Verfassungsrechtliche Grenzen des Predictive Policing
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Table Of Contents
- Titelseite
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- Inhaltsverzeichnis
- I. Einführung
- 1. Begriff und Arten des Predictive Policing
- 2. Entwicklung
- II. Ortsbezogenes Predictive Policing
- 1. Theoretische Grundlagen
- 1.1. Rational-Choice-Theorien
- 1.2. Routine-Activity-Approach
- 1.3. Near-Repeat-Phänomen
- 1.4. Broken Windows
- 1.5. Crime-Pattern-Theorie
- 1.6. Weitere Ansätze
- 2. Technische Grundlagen der Computerprognose
- 2.1. Hot-Spot-Analyse
- 2.2. Regressionsmethoden
- 2.3. Risk Terrain Analysis
- 3. Bisherige Untersuchungen zur Wirksamkeit der Anwendungen
- 4. Bestandsaufnahme in Deutschland
- 4.1. PRECOBS
- 4.2. SKALA
- 4.3. PreMAP
- 4.4. KrimPro
- 4.5. KLB-operativ
- 4.6. ELSA
- 4.7. Ausblick für Deutschland
- 5. Internationaler Ausblick
- 6. Fazit
- III. Personenbezogenes Predictive Policing
- 1. Technische Differenzierungen
- 2. Bestandsaufnahme, Einordnung und Abgrenzung in Deutschland
- 2.1. Palantir Gotham (hessenDATA / DAR), VeRA
- 2.2. „Intelligente“ Videoüberwachung
- 2.3. RADAR-iTE und RADAR-rechts
- 2.4. Musterabgleich des Fluggastdaten-Informationssystems
- 2.5. Weitere Anwendungsfälle
- 3. Bestandsaufnahme in der Europäischen Union
- 3.1. Sensing Project
- 3.2. iBorderCtrl
- 4. Internationaler Ausblick
- 5. Fazit
- IV. Verfassungsrechtliche Grenzen
- 1. Ortsbezogene Systeme
- 1.1. Ortsbezogene Prognosen ohne Ermächtigungsgrundlage
- a. Grundsätze
- b. Bedenken zu möglicher Ungleichbehandlung
- c. Stigmatisierende Verhaltensprofile
- α. Einordnung in Art. 3 GG
- β. Anwendung im ortsbezogenen Predictive Policing
- χ. Drohende Lücken im Grundrechtsschutz
- δ. Lösung: Die objektiv-rechtliche Schutzfunktion der Grundrechte
- 1.2. Die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der ortsbezogenen Prognose
- 1.3. Die Eingriffsschwelle der ortsbezogenen Prognose
- a. Eröffnung des Schutzbereichs des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
- α. Öffentlich zugängliche Daten
- β. Soziostrukturelle Daten
- χ. Geokoordinaten und damit verbundene Informationen
- b. Mögliche Rechtfertigung
- 1.4. Probleme um die Einhaltung des verfassungsrechtlichen Rahmens
- 1.5. Fazit
- 2. Transparenz als übergreifende verfassungsrechtliche Grenze
- 2.1. Verschiedene Formen der Intransparenz
- 2.2. Staatliche Geheimhaltungsbefugnisse
- 2.3. Die Rolle der Transparenz im Verfassungsrecht
- a. Informationsfreiheit
- b. Rechtsstaats- und Demokratieprinzip
- c. Sonstige Grundrechte
- d. Landesverfassungen
- e. Europarecht
- 2.4. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Transparenz von Predictive Policing-Systemen
- a. Grundsätze
- b. Exkurs: State v. Loomis
- c. Transparenz bei ortsbezogenen Systemen
- 2.5. Kontrolle und Durchsetzung der Transparenzregeln
- a. Rolle der Öffentlichkeit
- b. Rechte von Prognosen Betroffener
- c. Rolle staatlicher Kontrollinstanzen
- α. Bestehende und mögliche Kontrollinstanzen
- β. Rechtsprechung des BVerfG: ATDG und BKA-Gesetz
- χ. Übertragbarkeit auf Predictive Policing
- d. Rechte der Parlamente und Abgeordneten
- 2.6. Fazit
- 3. Personenbezogene Fragen
- 3.1. Recht auf informationelle Selbstbestimmung
- a. Grundsätzliche Einordnung
- b. Die automatisierte Datenverarbeitung durch Sicherheitsbehörden in der Rechtsprechung des BVerfG
- α. Rasterfahndung
- β. Automatisierte Kennzeichenerfassung
