veröffentlicht wurden und aus der Feder Überlebender stammen. Diese Texte fasst sie – in Anlehnung an den biblischen Ursprung des Begriffs „Zeugnis“ – unter der Bezeichnung „Zeugnisliteratur“ zusammen, um so ihre besondere (narrative) Beschaffenheit und den mit ihnen verbundenen speziellen Dialogcharakter zu betonen.13 Außerdem bietet Jaiser in groben Zügen einen Überblick über die von 1945 bis in die 2000er Jahre hinein veröffentlichte „Zeugnisliteratur“ und versucht anhand der Skizze der Publikationsentwicklung auch einen Abriss der Rezeptionsgeschichte der Texte; ohne dabei allerdings exemplarisch einschlägige Buchrezensionen heranzuziehen. Jaiser ist es auch, die in diesem Zusammenhang auf wesentliche Desiderate der Forschung hinweist, die teilweise bis heute bestehen; etwa, dass es neben verdienstvollen Detailstudien vor allem an „[s]ystematischen Untersuchungen zur Vielzahl dieser Zeugnisse“14 fehle. Die vorliegende Arbeit sucht sich in dieser Nische einzuordnen und hier einen ersten Beitrag zu leisten. Neben Conter und Jaiser ist es beispielsweise auch der Beitrag „Fundstücke. Bemerkungen zu Darstellungskonventionen und paratextuellen Präsentationsformen früher Texte deutschsprachiger Holocaustliteratur“ (2012) von Sascha Feuchert, der eine erste grundsätzliche Orientierung über narrative wie visuelle Gestaltungsmuster bietet und diese unter anderem in Zusammenhang mit der damaligen Kommunikationssituation sowie den alliierten Maßnahmen zur Konfrontation mit den Verbrechen stellt.

Zu jenen Forschungsarbeiten, die grundsätzliche Erkenntnisse über die narrative Beschaffenheit früher Werke der Holocaust- und Lagerliteratur bieten, wenngleich eben diese nur einen Teil des Textkorpus ausmachen, sind ferner zwei Studien zu nennen, die der vorliegenden Arbeit als Hauptreferenzwerke dienen.15 Da ist zum einen die Untersuchung „‚Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit‘. Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945 bis 1949“ (1990) von Helmut Peitsch. Seine Ausführungen stehen im Kontext der Diskussion um eine unmittelbare und umfassende Vergangenheitsverdrängung bereits in den ersten Nachkriegsjahren.16 Die Annahme, dass die Verdrängungsthese einer historischen Differenzierung bedürfe,17 stellt den Ausgangspunkt seiner Abhandlung dar. Kritisch Anleihe am gedächtnistheoretischen Ansatz von Maurice Halbwachs nehmend, verweist Peitsch auf die „Verbindung von Kontinuität und Pluralität im Begriff des kollektiven Gedächtnisses“18. Durch diese Konzeptualisierung nicht eines, sondern pluraler Gedächtnisformen ließen sich Fragestellungen entwickeln, die „über die moralisierenden Implikationen des Verdrängungsbegriffs hinausführen“19. Im Gegensatz zu Halbwachs, der kollektive Gedächtnisinhalte vor allem von sozialen Gruppen getragen sieht, die zwischen den Individuen und der jeweiligen Nation Erinnerungsmuster vermitteln,20 rückt Peitsch die „Institutionen [des] ideologischen Staatsapparate[s]“ in der BRD in den Fokus, in denen ebenso „um das Gedächtnis der Nation gekämpft“21 werde. Zu diesen Institutionen zählt er auch „die Literaturverhältnisse, das materielle System der Produktion, Vermittlung und Rezeption von Literatur“22. Mit klar formulierten Erkenntnisprämissen zielt er darauf ab, anhand einer Untersuchung von Verlagsprogrammen, autobiografischen Erinnerungsschriften sowie in den westlichen Besatzungsgebieten zwischen 1945 und 1949 publizierten literaturkritischen Rezensionen eine notwendige Differenzierung daraufhin vorzunehmen,23 dass „die Ausklammerung des Faschismus aus dem öffentlichen Gedächtnis“24 eben kein „homogenes Kontinuum“25 in der Nachkriegszeit darstellt. Im Rahmen seiner Analysetätigkeiten arbeitet er unter anderem das Erzählschema früher autobiografischer Texte der Holocaust- und Lagerliteratur heraus und skizziert das Spektrum der durch sie vermittelten politischen Deutungen des Nationalsozialismus. Zudem finden sich bei ihm aufgrund der Auseinandersetzung mit einigen wenigen zeitgenössischen Stimmen der deutschen Literaturkritik erste Hinweise auf Tendenzen der Beurteilung dieser Bilder des Nationalsozialismus. Genau hier möchte die vorliegende Studie ansetzen und die bisherigen Erkenntisse über die damalige zeitgenössische literaturkritische Bewertungspraxis von Werken der Holocaust- und Lagerliteratur vertiefen bzw. verfeinern.

