Summary
Excerpt
Table Of Contents
- Umschlag
- Schmutztitel
- Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft e.V.
- Titelseite
- Copyright-Seite
- Inhalt
- Serienseite
- Einleitung
- „In vertrauliche freundschafft gekommen“ – Johann Jacob Schütz und Christian Knorr von Rosenroth
- Die Kabbala denudata bei Thomas Burnet (1635–1715)
- Die Christologie der Kabbalisten in der Kabbala denudata und ihr Einfluss auf Henry More, George Keith und Anne Conway
- Der kabbalistische Einfluss auf den „pietistischen“ Millenarismus und besonders auf Petersens Idee
- Kabbala als Diskursraum in Sulzbach und in der pietistischen Mission in Halle
- Kabbalistische Kreuzestheologie im württembergischen Frühpietismus. Die Bad Teinacher Lerntafel der Prinzessin Antonia
- Konstitutive Grenzziehungen oder „wahre Kabbala“. Johann Franz Buddes (1667–1729) Verteidigung der „Alten hebräischen Philosophie“
- Theosophisch-alchemischer Wissensaustausch um 1700. Verbindungslinien zwischen dem Halleschen Waisenhaus, Friedrich Breckling in den Niederlanden und dem Sulzbacher Hof
- Die Lieder Knorr von Rosenroths Neuem Helicon in pietistischer Rezeption (1692 bis 1735)
- „Hiobs Kreuz schmeckt besser“? Oetingers kabbalistische Theosophie
- Adressen der Autoren
Morgen-Glantz
Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft
35 (2025)
Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft e.V.
Vorstand:
Prof. Dr. Bernhard Jahn (Hamburg): Präsident
1. Bürgermeister Stefan Frank (Sulzbach-Rosenberg): Vizepräsident
Markus Hofmann (Sulzbach-Rosenberg): Schatzmeister
Markus Brandl (Sulzbach-Rosenberg): Schriftführer
Prof. Dr. Laura Balbiani (Mailand, Italien)
Altbürgermeister Gerd Geismann (Sulzbach-Rosenberg)
Jun.-Prof. Dr. Joana van de Löcht (Münster)
Prof. Dr. Gerold Necker (Halle a. d. Saale)
Prof. Dr. Ernst Rohmer (Erlangen)
Prof. Dr. Rosmarie Zeller (Basel, Schweiz)
Editorial Board:
Prof. Dr. Bernhard Jahn (Hamburg)
Prof. Dr. Gerold Necker (Halle a. d. Saale)
Prof. Dr. Ernst Rohmer (Erlangen)
Prof. Dr. Rosmarie Zeller (Basel, Schweiz)
Inhalt
Akten der 33. Tagung
Friedemann Stengel / Gerold Necker / Rosmarie Zeller
Andreas Deppermann
„In vertrauliche freundschafft gekommen“ – Johann Jacob Schütz und Christian Knorr von Rosenroth
Gerold Necker
Lusdemar Jacquez Rivera
Elisa Bellucci
Der kabbalistische Einfluss auf den „pietistischen“ Millenarismus und besonders auf Petersens Idee
Elke Morlok
Kabbala als Diskursraum in Sulzbach und in der pietistischen Mission in Halle
Matthias Morgenstern
Nora Blume
Claudia Weiss
Irmgard Scheitler / Rosmarie Zeller
Die Lieder Knorr von Rosenroths Neuem Helicon in pietistischer Rezeption (1692 bis 1735)
Friedemann Stengel
„Hiobs Kreuz schmeckt besser“? Oetingers kabbalistische Theosophie
Christian Knorr von Rosenroth und der Pietismus
Akten der 33. Tagung der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft
herausgegeben von
Friedemann Stengel, Gerold Necker und Rosmarie Zeller
Friedemann Stengel / Gerold Necker / Rosmarie Zeller
Einleitung
Das Thema der Jahrestagung der Christian-Knorr-von-Rosenroth-Gesellschaft, die vom 4.-6. Juli 2024 in Sulzbach gemeinsam mit dem Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung und Gerold Necker vom Institut für Judaistik/Jüdische Studien der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg veranstaltet worden ist, scheint auf den ersten Blick einem illustren Randphänomen gewidmet zu sein: „Christian Knorr von Rosenroth und der Pietismus“. Das ist tatsächlich erklärungsbedürftig, und zwar nicht nur für diejenigen, denen die christliche Kabbala des Barock wenig oder unbekanntes Land ist, sondern auch für diejenigen, die sich mit diesem Feld schon beschäftigt haben.