- χ. Antiterrordateigesetz I und II
- δ. Palantir
- c. Anwendbarkeit der Rechtsprechung auf personenbezogenes Predictive Policing
- α. Rasterfahndung – konkrete Gefahr
- β. Kennzeichenkontrollen – anlasslose Überwachung
- χ. ATDG, Palantir –Zweckbindung und hypothetische Datenneuerhebung im Licht der technischen Entwicklung
- d. Problemfelder jenseits der bestehenden Rechtsprechung
- α. Erhöhte Sichtbarkeit des Missbrauchspotentials
- β. Verbot der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen
- e. Europarechtliche Aspekte
- α. Art. 7 und 8 GRCh
- β. Urteile des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung
- χ. Gutachten des EuGH zum PNR-Abkommen mit Kanada
- δ. Urteil des EuGH zur PNR-Richtline
- ε. Fazit europarechtliche Aspekte
- f. Fazit informationelle Selbstbestimmung
- 3.2. Diskriminierung – Art. 3 GG
- a. Rechtlicher Rahmen: Art. 3 GG
- α. Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)
- β. Spezielle Diskriminierungsverbote, Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG
- αα. Rechtfertigung von Anknüpfungen in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG
- ββ. Die einzelnen Merkmale des Abs. 3 S. 1
- χχ. Anwendungsbereich des Verbots mittelbarer Diskriminierung
- b. Mögliche Ursachen von Ungleichbehandlungen
- c. Maßstäbe für faire Algorithmen
- d. Personenbezogenes Predictive Policing und Art. 3 GG
- e. Statistische Ungleichbehandlungen und Rechtfertigungen
- α. Kein widerspruchsfreier Maßstab
- β. Kein prädestinierter Maßstabsgeber
- χ. Keine stigmatisierenden Anknüpfungen
- δ. Keine Rechtfertigung durch Vergleich mit menschlichem Verhalten
- ε. Konsequenzen dieser Grundsätze
- f. Sonstige Rechtfertigungen von Ungleichbehandlungen und Anknüpfungen
- g. Fazit
- 4. Grenzen aus dem Staatsorganisationsrecht
- 4.1. Gesetzgebungskompetenzen
- 4.2. Normenklarheit und Bestimmtheit
- 5. Sonstige Grenzen
- 6. Fazit
- V. Leitlinien jenseits klassischer Grenzen
- 1. Lektionen aus dem Menschenbild des Grundgesetzes
- 1.1. Die Menschenwürde als Schranke und Leitlinie
- 1.2. Bezüge zur Unschuldsvermutung
- 1.3. Das Vollzugsdefizit als freiheitliches Gut
- 1.4. Das Recht auf menschliche Entscheidung
- 2. Rechtspolitische Konsequenzen einer neuen verfassungsrechtlichen Realität
- 2.1. Predictive Policing als Element der Überwachungsgesamtrechnung
- 2.2. Kann es eine Pflicht zur Nutzung von Predictive Policing geben?
- 3. Normative Widersprüche durch algorithmische Entscheidungen: Automation Bias
- 4. Schlussfolgerungen
- VI. Fazit
- Literaturverzeichnis
IV. Verfassungsrechtliche Grenzen
Predictive Policing als neue Art der Polizeiarbeit ist wissenschaftlich noch nicht in allen Belangen intensiv untersucht worden – stellenweise wurden bereits in dieser Bestandsaufnahme einzelne Forschungslücken deutlich. Noch größer werden die Lücken, wenn die kriminologischen Erkenntnisse in den rechtsdogmatischen Kontext übersetzt werden sollen. Die wenigen gesetzgeberischen Veränderungen wurden in der Wissenschaft kaum beachtet, Gerichtsurteile hierzu gibt es bislang je nach Thema kaum (erstes großes Urteil zum Themenkomplex ist das Urteil des BVerfG zu den Palantir-Ermächtigungsgrundlagen in Hessen und Hamburg).228
In diesem Kapitel soll dazu beigetragen werden, diese Lücken zu systematisieren und Verbindungen zu vergleichbaren bestehenden Methoden in der Polizeiarbeit zu ziehen. Soweit Forschungslücken bestehen, soll versucht werden, diese Lücken teilweise zu schließen.