Zum anderen ist es vor allem Andrea Reiter, die mit ihrer einfluss- und aufschlussreichen Untersuchung „‚Auf daß sie entsteigen der Dunkelheit‘. Die literarische Bewältigung von KZ-Erfahrung“ (1995) unentbehrliche Erkenntnisse über die narrativ-stilistische Beschaffenheit autobiografischer Schriften über KZ-Erfahrungen bietet und dabei auch einige frühe Textzeugnisse berücksichtigt. Im Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses steht die Art und Weise der literarischen Vermittlung. So fragt sie nicht nur nach den literarischen Formen, die von den Autoren gewählt wurden, um dem Erlebten Ausdruck zu verleihen, sondern auch nach den Möglichkeiten und Problemen der sprachlich-narrativen Umsetzung sowie nach den Funktionen, die Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik mit dem Erzählen bzw. Literarisieren verbinden. Dabei streift sie die rezeptionsorientierten Wirkungen der angewandten narrativ-stilistischen Strategien, da – wie sie wiederholt betont – die „Kommunizierbarkeit von Erlebtem […] sowohl die Ebene der Produktion als auch die der Rezeption“26 betrifft. Trotzdem bleiben der Interpretationsraum, der sich infolge der literarischen Darstellung für Leser ergibt, sowie die Rezeption der frühen Werke aufgrund des anders gelagerten Erkenntnisinteresses unberücksichtigt.

Eine der jüngsten Arbeiten über frühe Werke der Holocaust- und Lagerliteratur stellt die Untersuchung „Das Täterbild in der Überlebenden-Literatur. Ein Vergleich der Täterbilder in der frühen und späten Lagerliteratur von Buchenwald und Dachau“ (2017) von Chunguang Fang dar. Anliegen ihrer komparatistisch-analytisch aufgebauten Studie ist es, nicht nur deutlich zu machen, dass in den Textzeugnissen der Überlebenden gerade jene Akteure sichtbar sind, die vor Ort in den Lagern die Terror- und Mordpolitik planten und/oder in die Tat umsetzten – weshalb sie diesen Textzeugnissen gerade auch für die Täterforschung ein wesentliches Erkenntnispotenzial zuspricht –,27 sondern auch den narrativen Inszenierungen, Standardisierungen und Veränderungen der Täterbilder in den frühen (1945–1949) und späten (1979–2012) deutschsprachigen Werken über KZ-Erfahrungen nachzuspüren.28 Dafür entwickelt sie in Anlehnung an Modelle der interdisziplinären Täterforschung eine eigene, vor allem literaturwissenschaftlich geprägte Typologie von Tätertypen aus der Sicht der Überlebenden, repräsentiert durch den jeweiligen literarischen Text. Obwohl ihre Studie freilich nur bedingt Erkenntnisse über die narrative Beschaffenheit der Werke als solche bereitstellt und auch hier die Rezeption der Textzeugnisse unberücksichtigt bleibt, bietet sie, wie gleich noch erläutert wird, für einzelne Aspekte der narratologischen Analyse im Rahmen der vorliegenden Arbeit wichtige Einsichten und Orientierungsmöglichkeiten.