Da ist zunächst eine ganz ungewöhnliche Interdisziplinarität. Sie steht für die Vielseitigkeit und Weltläufigkeit des Hofrats Christian Knorr von Rosenroth und des ebenfalls am Hof von Sulzbach tätigen Franciscus Mercurius van Helmont.1 Bei der Tagung waren Musikwissenschaft, Germanistische Literaturwissenschaft, Judaistik, Geschichtswissenschaft, Pharmazie und Theologie mit Referaten zu den verschiedenen Wirkfeldern Knorrs von Rosenroth und des jüngeren van Helmont vertreten. Am bekanntesten ist wohl Knorrs zweibändige Ausgabe kabbalistischer Schriften, die Kabbala denudata. Mit dem Projekt einer christlichen Kabbala war er nicht der erste. Die Anfänge reichen nach Florenz zu Giovanni Pico della Mirandola ans Ende des 15. Jahrhunderts. Mit der Lehrtafel der Prinzessin Antonia in Bad Teinach betrachtet Matthias Morgenstern ein bekanntes Beispiel aus Knorrs Zeit. Doch war Knorr mit seinem philologischem Ansatz und der Breite der vermittelten Schriften einer der wichtigsten Vertreter des Projektes einer christlichen Kabbala im 17. Jahrhundert, eines Phänomens, das über ein bloßes Interesse an jüdischer Theologie und an deren Verbindung zu christlichen Entwürfen hinausreichte und einen ganz besonderen, nur wenig im öffentlichen Bewusstsein vorhandenen Kulturtransfer darstellt. Dieses Phänomen reichte über das lange 18. Jahrhundert hinaus, über Eliphas Levi als Begründer des modernen Okkultismus bis zu Carl Gustav Jungs Tiefenpsychologie und in die moderne Esoterik, in die Literatur und allgemeine Kulturgeschichte.2 Nicht nur Knorrs Übersetzung kabbalistischer Schriften, sondern auch seine Deutung der Offenbarung Johannis fand breites Interesse bei Gelehrten wie Henry More von den Cambridge Platonists, aus deren Umfeld auch Isaac Newton kam, bei Anne Conway oder Gottfried Wilhelm Leibniz. Sie haben sich mit Knorrs Schriften theologisch, philosophisch, naturphilosophisch und alchemistisch auseinandergesetzt.