An erster Stelle wird das ortsbezogene Predictive Policing in den verfassungsrechtlichen Kontext eingeordnet. Es wird weithin angenommen, dass eine ortsbezogene Prognose für sich genommen noch keinen Grundrechtseingriff darstellt und bereits auf Grundlage der polizeilichen Aufgabennormen ohne gesonderte Ermächtigungsgrundlage zulässig ist.229 Dies wird zunächst genauer untersucht.
Sodann werden Fragestellungen um die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Transparenz von Predictive Policing als übergreifendes, sowohl orts- als auch personenbezogene Anwendungen betreffendes Anliegen bearbeitet.
Im dritten Schritt werden Fragen, die nur personenbezogenes Predictive Policing betreffen, behandelt. Im Fokus stehen dabei zum einen die Frage, welche Anforderungen zur Rechtfertigung von Eingriffen in die informationelle Selbstbestimmung bei der Verwendung der Systeme bestehen, zum anderen die Frage, wann personenbezogenes Predictive Policing einen Verstoß gegen die Gleichheitsgrundsätze des Art. 3 GG darstellt; letztere Frage bedarf auch der Berücksichtigung mathematischer Probleme. Abschließend werden vereinzelte Fragen zu kleineren Themenkomplexen um die Verfassungsmäßigkeit der Anwendungen kursorisch behandelt.
1. Ortsbezogene Systeme
Rein ortsbezogenes Predictive Policing ist verfassungsrechtlich grundsätzlich immer weniger problematisch als personenbezogene Systeme. Im Gegensatz zum personenbezogenen Predictive Policing stellt nicht jede Prognose gleich einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung potentiell Betroffener dar. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass ortsbezogene Prognosen von den Landeskriminalämtern mit Ausnahme der datenschutzrechtlichen Bezüge so gut wie gar nicht unter rechtlichen Gesichtspunkten untersucht werden – vor allem, weil die Prognosen in der Wahrnehmung der Beteiligten nicht für polizeiliche Eingriffsmaßnahmen genutzt werden.230 Wie im nächsten Unterkapitel ausgeführt wird, bestehen bei den meisten Systemen auch so gut wie keine schweren Bedenken. Dennoch kommt auch bei rein ortsbezogenen Prognosen schnell eine Reihe von Fragen auf. Die erste Frage, wann die Grenze zum Grundrechtseingriff überschritten wird und es damit einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedarf, stellt sich auf mehreren Ebenen: Zunächst ist fraglich, ob auch die bislang als unproblematisch wahrgenommene und ohne Ermächtigungsgrundlage durchgeführte lagebezogene Prognose unter bestimmten Umständen nicht doch einen mindestens faktischen Grundrechtseingriff darstellen kann. Danach ist zu klären, wann bereits bei der Prognose selbst die Schwelle zum Eingriff überschritten ist, etwa durch die Nutzung von Daten, welche Rückschlüsse auf Personen zulassen. Zuletzt stellt sich die Frage, welche Rolle die Prognose für andere Eingriffe wie Personenkontrollen spielen darf.
