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Emanzipatorische Aufbrüche: Ehe-Romane von deutschen und malischen Autorinnen

von Issa Diabaté (Autor:in)
©2021 Dissertation 254 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch untersucht die Ehedarstellung in deutscher Literatur der Jahrhundertwende und malischer Literatur von Frauen. Anhand eines gesellschaftstheoretischen Ansatzes und der literarischen Subversions- und Reflexionsmöglichkeiten nimmt der Band im interkulturell geschärften Vergleich eine sozialgeschichtliche und diskurskritische Analyse vor. Es wird der Frage nachgegangen, in welchem Maß die ausgewählten Romane als emanzipatorische Werke verstanden werden können und inwiefern die Autorinnen auf die soziokulturellen Bedingungen der Frau verweisen, um die Unterdrückungsmechanismen der männlichen Herrschaft zu entlarven.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • Einleitung
  • I. Theoretische Grundlagen
  • 1.1 Forschungsstand
  • 1.2 Zur Methode
  • 1.3 Fragwürdigkeit des Begriffs „Feminismus“: Von seiner Ablehnung bis zu Ersatzbegriffen als Prägung eines schwarzen Feminismus
  • II. Die Vergleichstexte in ihrem epochengeschichtlichen Kontext
  • 2.1 Frauen und Literatur in der Kaiserzeit
  • 2.2 Frau und Schriftliteratur in Mali: Von der Unterrepräsentanz bis zur (Über)-Repräsentanz
  • 2.3 Zwischenfazit
  • III. Textanalysen
  • A. Werke der malischen Literatur
  • 1. Aïcha Fofana: Mariage : On copie (1994)
  • 1.1 Intermedialität als Erzählmittel
  • 1.2 Eheverhältnis als Oberhaupt-Untertan-Beziehung
  • 1.3 Tradierte Normen und Denkmuster als Ursachen von Aminas Schicksal
  • 1.4 Frau und Sexualität in der patriarchalischen Gesellschaft
  • 1.5 Der Roman Mariage: On copie als Plädoyer für eine interkulturelle Frauensolidarität?
  • 1.6 Mariage: On copie als „un roman à caractère sociologique et ethnographique“?
  • 2. Fatoumata Keita: Quand les cauris se taisent (2017)
  • 2.1 Keitas Romantrilogie als Anklage gegen traditionelle Werte
  • 2.2 Quand les cauris se taisent: ein bikultureller Roman?
  • 2.3 Titis Ehegeschichte: Von einer „femme-esclave“ zu einer „femme en lutte“
  • 2.4 Keitas frauenrechtliche Theorie: Die Emanzipation der Frau als Aufgabe für beide Geschlechter?
  • 2.5 „Et si tous les hommes ne sont pas des démons ou des bourreaux ?“ – Die Figur Kary als ein „homme mou“?
  • 2.6 Die Muttergestalt Fata: eine widersprüchliche Figur?
  • B. Werke der deutschen Literatur
  • 1. Helene Böhlau: Halbtier! (1899)
  • 1.1 Helene Böhlaus Werk zwischen Frauenemanzipation und Konservatismus
  • 1.2 Halbtier!: ein intertextueller Roman?
  • 1.3 Isolde Freys Ausbruch aus der patriarchalischen Ordnung
  • 1.4 Bürgerliche Ehe als Instrument der Machtausübung des Mannes über die Frau
  • 1.5 Die Figur Helwig Geber: ein neuer Männertypus?
  • 1.6 Die Romanfigur Mary Wendland: eine Reflexionsfigur?
  • 2. Gabriele Reuter: Ellen von der Weiden (1900)
  • 2.1 Gabriele Reuter: eine frauenemanzipatorische Schriftstellerin?
  • 2.2 Gabriele Reuters Ehetheorie im Essay Das Problem der Ehe
  • 2.3 Der Roman Ellen von der Weiden: ein literarisches Novum?
  • 2.4 Ellens Ehe: „ein verhängnisvoller Rechenfehler“?
  • 2.5 Kranksein als Abwehrstrategie gegen die männlich symbolische Ordnung und/oder Aufruf zum Gefühl weiblicher Solidarität
  • Schreiben als Revolte gegen „La domination masculine“? – Ein vergleichendes Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • 1. Primärliteratur und -quellen
  • 1.1 Bücher
  • 1.2 Film
  • 1.3 Selbst geführte Interviews in Bamako
  • 2. Sekundärliteratur
  • 3. Internetquellen
  • Reihenübersicht

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Danksagung

„Merci est un bien modeste petit mot mais il ne sort de la bouche que sous l’effet d’un acte qui inspire de la gratitude.“1

Im Sommersemester 2020 wurde die vorliegende Arbeit an der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes als Dissertation angenommen und für die Drucklegung leicht überarbeitet.