Wenn auch die Forschung in den Jahren seit der Gründung der Christian-Knorr von Rosenroth-Gesellschaft zahlreiche Ergebnisse in einigen der genannten Disziplinen hervorgebracht hat, so ist ein Aspekt bisher doch unterbelichtet geblieben: die Rezeption seiner Werke im sogenannten Pietismus. Zwar hat schon Andreas Deppermann auf die wichtige Beziehung des Frankfurters Johann Jakob Schütz und Philipp Jakob Speners weiterem Umfeld zum Sulzbacher Hof und insbesondere zu Knorr von Rosenroth und Helmont hingewiesen.3 Auch fiel auf, dass Knorrs geistliche Lieder aus dem Helicon vor allem in pietistische Liederbücher eingegangen sind. Zudem hat August Hermann Francke die Harmonia Evangeliorum, die 1672 ein erstes Mal erschienen ist, 1699 erneut publiziert mit den Zusätzen, die 1674 wegblieben, weil befürchtet wurde, dass sie bei den Theologen Anstoß erregen könnten.4 Darüber hinaus ist weiteren Forschungen im sogenannten Pietismus kaum nachgegangen worden – „sogenannten“, weil der sehr vielschichtig verwendete Begriff seit einiger Zeit ins Schlingern geraten ist. Im 17. und 18. Jahrhundert wird der Name „Pietisten“ überwiegend als Spott- und Schimpfname und nur selten überhaupt als ein Selbstanspruch verwendet. Meistens werden damit herabwürdigend „Frömmler“ oder Frömmigkeit Heuchelnde gemeint, denen zugeschrieben wird, sich für bessere Christen als andere zu halten. Erst im Laufe des 19. Jahrhundert wurde „Pietismus“ als Bezeichnung für eine Reform- und Frömmigkeitsbewegung seit dem 17. Jahrhundert von Kirchenhistorikern erfunden und an den Universitäten etabliert. Das galt vor allem im Bereich der Geschichtsschreibung. Und es wurden eine ganze Reihe von Strömungen darunter gezählt, denen man gemeinsame Merkmale zuschrieb: der Württemberger Pietismus, den man bis heute so bezeichnet, die Herrnhuter Brüdergemeine, die erste erlaubte Freikirche auf deutschem Territorium, der Pietismus der Franckeschen Stiftungen in Halle als ein pädagogisches Projekt mit seiner besonderen Affinität zum preußischen Staat, sogenannte radikale Pietismen, und manchmal auch englische und niederländische Strömungen. Zweifel an der Jahrhunderte übergreifenden Reichweite und an der Überzeugungskraft von Pietismus mehren sich seit einigen Jahren aus verschiedenen ernst zu nehmenden Gründen, unter anderem, weil keiner der später so genannten Pietisten im 17. und 18. Jahrhundert sich selbst so bezeichnete und einige es sich strikt verbaten, so genannt zu werden.5 Im Halle des 18. Jahrhunderts waren bis fast ganz zum Schluss positive Bezugnahmen auf Pietismus ein „No Go“, wie jüngst eindrücklich dargelegt worden ist.6 Dazu kommt, dass sich die im 19. Jahrhundert von Historikern zwangsvereinigten Pietismen teilweise gegenseitig ablehnten, sich teils bekämpften, aber dazu auch noch gegensätzliche theologisch-kirchliche Positionen vertraten. Und die Haltung der verschiedenen Pietismen gegenüber den Staatskirchen, den landesherrlichen Kirchenregimenten, bewegte sich zwischen Staats(kirchen)kritik, Separation, Affirmation und Staatsreligion. Auch im 19. und 20. Jahrhundert wollten sehr viele Vertreterinnen und Vertreter der sogenannten Erweckungsbewegung keinesfalls Teil des Pietismus sein.7 Hier ist noch einiges zu tun in den nächsten Jahren.
Im Zusammenhang mit unserem Thema ist auffällig, dass gerade im 19. Jahrhundert, als der Pietismus als Epoche und Kategorie erfunden wurde, viele Historiker versuchten, irgendwie mystisch, kabbalistisch, hermetisch, theosophisch, alchemistisch erscheinende Strömungen, Gruppen und Personen, also alles, was irgendwie superstitiös, anrüchig oder pseudowissenschaftlich erschien, aus dem Pietismus auszuklammern, wegzulassen, zu marginalisieren und ungeschehen zu machen – oder in eine Strömung zu verbannen, die man entweder als mystisch-spiritualistisch oder später radikal-pietistisch bezeichnete und die man entweder als eine unkirchliche oder antikirchliche Abart des Pietismus oder, je nach Sympathie, als deren eigentlichen Kern betrachtete. Auch Knorr von Rosenroth und die christliche Kabbala fielen lange Zeit unter dieses Verdikt. Noch in jüngeren Darstellungen zum Pietismus werden er und Helmont kaum oder nur am Rande erwähnt, obwohl ihre europaweiten Kontakte und Rezeptionen in religiös dissidenten Kreisen unübersehbar waren und ihre Bedeutung auf der Hand lag.