1.1. Ortsbezogene Prognosen ohne Ermächtigungsgrundlage
a. Grundsätze
An dieser Stelle soll zunächst rekapituliert werden, welche Maßnahmen (verfassungs-)rechtlich unbedenklich sind. Die Polizei hat mit den Verwaltungsbehörden die Aufgabe der Gefahrenabwehr.231 Aus der Aufgabenübertragung darf jedoch nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht auf die Befugnisse der Polizei geschlossen werden.232 Aus dem Prinzip des Gesetzesvorbehalts nach Art. 20 Abs. 3 GG ergibt sich, dass jede eingreifende Maßnahme eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage benötigt.233 Das aus dem Polizei- und Ordnungsrecht stammende Verbot, von der Aufgabenzuweisung auf Eingriffsbefugnisse zu schließen, wurde von BVerfG und BVerwG in den letzten Jahrzehnten aber teilweise aufgeweicht. In der Osho-Entscheidung des BVerwG will es diesem Trennungsgebot nur dann den Status eines rechtstaatlichen Grundsatzes zuerkennen, soweit es sich auf „herkömmliche Eingriffe, also [..,] Rechtsakte gebietenden oder verbietenden (“imperativen”) Charakters“ bezieht.234 Bei nicht rechtsförmlich, sondern nur tatsächlich erfüllbaren Aufgaben, bei denen dem Bürger kein Handeln verboten oder aufgeboten wird, stehe das Rechtsstaatsprinzip einem Schluss von der Aufgabenzuweisung auf die Zulässigkeit von Individualrechtsbeschränkungen nicht grundsätzlich entgegen.235 Explizit erwähnt ist in dem Urteil auch die Möglichkeit des Schlusses von der polizeilichen Aufgabenzuweisung in Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung, obwohl in dem dabei zitierten Urteil einer anderen Kammer des BVerwG mit dem damaligen § 9 Abs. 1 BerlDSG eine Ermächtigungsgrundlage vorlag.236 Trotz aller Kritik an der Entscheidung ist dieser Grundsatz für die polizeiliche Gefahraufklärung nie in Frage gestellt worden, vermutlich vor allem weil die Gefahraufklärung unverzichtbarer Teil funktionierender Polizeiarbeit ist und sich aus der damit verbundenen nicht grundrechtseingreifenden Tätigkeit bislang nie ernsthafte Probleme ergeben haben.237
Beim ortsbezogenen Predictive Policing ist die Schwelle zum Grundrechtseingriff weder bei der Prognose selbst noch bei den darauffolgenden Maßnahmen zwangsläufig überschritten. Zur Gefahrenaufklärung kann die Polizei in ihrer Aufgabenzuweisung eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, die in niemandes Grundrechte eingreifen, etwa die allgemeine Sachverhaltsaufklärung, die Beschaffung sach- und lagebezogener Informationen sowie die Speicherung dieser in entsprechenden Datenbanken.238 Die meisten ortsbezogenen Systeme arbeiten ausschließlich mit genau diesen sach- und lagebezogenen Informationen, bei PRECOBS gehören dazu etwa neben dem (überwiegend nur ungefähren) Ort des Wohnungseinbruchsdiebstahls auch die sachbezogenen Modalitäten, die für und gegen ein Wiederholungsdelikt sprechen. Zum Eingriff könnte es bei ortsbezogenen Daten aber durchaus kommen. Sie bekommen dann auch einen Personenbezug, wenn sie so detailliert sind, dass sie einen Rückschluss auf die damit verbundenen Personen zulassen.239
b. Bedenken zu möglicher Ungleichbehandlung
Das Gleiche gilt für Maßnahmen, welche als Resultat der Prognose unternommen werden: Insbesondere die Streifenfahrt als in diesem Kontext bislang bedeutendste Intervention hat für sich genommen noch keinen Eingriffscharakter und ist somit bereits durch die Aufgabenzuweisung zulässig.240 Aber auch auf dieser Ebene wurden im Kontext des ortsbezogenen Predictive Policing bereits Bedenken geäußert. So gibt es auch hier schon Befürchtungen systematischer Diskriminierung: Wird eine Gegend aufgrund der Prognosen (denen durch Diskriminierung verzerrte Datenbanken zu Grunde liegen können) häufig bestreift, werden dort auch andere Straftaten entdeckt.241 Dies kann einen sich gegenseitig verstärkenden Effekt zur Folge haben, bei dem das überdurchschnittlich große Hellfeld Anlass für eine noch stärkere Polizeipräsenz wird. Im Extremfall würde die Gegend dann zur sogenannten „No-Go-Area“ erklärt, in der die Bewohner aufgrund ihrer Anschrift erhebliche Probleme bekommen, Arbeit zu finden oder Verträge abzuschließen.