Meiner Doktormutter, Frau Prof. Dr. Romana Weiershausen (Universität des Saarlandes, Saarbrücken), die meine Arbeit mit großem Interesse und konstruktiver Kritik betreut hat, spreche ich meinen herzlichen Dank aus. Frau Prof. Dr. Christiane Solte-Gresser (Universität des Saarlandes, Saarbrücken) danke ich für die Übernahme der Zweitbetreuung sowie die Möglichkeit zur Teilnahme an ihrem Winterkolloquium (2019/2020), wo ich einige Teile meiner Arbeit zur Diskussion stellen konnte.

Beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) bedanke ich mich für die finanzielle Unterstützung, die die Anfertigung dieser Arbeit ermöglicht hat.

Allen Mitgliedern unseres Winter- und Sommerkolloquiums (Frankophone Germanistik an der Universität des Saarlandes) danke ich für den intensiven interdisziplinären Austausch, der meinen wissenschaftlichen Horizont erweitert hat. Mein Dank gilt auch Gabriele Thul und Katrin Hudey für ihr großes Interesse an meiner Arbeit und das unermüdliche Korrekturlesen.

Besonderer Dank gilt meiner Familie für ihre Geduld und ihre unermüdliche Unterstützung. Letztlich möchte ich auch all meinen FreundInnen und Bekannten danken für alles, was Sie für mich getan haben. Dieses Buch ist meiner verstorbenen Mutter Fatoumata Traoré gewidmet.

Bamako, den 14.5.2021


1Bâ, Amadou Hampâté: L’étrange destin de Wangrin ou les Roueries d’un interprète africain. Paris: Union Générale d’Éditions 1973, S. 122.

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Einleitung

„L’écrivain « engagé » sait que la parole est action : il sait que dévoiler c’est changer et qu’on ne peut dévoiler qu’en projetant de changer.“2

Dieses Zitat über den Zusammenhang zwischen Wort und Tat proklamiert die Rolle des Schreibens und insbesondere des literarischen Schreibens für gesellschaftliche Prozesse. Schreiben kann als eine „ideologische Waffe“3 betrachtet werden, derer sich viele SchriftstellerInnen, PolitikerInnen etc. seit jeher als Mittel zur Erreichung ihrer Ziele bedient haben. Aber Schreiben kann auch gegen Ideologien eingesetzt werden. Im Sinne eines Sub- oder sogar Gegendiskurses kann Literatur ein Weg sein, jenseits der offiziellen Politik Position zu beziehen: Sie kann helfen, Menschen für gesellschaftliche Probleme zu sensibilisieren und Lösungsversuche zur Disposition zu stellen.

Die Annahme, dass Literatur als Medium der Gesellschaftskritik, im Sinne einer engagierten Literatur, fungieren kann, bildet den Ausgangspunkt dieser Untersuchung und soll vor allem hinsichtlich der sozialen Situation der Frau in zwei patriarchalischen Gesellschaften untersucht werden. Im Zentrum stehen dabei die heutige Gesellschaft Malis und die der deutschen Kaiserzeit bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, die von „taxinomies culturelles“4 bestimmt sind bzw. waren. Auch wenn Bürgerrechte für Frauen in Mali offiziell anerkannt sind, zeigt sich, dass die Umsetzung dieser Bürgerrechte für eine tatsächliche Geschlechtergleichheit in der Praxis nach wie vor problematisch ist. Gründe dafür sind nicht zuletzt die herrschenden kulturellen und religiösen Wertesysteme, die das Machtmonopol vorwiegend in die Hände von Männern legen.5 ←11 | 12→Deshalb sind Frauen etwa in öffentlichen Ämtern (z.B. in der Nationalversammlung, in der Regierung und in Parteien) auch heute noch deutlich unterrepräsentiert. Illustrieren lässt sich diese Macht religiöser Akteure in politischen Entscheidungsprozessen an der Kontroverse, die durch die Verabschiedung des Code des Personnes et de la Famille ausgelöst wurde: 2009 plante die malische Regierung ein neues Gesetzbuch für Familien- und Personenrecht, das zu mehr Gleichberechtigung beitragen sollte. Diese als frauenrechtliche Initiative verstandene Aktion rief eine heftige öffentliche Debatte hervor, denn viele religiöse Gruppierungen lehnten einige Artikel ab, die – ihrer Ansicht nach- die islamischen und soziokulturellen Werte Malis gefährden. Demzufolge setzten sie sich für eine Revision der betreffenden Artikel ein, die sie auch letztendlich durchsetzen konnten.6 Die kontroversen Punkte waren vor allem das Recht auf körperliche Unversehrtheit (in diesem Fall die Frauenbeschneidung), die erbrechtliche Gleichstellung der Geschlechter und die Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder im Erbrecht. Zudem wurde die Beibehaltung der Gehorsamspflicht der Frau gegenüber ihrem Mann von diesen Organisationen gefordert, wogegen sich die Frauenvereine erfolglos wehrten.7 Die gesellschaftspolitische Lage der Frauen in Mali lässt Aly Tounkara in seiner 2015 erschienenen Dissertation zu folgendem Fazit gelangen:

La promotion de la femme est souhaitée par les autorités politiques, mais entre le principe et la réalité, il y a un fossé souvent difficile à franchir. Plus ou moins subtile, apparente ou camouflée, la discrimination à l’égard des femmes reste un fait dont il est difficile de nier les manifestations. Nonobstant, les initiatives incontestablement prises en matière de promotion féminine et d’égalité des droits entre les deux sexes sont loin d’être acquises et restent encore au stade de la déclaration d’intention. Pour la majorité de Maliennes, ce n’est qu’une formule creuse et vide de sens […] le sort qui est réservé aux femmes sur le plan de leur participation active et reconnue à la vie de cité apporte un démenti flagrant quant à l’application des textes juridiques, par ailleurs proclamés. En témoignent la prééminence masculine et l’influence de l’islam sur les décisions politiques au Mali.8

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Sich mit der gesellschaftlichen Lage der Frau zu beschäftigen, bedeutet, sich mit einer der wichtigsten Gesellschaftsfragen auseinanderzusetzen. Viele WissenschaftlerInnen der Welt, aber auch besonders viele SchriftstellerInnen verschiedener Literaturen, haben sich für diese Frage interessiert. Sie stellen Frauen nicht nur in ihren Werken dar, sondern beziehen auch Stellung zu deren gesellschaftlichen Situierung. Untersucht werden in der vorliegenden Arbeit die Erzähltexte zweier deutscher Schriftstellerinnen der Jahrhundertwende und zweier malischer zeitgenössischer Autorinnen. Auch andere Werke dieser Autorinnen sowie Texte weiterer Schriftstellerinnen werden teilweise zum Vergleich und zur Veranschaulichung miteinbezogen.

Die gewählten Untersuchungszeiträume ergeben sich aus der jeweils (historischen) Stellung der Frau:

Erst nach der 1848er Revolution wurde die soziale Lage der Frau zum Diskussionsgegenstand und damit auch in der Literatur zu einem wichtigen Thema im deutschen Raum. Zu Tage trat dies auf der ersten deutschen Frauenkonferenz vom 16. bis 19. Oktober 1865 in Leipzig, die zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) am 18. Oktober1865 führte. Dessen erklärtes Ziel war die „erhöhte Bildung des weiblichen Geschlechtes und des Rechtes auf Erwerbsarbeit“9. Im Jahre 1894 kam es zum Bruch zwischen dem bürgerlichen und dem proletarischen Flügel dieser Frauenbewegung, was wiederum die Gründung des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF)10 zur Folge hatte. Trotz dieser Spaltung in der deutschen Frauenbewegung intensivierte sich die Debatte über die gesellschaftspolitische Lage der Frauen um die Jahrhundertwende, bis der Erste Weltkrieg andere politische Fragestellungen in den Vordergrund rückte und die ambitionierten Bestrebungen fast gänzlich zum Erliegen brachte.

Ähnliche Entwicklungen fanden in Mali in der letzten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts statt, als die Frage nach der Situation der Frau zum öffentlichen Thema wurde. Auch hier gründeten sich in der demokratischen Phase zwei erste malische: die Association pour le Progrès et la Défense des Droits des Femmes (APDF11: gegründet am 6. April 1991) und der Dachverband vieler Frauenverbände, die Coordination des Associations et ONG Féminines du Mali ←13 | 14→(CAFO: gegründet 199212), die sich von den Frauenvereinigungen der zwei ersten Republiken13 Malis unterscheiden. Im Gegensatz zu APDF und CAFO, die unabhängig vom politischen Regime arbeiten, fungierten die Commission Sociale des Femmes du Mali (1962–1968) und die Union Nationale des Femmes du Mali (1974–1991) als Untersektionen der regierenden Parteien.14 Hervorzuheben ist auch, dass sich APDF und CAFO unterschiedlich für die Förderung der Frauenrechte in Mali einsetzen. Die APDF setzt sich zum Ziel, die Mädchen- und Frauenrechte mittels der Sensibilisierungsaktionen und des juristischen Schutzes zu fördern, in deren Zentrum die Bekämpfung aller Gewalt gegen Frauen steht. Im Kontrast dazu legt die CAFO einen besonderen Akzent auf die Koordinierung der weiblichen Tätigkeiten, um die sozioökonomische, politische und kulturelle Entwicklung der Frauen in Mali zu unterstützen.