Vor allem werden bisher einzelne Werke der frühen Holocaust- und Lagerliteratur im Rahmen von Arbeiten berücksichtigt oder zumindest gestreift, die literaturwissenschaftliche mit gedächtnistheoretischen Ansätzen verbinden und nach der Repräsentation des Holocaust als Thema in der (unmittelbaren) deutschen Nachkriegsliteratur, also nach dominierenden Vergangenheitsbildern und Erinnerungsmustern fragen. In Anbetracht des rezeptionsorientierten Erkenntnisinteresses der folgenden Untersuchung sind diese Befunde durchaus aufschlussreich. Dabei werden dann jedoch meist, wenn überhaupt, bekannte, wenn nicht sogar kanonisierte frühe Werke der Holocaust- und Lagerliteratur berücksichtigt.

Antonia Barborics Untersuchung „Der Holocaust in der literarischen Erinnerung. Autobiografische Aufzeichnungen von Udo Dietmar und Elie Wiesel“ (2014) ist hier zu nennen, die zumindest einen frühen Text in den Mittelpunkt ihrer Forschungstätigkeit stellt, der sich eben nicht einer großen Bekanntheit erfreut. Ausgehend von der These, dass gerade frühen autobiografischen Werken aus der Feder eines „‚Nichtschriftstellers‘ “29 eine mangelnde „literarische“ Eigenschaft zugesprochen werde, setzt sie sich zum Ziel, die Literarizität solcher Darstellungen offenzulegen.30 Anhand des Berichts „Häftling … X … in der Hölle auf Erden“ (1946)31 von Udo Dietmar32 als Vertreter für ‚Nichtschriftsteller‘ sowie des kanonischen Werks „Nacht“ (1964) von Elie Wiesel geht sie der Frage nach, „wie aus Erleben eine Erzählung gemacht wurde“33, d. h. wie mit Hilfe von narrativen Strategien die Autoren das Erlebte in eine literarische Form bringen. Dadurch soll, so das übergeordnete Ziel, exemplarisch veranschaulicht werden, „dass […] zwei so unterschiedliche Texte mit verschiedenen Hintergründen miteinander“ verglichen „und im Kontext der Holocaust-Literatur […] bearbeite[t]“34 werden können. Ihrer Textanalyse stellt sie nicht zuletzt deswegen umfangreiche Überlegungen über die Begriffsbestimmung von Holocaustliteratur unter besonderer Berücksichtigung der frühen Werke sowie zum autobiografischen Gedächtnis und Erzählen, zum Traumabegriff und dem Trauma in der Holocaustliteratur voran,35 die jedoch nur bedingt im Rahmen ihrer Analysetätigkeiten zum Tragen kommen. Ihre Textautopsie baut sie in beiden Fällen nach der Chronologie auf, wie sie „durch die Texte selbst vorgegeben“36 wird. Während sich die Befragung von Udo Dietmars Werk allerdings auf die „Landschafts- und Wetterbeschreibung in Kontrast zur oder Übereinstimmung mit der Gemütslage und Verfassung des Protagonisten/Erzählers sowie seiner Situation während der KZ-Haft“37 als „Strategie“38 konzentriert, mit der er seine Erlebnisse erzählerisch umsetzt, fokussiert sie bei Elie Wiesel die „Perspektivierung durch Figuren“, die dort als Strategie diene, um „Gerüchte und Fama“ auszuleuchten sowie „Spannung und Empathie“39 zu erzeugen. Gerade mit Blick auf das Werk von Dietmar als Stellvertreter für frühe literarische Darstellungen von Verfolgungs- und Lagererfahrungen zeigt Barboric damit einige als paradigmatisch geltende narrative Charakteristika früher Holocaust- und Lagerliteratur auf. Da sie allerdings ihre Studie als „textimmanente Untersuchung bzw. als sogenanntes close reading40 anlegt, bietet auch sie keinen Überblick über die Vielfalt der literarischen Inszenierung von Verfolgungs- und Lagererfahrungen und auch keine Hinweise über deren Rezeptionsgeschichte in der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Janina Bach widmet sich unter dem Titel „Erinnerungsspuren an den Holocaust in der deutschen Nachkriegsliteratur“ (2007) der Frage, „wie Teile der deutschen Nachkriegsliteratur im Prozess der Ausformung des kollektiven Gedächtnisses an Holocaust- und NS-Zeit zum Gedächtnismedium wurden“41. Ihr Augenmerk richtet sich dafür auf Prosaliteratur aus der Zeit von 1945 bis zu den Auschwitz-Prozessen 1963/65 sowie auf den Erinnerungsdiskurs in der sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR und in den westlichen Besatzungszonen bzw. der BRD. Ausgehend von der Annahme, dass „es sich bei der Ausbildung des kollektiven Gedächtnisses an die NS-Vergangenheit in der Gründungs- und Konsolidierungsphase beider deutschen Staaten“ – jeweils von anderen politischen Prämissen und Bedürfnissen sowie anderen Orientierungs-, Erinnerungs- und Deutungsmustern geprägt – „um einen von Widersprüchen gekennzeichneten Prozess“42 handelt, befragt sie ihre ausgewählten Textbeispiele43 nicht nur nach den angebotenen Deutungsmustern. Sie untersucht sie vor allem auch dahingehend, ob und inwiefern sie sich als Gedächtnismedien an der Verfestigung von Vergangenheitsbildern des Holocaust beteiligen oder diesen entgegenlaufen und darauf abzielen, Gegennarrative der Erinnerung an den Holocaust zu entwickeln. Damit bietet ihre Studie Orientierungspunkte hinsichtlich mehrheitsfähiger, aber auch abgedrängter, unterdrückter Deutungsmuster, was für die Textautopsie sowie für die Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte früher Werke der Holocaust- und Lagerliteratur im Rahmen der vorliegenden Arbeit hilfreich ist.44