Ein solches Schreckensszenario ist allein wegen der aktuell wieder deutlich abnehmenden Bedeutung des ortsbezogenen Predictive Policing in der unmittelbaren Zukunft nicht zu befürchten. Die Berücksichtigung einer solchen Möglichkeit und das Einleiten von Maßnahmen, um eine solche Entwicklung zu verhindern, ist aber schon auf der Ebene der Streifenplanung politisch und kriminologisch wichtig. Eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit kann daraus jedoch erst erwachsen, wenn bereits die Prognose oder die daraus folgenden Streifenfahrt schon als faktischer bzw. mittelbarer Grundrechtseingriff gilt. Ein Szenario, in dem eine Gegend allein durch polizeiliche Gefahrenaufklärung ohne finale Eingriffsqualität so stark abgewertet wird, dass die Handlungsmöglichkeiten der Bürger dadurch faktisch und mittelbar eingeschränkt werden, ist lebensfremd und wird auch von den schärfsten Kritikern nicht befürchtet. Gegenstand der oben beschriebenen Befürchtungen sind vielmehr eigenständige Eingriffe, die durch Informationen veranlasst werden, welche gewissermaßen als Nebenprodukte der Streifenfahrten gewonnen werden. Bei diesen stellt sich zwar die Frage, ob und wie die Prognose zur Grundlage gehören darf, die Prognose spielt jedoch nicht mehr die zentrale Rolle, wie dies auch in personenbezogenen Systemen der Fall sein kann. Die „selbst auferlegte Gedankenlosigkeit“ bei automatisierten Risikoscores, durch die nach Sommerers Befürchtungen algorithmengestützte Entscheidungen ohne kritisches Hinterfragen faktisch zu fast vollautomatisierten Entscheidungen werden können, findet so in der ortsbezogenen Prognose kein direktes Pendant.242 Ein „Schlafwandeln“ von der verzerrten Prognose in die No-Go-Area ist möglich, die Prognose ist dabei aber nicht unmittelbare Ursache. Dies sind eigenständige Eingriffe, welche durch die Prognose begünstigt werden können.
c. Stigmatisierende Verhaltensprofile
Ferner wird im Kontext möglicher Diskriminierung die Frage aufgeworfen, ob ortsbezogenes Predictive Policing stigmatisierende Verhaltensprofile von an bestimmten Orten befindlichen Personengruppen erstellen bzw. auf ihnen beruhen kann.243 In Anbetracht der Tatsache, dass etwa das nordrhein-westfälische System SKALA auch soziostrukturelle Daten verarbeitet (unter anderem auch den Anteil nichteuropäischer Ausländer in einem Wohnquartier)244 und dabei neben dem Near Repeat-Phänomen auch auf umstrittenere kriminologische Theorien bis hin zu Broken Windows setzt – einem Ansatz, dem vorgeworfen wird, die Diskriminierung prekärer Gruppen zu legitimieren245 – ist das bereits jetzt eine nicht von der Hand zu weisende Gefahr. In den USA ist dieses Szenario bereits Realität: Bei Streifen auf Grundlage des ortsbezogenen PredPol-Systems zur Bekämpfung von Drogenkriminalität in der kalifornischen Stadt Oakland wurden schwarze Personen mehr als doppelt so oft Ziel polizeilicher Maßnahmen wie weiße Personen, obwohl es vermutlich keine signifikante Korrelation zwischen Drogenkonsum und Hautfarbe gibt.246 Zu betonen ist, dass PredPol keine soziostrukturellen Daten nutzt, sondern nur an Tatort, Tatzeit und Art der Tat anknüpft. Dabei ist aber auch zu beachten, dass Drogenkriminalität und Wohnungseinbruchsdiebstahl kriminologisch kaum unterschiedlicher sein könnten: Während die Polizei von Wohnungseinbrüchen hauptsächlich durch Anzeigen erfährt und das Dunkelfeld durch die hohe Anzeigenquote sehr klein ist, gewinnt die Polizei bei den opferlosen Drogendelikten fast nur durch eigenständige Ermittlungen Erkenntnisse über begangene Straftaten. Mit steigendem Dunkelfeld steigt auch das Risiko, dass Datenbanken z. B. durch internalisierte Rassismen verzerrt werden – ein Effekt, der durch die Natur des mit historischen Daten arbeitenden Predictive Policing mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verstärkt wird.