Nun waren Knorr und Helmont nicht die einzigen, die von dieser Ausschließungsprozedur betroffen waren. Auch der Begründer der christlichen Theosophie Jakob Böhme,8 die Alchemie als solche, der christliche Hermetismus gehörten dazu. Einer der berühmtesten Theosophen des 18. Jahrhunderts, der Württemberger Friedrich Christoph Oetinger, hatte zu Lebzeiten eine Selbstbiographie verfasst, die vielfach schon seit dem 18. Jahrhundert wieder aufgelegt worden ist. Oetinger hatte darin zahlreiche kabbalistische, hermetische, theosophische, alchemistische Autoren und Bücher und daneben eine ganze Reihe von jüdischen Gelehrten genannt, die ihn maßgeblich schon als Student geprägt hatten (Beitrag Friedemann Stengel). Erstmals vor 14 Jahren sind diese Erwähnungen in zwei vollständigen Editionen vorhanden, in den Auflagen vorher waren viele Passagen schlichtweg getilgt worden. Kein Einzelfall.
In den letzten ungefähr 25 Jahren hat sich in Europa eine wissenschaftliche Esoterikforschung etabliert. Sie widmet sich den in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung und eben auch in der Pietismusforschung einst marginalisierten Strömungen wie Kabbala, Hermetismus, Theosophie, Freimaurertum, Alchemie, Astrologie, Naturmagie etc. und sie spürt den vielfältigen Verflechtungen dieser Literaturen und Praktiken in der Theologie, Philosophie und Medizin, in Logen, Gesellschaften und Laboren nach. Der Begriff Esoterik ist als Bezeichnung für diese Strömungen von solchen Forschern vorgeschlagen worden, die sich selbst als Esoteriker verstanden und Interesse daran hatten, die Esoterik, manche sagen auch Hermetik, als eine eigene Religionsform an den Universitäten zu etablieren, einige von ihnen gehörten dem sogenannten Eranos-Kreis an, darunter Henry Corbin, Mircea Eliade, Ernst Benz, zuletzt Antoine Faivre und Jan Assmann. Eine von der DFG geförderte Forschergruppe „Die Aufklärung im Bezugsfeld neuzeitlicher Esoterik“ wurde in Halle eingerichtet.9 Aber der Begriff der Esoterik ist im Ergebnis der Forschergruppenarbeit als akzeptable Bezeichnung für die genannten religiös devianten Strömungen im Grunde zurückgewiesen worden und wird in der Regel auch nicht mehr verwendet.10 Allerdings ersetzt im englischsprachigen Wissenschaftsdiskurs die Verwendung von „esoterical“ inzwischen „mystical“ oder wird zumindest als zusätzliche Definition angeboten. Hintergrund ist die von Boaz Huss formulierte Kritik, dass „Mystik“ nicht als analytische Kategorie eingesetzt werden könne und grundsätzlich kein übergeordneter Maßstab gegeben sei, um Phänomene wie die spätantike Hekhalot-Literatur, die Schriften der mittelalterlichen Frommen in Ashkenaz, die verschiedenen kabbalistischen Schulen oder den neuzeitlichen Chassidismus in Osteuropa miteinander zu vergleichen. Gershom Scholem, der sich deutlich von esoterischen Positionen distanzierte – sein Hauptvorwurf galt dem „Dilettantismus“ dieser Kreise – hatte versucht, den Begriff „Theosophie“ zur Charakterisierung der „jüdischen Mystik“ zu restituieren.11 Damit wollte er insbesondere Jakob Böhme in die Reihen derjenigen aufnehmen, die eine „ ‚geheime‘ Dimension der Sprache“ erkannten.12 Diese begriffliche Neubelebung, mit der Scholem die seiner Meinung nach irreführende Requirierung etwa durch Madame