Stephan Braese beispielsweise arbeitet in seiner umfangreichen Studie „Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur“ (2001) detailliert die „Erinnerungsdifferenz und Erinnerungskonkurrenz45 heraus, die für die Stellung jüdischer Autoren deutscher Sprache in der westdeutschen Nachkriegsliteratur von 1945 bis 1989 paradigmatisch sei. Die Erfahrungen jüdischer, auch nicht-jüdischer, Überlebender – wie er in Anlehnung an Hüppauf argumentiert –, blieben von jenen der deutschen Mehrheitsbevölkerung geschieden und wurden durch den sich wieder konstituierenden westdeutschen Literaturbetrieb weitgehend verdrängt, da man glaubte, ihre Erinnerungen insbesondere durch die Einfindung in eine Opferrolle vereinnahmen zu können.46 Dabei betont Braese jedoch, dass „[d]ie Erinnerungen jüdischer Autoren als die Erfahrung einer singulären Verfolgungs- und Vernichtungspolitik […] im deutschen Literaturbetrieb – nicht [aber] in der deutschen Literatur – von 1945 bis 1947 ohne Stimme“47 war. Eine zentrale Erkenntnis seiner Untersuchung sticht in diesem Zusammenhang mit Blick auf das Anliegen der vorliegenden Arbeit besonders hervor: So gehe nach Braese aus dem „Studium der Reaktionen des deutschen Publikums“ hervor, dass sich auf die literarischen Versuche jüdischer Autoren zum Gespräch „immer wieder Leserinnen und Leser ansprechbar gezeigt haben“48, wenn sie auch weniger bekannt waren und nur wenige zu den prominenten Kritikern zählten. „Es ist diese kleine Gruppe von Rezensenten“, so Braese, „die den historiographisch belangvollen Nachweis führt, daß das Verstehen, das Erkennen solcher ‚Ansprache‘ deutscher Leserschaft durchaus nicht kategorial verstellt war, wie in einer populär-‚progressiven‘ Deutung der deutschen Verhältnisse in den Nachkriegsjahrzehnten zuweilen suggeriert wurde“49.