Die Frage, ob auch bei Delikten mit so großem Hellfeld die Entstehung bzw. Nutzung stigmatisierender bis rassistischer Profile möglich ist, ist bislang nicht erforscht nur auf Grundlage empirischer Arbeit zu beantworten; ein solches Unterfangen übersteigt den Rahmen dieser Arbeit. Dass im Rahmen ortsbezogener Prognosen solche Profile durchaus entstehen können, liegt aber insbesondere bei Delikten, in denen das Dunkelfeld das Hellfeld übersteigt, auf der Hand. Es dürfte außer Frage stehen, dass politisch und kriminologisch gegen diese Tendenzen gegengesteuert werden muss. Auch hier stellt sich jedoch die Frage, ob bzw. ab wann hierzu eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit besteht. So ist zunächst zu klären, ob die rein lagebezogene Prognose und die daraus resultierende Streifenfahrt zum verfassungsrechtlichen Problem werden kann, in diesem Kontext primär im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG.
α. Einordnung in Art. 3 GG
Die Debatte um polizeiliche Diskriminierung im Bereich der Gefahraufklärung drehte sich bislang vor allem um das sogenannte „Racial Profiling“, also Polizeikontrollen aufgrund von Merkmalen wie der Hautfarbe der Betroffenen.247 Sie hat in diesem Kontext besondere Bedeutung, da bei Art. 3 Abs. 3 GG im Gegensatz zu den Eingriffen in die allgemeine Handlungsfreiheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kein Gesetzesvorbehalt besteht, eine Rechtfertigung also nur durch kollidierendes Verfassungsrecht möglich ist.248 Aufgrund des starken Menschenwürdebezugs des Merkmals „Rasse“ ist die Rechtfertigung einer Diskriminierung deswegen praktisch kaum vorstellbar.249 Zudem kann auch nach dem allgemeinen Gleichheitssatz eine Ungleichbehandlung nicht durch die bloße Verfolgung eines legitimen Zwecks gerechtfertigt werden, sondern muss an Unterschiede zwischen den Gruppen anknüpfen.250 Da die Bekämpfung von Wohnungseinbruchsdiebstahl und anderer durch ortsbezogenes Predictive Policing zu verhindernder Straftaten keinen Verfassungsrang hat, würde ein Eingriff im Kontext von Art. 3 Abs. 3 GG gleich zur Verfassungswidrigkeit der Praxis führen und wäre auch im Kontext von Art. 3 Abs. 1 GG kaum zu rechtfertigen.251
Die ortsbezogene Prognose knüpft bereits vom Begriff her nicht an die personenbezogenen Merkmale an, das Anknüpfungsverbot ist also nicht direkt verletzt. In Betracht kommt jedoch die Möglichkeit einer mittelbaren Diskriminierung. Zu einer mittelbaren Anknüpfung an die Merkmale des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG kann es vor allem dann kommen, wenn bestimmte Gruppen an bestimmten Wohnorten überrepräsentiert sind.