Blavatskys „Theosophische Gesellschaft“ korrigieren wollte, blieb jedoch singulär. Folgenreicher war Scholems Bewertung der Christlichen Kabbala, die er mit einem ihrer frühen wichtigen Vertreter, Johannes Reuchlin, mit dem Beginn der wissenschaftlichen Erforschung der jüdischen Kabbala zusammenführte. In der Tat zeigt sich die Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit durchaus ambivalent in der Wahrnehmung und Bewertung der jüdischen Kabbala. Hier werden auch entscheidende Weichenstellungen vorgenommen, zum einen der noch lange andauernde Versuch, christliche Historiographie und Geschichtsphilosophie als Ersatz oder Metamorphose der in der Renaissance geprägten Vorstellung einer Philosophia perennis zu etablieren, zum anderen die gerade auch unter jüdischen Gelehrten einsetzende kritische Relativierung und Einordnung der Kabbala (insbesondere des mittelalterlichen Hauptwerks, Sefer ha-Zohar, das „Buch des Glanzes“) als historisches Phänomen, was bis ins beginnende 20. Jahrhundert hinein meist unter pejorativen Vorzeichen geschah.
In diesem Sinn sollte Esoterik erst für Entwicklungen ab dem 19. Jahrhundert angewendet werden, im Umfeld des sogenannten wissenschaftlichen Okkultismus, wo auch eine eigene esoterische und dezidiert nichtchristliche Tradition begründet worden ist. Für Kabbala, Hermetismus, Theosophie, Paracelsismus, Alchemie etc. kann der Begriff Esoterik für die Frühe Neuzeit nicht geltend gemacht werden. Doch auch der Begriff des „mystischen Spiritualismus“ ist genealogisch in den Kontext seiner Entstehung einzuordnen und kritisch zu betrachten. Er ist Ende des 19. Jahrhunderts begründet und vor allem durch Ernst Troeltsch ebenfalls als Sammelbegriff unter anderem für die genannten, von Troeltsch als progressiv und liberal bewerteten Strömungen seit der Reformationszeit verwendet worden. Diese Konstruktionsleistung ist aber von dem im 19. Jahrhundert zeitgenössischen und verbreiteten Spiritismus oder auch Spiritualismus nicht abzutrennen und muss selbst historisiert werden.13 Doch während die ideengeschichtliche Kategorie „mystischer Spiritualismus“ nach wie vor mit großer Selbstverständlichkeit verwendet wird,14 sorgte die vorübergehende Proklamierung von Esoterik als Sammelbegriff für diese Strömungen für einige Aufregung auch in der Pietismusforschung. Offenbar wurde befürchtet, dass der ganze Pietismus mit seinen unübersehbaren kabbalistischen, theosophischen und hermetischen Einflüssen in die Nähe zur Esoterik, der „Pseudowissenschaft“, der Superstition gerückt würde, wo doch der Pietismus – wenn auch in einem ambivalent beurteilten Verhältnis – als Geschwister der Aufklärung doch Wegbereiterin der Moderne sein sollte.15
Eine kritische Historiographie wird die vorhandenen Narrative hinterfragen, eine genealogische Herangehensweise wird den Blick auf die Entstehungsorte leitender Kategorien wie Pietismus ins Visier nehmen und von dort aus die Ko- und Kontexte der Quellen befragen. Wichtige Arbeiten über den Hermetismus, über Alchemiegeschichte, über die christliche Kabbala und die Theosophie sind inzwischen entstanden und man kann der Esoterikforschung dafür dankbar sei, die Blickrichtung auf die bisher bagatellisierten, marginalisierten oder ignorierten Kontexte gelenkt zu haben.