Gerade die Forschungserkenntnisse der Studie von Peitsch und Braese weisen deutlich darauf hin, dass die Annahme, die frühen Textzeugnisse der Holocaust- und Lagerliteratur seien einer allgemeinen „Vergangenheitsverdrängung“ im Sinne eines kategorischen Beschweigens der unmittelbaren Vergangenheit zum Opfer gefallen, nicht zutrifft. Die Chiffre der „Verdrängung“ als pauschale Etikettierung des Umgangs „der Deutschen“ mit der deutschen Vergangenheit gilt mittlerweile ohnehin zumindest als stark verzerrend.50 Zwischen 1945 und 1949 hat – auch – im literarischen Leben eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und den Verbrechen stattgefunden und trotzdem zum Ausschluss der überwiegenden Mehrheit der Werke der Holocaust- und Lagerliteratur aus dem kollektiven Gedächtnis geführt.51 Zugleich greift jedoch die Erklärung, dass die Perspektive der Überlebenden bewusst ausgeschlossen worden sei, ebenfalls etwas zu kurz. Man bedenke: Nicht alle Werke sind in Vergessenheit geraten, einige haben Eingang in den Diskurs über KZ-Erfahrungen gefunden; obwohl sich schon hier andeutet, dass sich zunächst zwei Erinnerungsdiskurse – von einigen heftigen Reibungen begleitet – entwickelten, die sich mit der Gründung beider deutscher Staaten 1949 weiter verfestigten.52 Ungeachtet des jeweiligen Publikationskontextes sei hier für Textzeugnisse, die sich in den Jahren zwischen 1945 und 1949 behaupten konnten und bis heute bekannt sind, exemplarisch Eugen Kogons „Der SS-Staat“ (1946),53 Wolfgang Langhoffs „Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager“ [1946],54 Ernst Wiecherts „Der Totenwald. Ein Bericht“ [1946],55 Lina Haags „Eine Handvoll Staub“ (1947)56 oder Margarete Buber-Neumanns „Als Gefangene bei Stalin und Hitler“ (1949a)57 genannt.58 Langhoffs Werk ist zugleich nur ein Beispiel unter vielen, anhand dessen deutlich wird, „dass es […] für die Holocaust- und Lagerliteratur keine Stunde Null gab, die etwa am 8. Mai 1945 gelegen hätte“59. Insbesondere Forschungsarbeiten, die den literarischen Diskurs über den Holocaust und Nationalsozialismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit ins Auge fassen und deswegen ihren Blick vor allem auf die Erinnerungs- und Darstellungsmuster richten, verdichten die Vermutung, dass es gerade auch das Deutungsangebot eines Textes war, das eine wohlwollende oder ablehnende Rezeption begünstigte. Allen voran ist hier die Untersuchung von Weertje Willms (2000) als Orientierung bietendes Referenzwerk zu nennen. Willms ermittelt anhand eines komplexen Analyserasters (Auswertung v. a. von Schullehrplänen, universitären Vorlesungsverzeichnissen, Presseberichten etc.) und durch die Beschränkung auf Publikationen, die in Westdeutschland erschienen sind, die mainstream-Texte des gesellschaftlichen Diskurses der Jahre 1945 bis 1970.60 Durch ihre Erkenntnisse über Darstellung und Inhalte der von ihr untersuchten Texte des literarischen mainstreams in Bezug auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit können bei der narratologischen Analyse der Texte selbst sowie der Rezeptionsresultate früher KZ-Literatur Rückschlüsse und Thesen über deren Ausblendung kontextualisiert und kritisch zur Diskussion gestellt werden.