Ob und wie auch eine mittelbare Diskriminierung von Art. 3 Abs. 3 GG erfasst ist, ist umstritten. In der früheren Rechtsprechung des BVerfG und in Teilen der Literatur wird dies kategorisch abgelehnt und dabei insbesondere auf die Natur der Norm als Anknüpfungsverbot verwiesen.252 In Anlehnung an die disparate impact theory aus den Vereinigten Staaten253 wird inzwischen aber zunehmend dafür plädiert, Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG auch bei mittelbaren Diskriminierungen anzuwenden.254 Dem ist zuzustimmen. Auch wenn der Gedanke des Anknüpfungsverbots dem Verbot mittelbarer Diskriminierung zunächst entgegenzustehen scheint, wäre eine andere Entscheidung schlicht inkonsequent: So wie es unstreitig nicht auf die durch das staatliche Handeln verfolgte Absicht ankommt und die Finalität seit langem nicht mehr relevantes Kriterium für die Annahme einer Ungleichbehandlung ist,255 muss bei den besonderen Gleichheitssätzen wie bei den allgemeinen Gleichheitssätzen auf die Auswirkungen einer Maßnahme in der Realität geachtet werden.256
Die Praxis ist zudem im europäischen und internationalen Recht durchgehend anerkannt: Der EuGH257 und der EGMR258 sehen die mittelbare Diskriminierung von den Gleichheitssätzen der Grundfreiheiten und der EMRK erfasst, im europäischen Sekundärrecht wird umfassend auf sie eingegangen und das Völkerrecht fordert etwa in Art. 1 ICERD und Art. 1 CEDAW Maßnahmen zur Bekämpfung mittelbarer Diskriminierung.259
Aus dem Umstand, dass das BVerfG diese Ausweitung bislang fast nur bei mittelbarer Diskriminierung wegen des Geschlechts angewandt hat, will die Gegenmeinung schlussfolgern, dass unter dieser Annahme nur Diskriminierungen wegen des Geschlechts oder der Behinderung erfasst sein könnten, weil es nur hierfür Anhaltspunkte im Wortlaut der Verfassung gebe.260 Dies bildet zum einen nicht die Rechtsprechung des BVerfG ab, das u.a. auch mittelbare Diskriminierung aufgrund der Sprache – v.a. bei Dolmetscherkosten – nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG für verfassungswidrig erklärt hat.261 Zum anderen gibt der Wortlaut des Art. 3 keinen stärkeren Schutz vor Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht und Behinderung her, mit dem eine sonst nicht zu begründende Schlechterstellung der anderen Merkmale zu rechtfertigen wäre.
β. Anwendung im ortsbezogenen Predictive Policing
Für die Annahme einer verfassungswidrigen Diskriminierung aufgrund der Merkmale Rasse und Herkunft müssen im Kontext des ortsbezogenen Predictive Policing zwei Fragen geklärt werden: Wann nimmt die Prognose und die darauf gestützte Streifenfahrt ein Ausmaß an, dass sie als Ungleichbehandlung zu werten ist – und wann ist eine Gegend so stark durch die Herkunft bzw. ethnische Zugehörigkeit ihrer Bewohner geprägt, dass eine mittelbare Diskriminierung deswegen angenommen werden kann?
Nach der „neuen Formel“ des BVerfG wird Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten.262 Evident ist hier das Problem, dass sowohl die Prognose als auch die Streifenfahrt für sich keine Adressaten haben und auch nicht auf Befugnisnormen, sondern bloß auf Aufgabenzuweisungsnormen beruhen. Nach diesem Maßstab können Prognose und Streifenfahrt also schon begrifflich keine Ungleichbehandlung darstellen. Auch aus dem Willkürverbot abgeleitete Pflichten des Staates – insbesondere die Pflicht zur gleichheitskonformen Ermessensausübung263 – knüpfen primär an Maßnahmen der Eingriffsverwaltung an und haben insbesondere für die Selbstbindung der Verwaltung Relevanz.
Losgelöst von dem Fokus der deutschen Systeme auf den Wohnungseinbruchsdiebstahl und mit Blick auf die amerikanische Praxis, welche über ortsbezogene Prognosen auch Streifen zu Drogendelikten umfasst, muss zunächst geklärt werden, auf welchen Ebenen es einen Verstoß gegen Art. 3 GG und die damit verbundenen Grundsätze darstellen würde, wenn bestimmte Delikte nur noch selektiv geahndet würden. Die Pflicht zur gleichheitskonformen Ermessensausübung verbietet Behörden, ihr Ermessen ohne erkennbaren Grund unterschiedlich, systemwidrig oder planlos auszuüben.264 Soweit sich die Behörden auf Einzelfälle beschränken, müssen sie dies begründen.
Wie weit für die Gefahrenaufklärung unterhalb der Eingriffsschwelle die Grundsätze des pflichtgemäßen Ermessens gelten, wird innerhalb der Rechtswissenschaft kaum erörtert. Zwar gibt es in allen Polizeigesetzen neben den Standardmaßnahmen, welche in der Regel ein auf Ermessen deutendes Wort wie „kann“ enthalten, Vorschriften wie § 5 Abs. 1 NPOG, nach dem die Polizei ihre Maßnahmen immer nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen hat. Dieser Formulierung wird jedoch teilweise ein eigenständiger normativer Gehalt abgesprochen.265 Für den konkreten Fall hängt das auch damit zusammen, dass nicht eindeutig ist, ob die hier behandelten Tätigkeiten als Maßnahmen im Rechtssinne zu qualifizieren sind.