Die Beziehungen zwischen dem Sulzbacher Hof und dem Pietismus beruhten teilweise auf persönlichen Begegnungen mit dessen Vertretern in Frankfurt, wobei der Beitrag von Franciscus Mercurius van Helmont, der sich selbst als Eremita peregninans bezeichnete,16 kaum überschätzt werden kann (Beiträge von Elke Morlok, Lusdemar Jacquez Rivera). Er, der unermüdlich herumreiste, transportierte Briefe und Manuskripte und stellte auf diese Weise Beziehungen zwischen den verschiedensten Gelehrten her.
Einer der wenigen, der die Bedeutung von Sulzbach, allerdings im Rahmen seines aus der älteren teleologischen Geschichtstheologie stammenden linearen Modells, vermutete, war Johannes Wallmann, der 1986 darauf hinwies, dass Sulzbach „als eines der Zentren jener von paracelsistischen und kabbalistischen erfüllten Pansophie zu gelten“ habe, „die als eine mächtige geistige Unterströmung den Boden des konfessionellorthodoxen Zeitalters und seiner aristotelischen Schulphilosophie unterspült und damit dem Pietismus vorgearbeitet hat.“17 Auch wenn die hier zugrunde gelegte Geschichtstheologie aus heutiger Perspektive hinterfragt werden muss, so hat Wallmanns Blick auf Sulzbach doch bedeutende Früchte getragen. Denn in der Folge legte Andreas Deppermann seine Studie über die Beziehung von Knorr und Helmont zum Frankfurter Kreis um den Juristen Johann Jakob Schütz vor (Beitrag Deppermann). Schütz spielte eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Evangelienharmonie, er versuchte Knorrs Apokalypsedeutung zu verkaufen und gewann den Frankfurter Verleger Zunner dafür, die Kabbala denudata in Kommission zu nehmen.18 Schütz fragte nach, ob Knorr den Zohar, nach dem Henry More ein „großes Verlangen“ habe, übersetzen wolle.19 Der Frankfurter religiöse Untergrund, in dem Schütz eine zentrale Rolle spielte, zählte zu den entscheidenden Wurzeln der sogenannten pietistischen Bewegung. Deppermann konnte eindrücklich zeigen, dass neben dem sonst als Vater des Pietismus betrachteten Philipp Jakob Spener vor allem Schütz mit seinen auch von Knorr stammenden Einflüssen eine der entscheidenden Schlüssel- und Schaltstellen eben dieses Untergrunds waren.20 Es stellt sich die Frage, inwieweit Speners Reformprogramm, das bis heute vielen als Auftakt des Pietismus gilt, bei genauerer Betrachtung aus dem Ziel bestand, religiös deviante, staatskirchenkritische, kabbalistisch und theosophisch beeinflusste Gruppen und Personen in der Kirche zu halten, sie in die Kirche zurückzuführen – und auch ihre Reformimpulse zu verkirchlichen. Man könnte von einem Programm der kirchlichen Nostrifikation sprechen. Denn zentraler Bestandteil der Spenerschen Reform war die Zulassung und Installierung von sogenannten Konventikeln, Zusammenkünften von Laienchristen in Privathäusern, als einer Gemeindebasisbewegung.21 In Frankfurt waren diese Gruppen um Schütz und andere in Konflikte mit der Kircheninstitution geraten, sie hatten sich distanziert und waren dann in gewisser Weise ausgewandert, das hieß im konfessionellen Zeitalter: sie waren den Gottesdiensten und den Sakramenten ferngeblieben, sie hatten den herrschenden Klerus, die verbindlichen Bekenntnistexte und die Verbindung von Staat und Kirche kritisiert. Und einige waren Ende des 17. Jahrhunderts in der Tat ausgewandert, nach Nordamerika, wo sie mit Germantown eine Siedlung gründeten, die heute zu Philadelphia gehört.22 Wichtige Anregungen hatten die Frankfurter über Knorr aus kabbalistischen Quellen erhalten, und sie wurden mit bemerkenswerten anderen Einflüssen kombiniert, mit der Theosophie Jakob Böhmes, mit den niederländischen sogenannten Labadisten und mit den Quäkern um William Penn, dem Namensgeber von Pennsylvania, der ebenfalls mit den Frankfurtern verbunden gewesen ist, Autoren, die alle auch in Sulzbach eine Rolle spielten und deren Schriften in der Sulzbacher Bibliothek vorhanden waren.23