Trotzdem droht der „Mythos“ der weitgehenden Abwesenheit der Opferstimmen zwischen 1945 und 1949 noch heute zu überdecken,61 dass vor allem unmittelbar nach dem Krieg nicht nur viele, sondern auch vielfältige literarische Darstellungen von Verfolgungs-, Gefangenschafts- und Lagererfahrungen ihren Weg in die Öffentlichkeit fanden – womit natürlich noch nichts darüber gesagt ist, ob die Werke auch rezipiert wurden. Aufgrund der umfangreichen Erfassung deutschsprachiger Textzeugnisse in der Datenbank „Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur“62 lässt sich mittlerweile unzweifelhaft eine große Anzahl belegen. Allein für das Zeitfenster zwischen 1945 und 1949 können – unabhängig vom Erscheinungsort, d. h. nicht auf Deutschland beschränkt – in etwa 350 deutschsprachige Werke ermittelt werden.63 Ferner sind in diesem Zusammenhang vor allem auch damalige zeitgenössische Stimmen bemerkenswert. Dem KPD-Funktionär Franz Ahrens64 beispielsweise erscheint es bereits „[d]rei Jahre nach der Zertrümmerung des Nazi-Reichs […] an der Zeit, einen Überblick“ über eine „Flut von Schriften“ zu gewinnen, die „über Konzentrationslager und über den Widerstand“65 publiziert wurde. Gleich mehrmals verweist er in seiner Bibliografie „Widerstandsliteratur. Querschnitt durch die Literatur über die Verfolgungen und den Widerstand im Dritten Reich“ (1948), im Auftrag des Rats der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) zusammengestellt, auf die hohe Publikationsrate der Holocaust- und Lagerliteratur, wenn er von einer „sehr großen Anzahl“66, „erkleckliche[n] Zahl“67 oder „Unmasse“68 spricht.69 Ahrens ist mit dieser Feststellung nicht allein. Es lassen sich zahlreiche weitere zeitgenössische Stimmen der unmittelbaren Nachkriegsjahre finden, die sich mit Blick auf die Menge der Texte ähnlich äußern – und er ist auch nicht der einzige, der das Bild der „Flut“ in diesem Zusammenhang bemüht. Bereits ein Jahr zuvor, im Januar 1947, konstatiert etwa auch Wolfgang Borchert in seiner Sammelrezension „Kartoffelpuffer, Gott und Stacheldraht“ eine „fortwährend anwachsende Flut der KZ- und Gefängnisliteratur“70.

Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden: Diese Publikationen entstanden unter prekären Produktionsbedingungen in einer Zeit, in der im Bereich des Buch- und Verlagswesens durch die gesetzlichen Vorgaben, durch Reglementierungen sowie durch – teils rigide – Kontrollmaßnahmen der Alliierten tief in den Herstellungsprozess von Büchern eingegriffen wurde. Verbunden mit den gesellschafts- und kulturpolitischen (konzeptionellen) Vorstellungen und Vorgaben, die hinter den sprachlichen Chiffren Demilitarisierung, Dezentralisierung, Dekartellisierung, Demokratisierung sowie Entnazifizierung stehen, entwickelten sich unterschiedliche Produktionskontexte.71 Die jeweils vorherrschenden kultur-/literaturpolitischen Zielvorstellungen der jeweiligen Besatzungsmacht, durch die die abweichenden kontextuellen Herstellungsbedingungen von Verlagswerken erst konstituiert wurden, beeinflussten natürlich auch die Veröffentlichungspraxis in den jeweiligen Besatzungszonen und setzten damit zugleich jeweils spezifische Rahmenbedingungen für den literarischen Diskurs über NS-Verbrechen,72 der zwangsläufig Teil des Schuld-Diskurses war.73 In dieser Zeit machte sich insbesondere die ideologische Verhärtung konträrer politisch- staatlicher Selbstbilder bemerkbar, die nach der Gründung beider deutscher Staaten 1949 die nationalen Identitätskonstruktionen maßgeblich prägten.74 Durch die Gründung der BRD und DDR veränderte sich zugleich (erneut) der äußere Rahmen des literarischen Lebens, die Produktions- und Publikationsvoraussetzungen, insbesondere aber der Rezeptionskontext in Ost und West weitreichend. Denn die veränderten Herstellungsbedingungen ab dem Jahr 1949 gingen auch damit einher, dass sich – zumindest in der BRD – das Leserinteresse wieder deutlich bemerkbar machen und auf die Veröffentlichungspraxis Einfluss ausüben konnte.75