Der Begriff der Maßnahme kommt aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht und ist polizeirechtlich ausschließlich im niedersächsischen Polizei- und Ordnungsrecht legaldefiniert. Nach § 2 Nr. 7 NPOG sind Maßnahmen Verordnungen, Verwaltungsakte und andere Eingriffe. Tätigkeiten unterhalb der Eingriffsschwelle sind somit vom Begriff her keine Maßnahmen im Sinne des NPOG. Andere Polizeigesetze gehen implizit von einem weiteren Maßnahmenbegriff aus: § 1 Abs. 5 PolG NRW und § 1 Abs. 5 BbgPolG sprechen wortgleich davon, dass die Polizei Maßnahmen, die in Rechte einer Person eingreifen, nur treffen darf, wenn dies aufgrund dieses Gesetzes oder anderer Rechtsvorschriften zulässig ist. Sie gehen sprachlich davon aus, dass es auch Maßnahmen geben kann, welche nicht in die Rechte von Personen eingreifen – dieser Maßnahmenbegriff muss somit auch Tätigkeiten unterhalb der Eingriffsschwelle erfassen. Dass diesem Bereich bislang kaum praktische Relevanz zukam, zeigt sich auch daran, dass der Begriff in der polizeirechtlichen Kommentarliteratur oft nicht oder eher unscharf definiert ist und eine einheitliche Definition oder zumindest eine gewisse Systematisierung nicht vorhanden ist. Überwiegend wird dabei das Erfordernis eines Eingriffs verlangt.266 Teilweise werden aber auch darunter alle Handlungen, mit denen die Polizei nach außen in Erscheinung tritt, verstanden, wodurch die Streifenfahrt eindeutig als Maßnahme zu qualifizieren wäre.267 Diese Definition findet sich bemerkenswerterweise in einem Kommentar zum NPOG und schließt an die (auch zu Zeiten des NSOG bereits) unzutreffende Feststellung an, dass der Begriff der Maßnahme im NPOG nicht definiert sei.
Im allgemeinen Verwaltungsrecht ist der Begriff der Maßnahme hingegen recht klar definiert – insbesondere dank seiner zentralen Rolle in § 35 VwVfG, wo der Verwaltungsakt als jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme definiert wird. Das Merkmal wird dabei im Grundsatz zwar als eher unscharfer Oberbegriff verstanden. Einigkeit besteht trotzdem darin, dass Gegenstand der Maßnahme immer ein Handeln mit Erklärungswert ist, also eine behördliche Willenserklärung abgegeben wird.268 Als solche müssen sie immer auf einen rechtlichen Erfolg gerichtet sein. Prognosen und Streifenfahrten sind jedoch nur Realakte, bei denen ein Regelungswille fehlt und die nur auf einen tatsächlichen Erfolg wie eine verbesserte Lageeinschätzung und das Ausbleiben von Straftaten gerichtet sind. Für letzteres Ziel ist die Streifenfahrt als Mittel zu unkonkret, als dass von einer Regelung gesprochen werden könnte, die auf das Unterlassen von Straftaten durch potentielle Täter gerichtet wäre – insbesondere liegt hier definitiv kein Erklärungsgehalt vor. Sie stellen somit keine Maßnahmen im verwaltungsrechtlichen Sinne dar, weswegen für sie die Vorschriften zum Ermessen nicht gelten und sie über diese Ebene nicht an Art. 3 GG gebunden sind.
Details
- Pages
- 254
- Publication Year
- 2025
- ISBN (PDF)
- 9783631929872
- ISBN (ePUB)
- 9783631929889
- ISBN (Softcover)
- 9783631929858
- DOI
- 10.3726/b22537
- Language
- German
- Publication date
- 2025 (April)
- Keywords
- Künstliche Intelligenz Predictive Policing Polizei Verfassungsrecht
- Published
- Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2025. 254 S.
- Product Safety
- Peter Lang Group AG