In diesen Kirchen-Gruppen-Konflikten, die es bald auch in anderen Ländern und Städten gab, fiel „Pietisten“ als Schimpfwort oder als Spottname, jedenfalls allermeist zur Diskreditierung oder Ridikülisierung.24 1694 erließ der württembergische Herzog ein „Edikt zur Pietisterey“, das manche der in diesen Gruppen vertretene Themen duldete.25 Aber auch hier gerierte „Pietisterey“ als ein partiell zwar zu duldendes, aber dennoch als ein ‚Unwesen‘. Und in denselben Jahren traten landeskirchentreue lutherische Apologeten auf, die das Unwesen der „Pietisterey“ als eine Quasi-Sekte mit altägyptisch-heidnischem oder jüdischem, aber bestimmt häretischem Ursprung konstruierten. Der Greifswalder Professor Ehregott Daniel Colberg schrieb 1690 ein Platonisch-Hermetisches Christenthum: Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten, Weigelianer, Rosencreutzer, Quäcker, Böhmisten, Wiedertäuffer, Bourignisten, Labadisten und Quietisten. Und ein paar Jahre später (1699 f.) schuf der stark von Jakob Böhmes Theosophie geprägte, damals Quedlinburger, Theologe Gottfried Arnold die Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie, eine der berühmtesten Geschichtswerke der Frühen Neuzeit, das von der Urchristenheit bis zum Jahr 1688 reichte und eine gewaltige Verteidigung des angegriffenen angeblich häretischen Christentums war, als eine gewaltige Verteidigungsschrift gegen die Angriffe Colbergs und anderer.26
Als konkretes Beispiel für dieses unter Heterodoxieverdacht gestellte und von Arnold verteidigte Christentum kann Knorr selbst gelten, über den sein Studienkollege Hermann Rose schrieb:
Es ist ganz unbeschreiblich, mit welcher Leidenschaft mein ehemaliger Studienkollege Christian Knorr von Rosenroth die Präexistenz der Seelen verteidigte, als ich in Sulzbach seine uneingeschränkte Gastfreundschaft genoß. Überdies hat mich auch in vielen anderen Fragen öfters geärgert, daß er den Juden, den Calvinisten, dem Grotius, den Nestorianern – und wem nicht allem? – nachläuft. Ausnehmen kann man bloß den päpstlichen Götzendienst, dem er wirklich niemals etwas abgewinnen konnte. […] Als Autor oder jedenfalls als Bearbeiter der bekannten Evanglienharmonie in deutscher Sprache, erschienen 1672 in Frankfurt am Main, wie auch des Büchleins Gründliche Erklärung über die Offenbahrung Iohannis wird dieser Mann allein in Frage kommen. Im ersten Buch findet sich – um von den anderen Irrlehren gar nicht zu reden – jenes Gift von höchst zerstörerischer Wirkung, das sich später großteils von hier aus verbreitet hat; im zweiten Werk dagegen kann man die Irrlehre der Chiliasten deutlich genug fortgeführt sehen. Außerdem hat er viele Zusätze und auch Verbesserungen der erwähnten Evangelienharmonie im Kopf, die, wie ich feststellen konnte, denselben Irrglauben nur noch weiter verdichten und bestärken.27
Da es Debatten über Pietismus gibt, kann der Begriff nicht einfach weggelassen werden, sondern es wird darum gehen genau zu bestimmen, in welcher Hinsicht er gebraucht wird, ob als Diskurs, als Epoche in einem historiographischen Sinn und meist als Bestandteil oder Entwicklungsstufe einer teleologischen Geschichtsnarrative, als Normativ oder auch alltagssprachlich.