Wie oben bereits erwähnt, macht sich die vorliegende Arbeit vor allem zum Anliegen, der Rezeption früher Werke nachzuspüren und versteht dabei bereits die Produktionsphase als vorgelagerte Rezeptionsphase. Da Rezeptionsprozesse immer stark an den gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Kontext gebunden sind,76 erscheint es sinnvoll, den Untersuchungsraum einzugrenzen. Wie der Titel bereits deutlich macht, stehen im Folgenden Werke im Mittelpunkt, die zwischen 1945 und 1949 unter amerikanischer und britischer Besatzung veröffentlicht wurden. Das rührt von folgenden Überlegungen her: Abgesehen davon, dass sich hinsichtlich der Produktion, Distribution und Rezeption von frühen Werken der Holocaust- und Lagerliteratur die westlichen Besatzungszonen von der sowjetischen Besatzungszone weitreichend unterschieden, bestanden zudem zwischen den drei westlichen Gebieten unter alliierter Hoheit mit Blick auf die ausgeübten Kontrollmaßnahmen Differenzen. Die Entwicklung der Kultur- und Literaturpolitik lief zwischen den amerikanischen, britischen und französischen Alliierten weder wirklich konsensual, noch geradlinig und widerspruchsfrei.77 So hebt etwa Gabriele Clemens (1997) hervor, dass beispielsweise auch die amerikanische nicht mit der britischen Kulturpolitik gleichgesetzt werden kann.78 Allerdings lässt sich zumindest für diese beiden Besatzungszonen feststellen, dass die ersten erlassenen Gesetze und Verordnungen sowie die ergriffenen Maßnahmen, die das Buch- und Verlagswesen betrafen, auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen und beide Besatzungsmächte nach einer kurzen Phase relativer Losgelöstheit voneinander mit der Bizonen-Bildung zu Beginn des Jahres 1947 zentrale konzeptionelle Vorgaben, Zielsetzungen und Kontrollschritte (wieder) weitgehend ab- bzw. anglichen. Das betrifft insbesondere die Ausübung der Vorzensur, die in der amerikanischen Zone bereits Ende 1945,79 in der britischen Zone dann Anfang 1947 in die sogenannte post-publication scrutiny abgewandelt wurde.80 In der französischen Zone ist die Vorzensur von Büchern allerdings erst 1949 vollständig abgeschafft worden.81 Trotz einiger Differenzen lassen sich daher für die amerikanische und britische Besatzungszone verhältnismäßig ähnliche Produktions-, Distributions- und Rezeptionsvoraussetzungen für die Werke der Holocaust- und Lagerliteratur festmachen. Zum Zwecke der Ausleuchtung amerikanischer und britischer besatzungs- und kulturpolitischer Prämissen und Maßnahmen, die von den jeweils zuständigen Kontrollorganen im Bereich des Buch- und Verlagswesen umgesetzt wurden, werden einschlägige Abhandlungen der Forschung konsultiert, die dabei vor allem auch die Verhältnisse im deutschen Buch- und Verlagswesen bzw. die Bedeutung von Büchern im Rahmen der Kulturpolitik darlegen; darunter etwa Ulrich Bausch (1992), Edward C. Breitenkamp (1953); Gabriele Clemens (1997), Hansjörg Gehring (1976), John Gimbel (1968), Maritta Hein-Kremer (1996) und Sandra Schwabe (2010).

Details

Seiten
778
Erscheinungsjahr
2025
ISBN (PDF)
9783631923535
ISBN (ePUB)
9783631923542
ISBN (Hardcover)
9783631867488
DOI
10.3726/b22528
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2025 (November)
Schlagworte
Gefangenenliteratur Literatur nach 1945 Buchmarkt Reeducation Nachkriegszeit Überlebende Konzentrationslager Nationalsozialismus Alliierte Medienpolitik
Erschienen
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2025. 778 S., 11 farb. Abb., 1 Tab.
Produktsicherheit
Peter Lang Group AG

Biographische Angaben

Anika Binsch (Autor:in)

Anika Binsch war von 2016 bis 2024 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Justus-Liebig-Universität Gießen tätig – dies an der dortigen Arbeitsstelle Holocaustliteratur bzw. an der mit ihr verbundenen Professur für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur sowie ihre Didaktik. Seit Oktober 2024 ist sie Geschäftsführerin der Arbeitsstelle Holocaustliteratur.

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Titel: Frühe deutschsprachige Holocaust- und Lagerliteratur