Man kann aber zusammenfassen, dass es in den ambivalenten Debatten um Pietismus um bestimmte Fragestellungen ging, die auf ganz unterschiedliche Weise beantwortet wurden: was ist wahres Christentum? Wo hat es seine Wurzeln? Wie steht es zu Herrschaft und Staat? Braucht es Pfarrer oder Priester? Sakramente? Wie steht man zu den nichtchristlichen Formen der Gottesverehrung? Haben auch sie Weisheit, vielleicht sogar Recht? Muss man sie missionieren oder macht das Gott selbst? Auch Juden? Weht der Heilige Geist nur in Kirchenmauern? Nur in der Heiligen Schrift? In welcher? Oder auch in der Natur? In der Seele? In der Geschichte?
Die Beiträge des vorliegenden Bandes bringen diese Fragestellungen in direkte Verbindung mit dem Wirken von Christian Knorr von Rosenroth und Franciscus Mercurius van Helmont. Die Vorträge befassen sich mit der Entstehung der Kabbala denudata (Lusdemar Jacquez Rivera) ebenso wie mit ihrer Rolle für die Judenmission in Halle (Elke Morlok) und ihrer weiteren Rezeption im 18. Jahrhundert (Nora Blume, Gerold Necker, Friedemann Stengel), mit chiliastischen Vorstellungen (Elisa Bellucci) und der Rezeption des Neuen Helicon in den Gesangbüchern des Pietismus (Irmgard Scheitler und Rosmarie Zeller), der barocken Visualisierung auf dem Altarbild in Bad Teinach (Matthias Morgenstern) und alchemistischen Aspekten (Claudia Weiß). Im Prisma dieser Bestandsaufnahme zeigen sich die vielfältigen und, aus heutiger Perspektive: interdisziplinären Verbindungen und Verschränkungen zwischen Christian Knorr von Rosenroth und den religiösen Bewegungen des langen 18. Jahrhunderts, zu denen auch der späterhin sogenannte Pietismus gehörte – und darüber hinaus.
Die Veranstalter der Tagung danken der Fritz Thyssen Stiftung für die finanzielle Unterstützung, außerdem der Stadt Sulzbach-Rosenberg für die Gastfreundschaft und der Christian-Knorr-von-Rosenroth-Gesellschaft für die organisatorische Begleitung – es war dies die letzte Tagung, in der Rosmarie Zeller als langjährige Präsidentin und Herausgeberin der Zeitschrift Morgen-Glantz durch ihre Kooperation mit Friedemann Stengel, dem Geschäftsführenden Direktor des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, noch einmal neue Perspektiven für künftige Forschungen eröffnet hat. Für den Satz dieses Heftes zeichnet dankenswerterweise Ernst Rohmer verantwortlich, da auch der Stadtarchivar Johannes Hartmann in den Ruhestand verabschiedet worden ist. Ihm ist auch für die Betreuung des Konzertabends als Auftakt zur Tagung zu danken. Im musikalischen Rahmenprogramm, moderiert von Wolfgang Hirschmann und gestaltet von Anna Moritz (Sopran) und Martin Steuber (Laute), wurden unter dem Motto „Gemüther auf / hinauff zur Sonnen“ Lieder aus Christian Knorr von Rosenroths Neuem Helicon mit seinen Neun Musen (1684) präsentiert.
Details
- Pages
- 326
- Publication Year
- 2025
- ISBN (PDF)
- 9783034360906
- ISBN (ePUB)
- 9783034360913
- ISBN (Softcover)
- 9783034360425
- DOI
- 10.3726/b23094
- Language
- German
- Publication date
- 2025 (July)
- Keywords
- Philosophia perennis Kabbala Kabbala denudata Tiefenpsychologie moderne Esoterik Pietismus
- Published
- Lausanne, Berlin, Bruxelles, Chennai, New York, Oxford, 2025. 326 S., 6 s/w Abb., 1 Tab.
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