Während die Malierinnen als Vermittlerinnen15 mündlicher Überlieferung seit jeher präsent sind, war die verschriftlichte Literatur Malis lange eine rein männliche Domäne. Dementsprechend findet sich eine literarische Verarbeitung der Stellung der Frau zunächst auch nur aus rein männlicher Perspektive. Zu nennende Beispiele wären etwa Sous l’orage (1957) von Seydou Badian und Les Inutiles (1960) von Sidiki Dembélé oder auch Yadji Sangarés Naïssa (1972). Erst im Jahre 1975 wurde das erste Buch einer Malierin publiziert. In der Autobiographie Femme d’Afrique. La vie d’Aoua Keita racontée par elle-même, die 1976 mit dem Grand prix littéraire d’Afrique noire ausgezeichnet wurde, schildert ←14 | 15→eine Afrikanerin16 ihr Schicksal während der Kolonialzeit. Darin beschreibt sie die Rolle der Frau in einer männerbestimmten Gesellschaft, in der sie selbst alles daran setzt, sich einen Weg ins Leben und in die Politik zu bahnen.

Geprägt wird die malische Frauenliteratur17 – gemeint sind die von Frauen verfassten und veröffentlichten Texte, die sich literarisch mit der gesellschaftspolitischen Lage der Frau auseinandersetzen, jedoch von dem Roman Mariage: On copie (1994) von Aïcha Fofana, der ersten Romanschreiberin Malis. In diesem Werk werden Frauengestalten präsentiert, die sich gegen die Grundfesten des Viriarchats auflehnen. Da Malierinnen erst spät in der Öffentlichkeit schriftstellerisch18 auftreten, basieren die bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten über die soziopolitische Lage der Frauen in der malischen Literatur meistens auf Werken, die von Männern geschriebenen wurden. Dazu zählt vor allem die Studie Les femmes dans la littérature africaine. Portraits19 von Denise Brahimi und Anne Trevarthen. In ihrer Untersuchung interessieren sich die beiden Literaturwissenschaftlerinnen für Amadou Hampâté Bâs Werk Amkoulell enfant peul (1991; dt. Jäger des Wortes. Eine Kindheit in Westafrika, 1995), in dem Bâ ein Loblied auf seine Mutter Kadidja singt. Darin wird Kadidja als eine ‚starke Frau‘ ähnlich wie La Grande Royale in Aventure ambigüe20 (1961; dt. Der Zwiespalt des Samba Diallo, 1980) des senegalesischen Schriftstellers Cheikh Hamidou Kane porträtiert. Die Darstellung der Frauenfiguren hier weicht wesentlich von der bisherigen Darstellung anderer männlicher Autoren ab. Untersucht man aber nur Werke von Schriftstellern über die sozialpolitische Lage der Frau, so erhält man einen einseitigen Eindruck, denn schon ein oberflächlicher Blick zeigt: vor allem hinsichtlich dieser Thematik unterscheidet sich die Literatur von Frauen und Männern tendenziell: In den meisten Werken stößt man auf Protagonistinnen in Opferrollen (insbesondere in den von Männern geschriebenen Texten21), als ‚Kämpferinnen‘ (vorwiegend in den von ←15 | 16→Frauen veröffentlichten Büchern22) oder auch als „femmes tsé-tsé“23 wie zum Beispiel Maï24 in der Novelle Une fille comme les autres in Destins de femmes von Salimata Togora. Dass es bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen über die Werke malischer Schriftstellerinnen gibt, kann demnach als Desiderat gesehen werden, dem sich in der vorliegenden Studie angenähert werden soll. Darüber hinaus liefert diese wissenschaftliche Untersuchung auch eine überblickshafte Materialsammlung zu malischer Frauenliteratur generell. Sie soll auch so dazu beitragen, die bislang im deutschen Sprachraum noch kaum beachteten Autorinnen bekannt zu machen.25

Genauer untersucht werden zwei Romane der malischen Frauenliteratur, deren Handlungsort vorwiegend Mali ist: Mariage: On copie (1994) von Aïcha ←16 | 17→Fofana und Quand les cauris se taisent (2017) von Fatoumata Keita. Die Romane eignen sich deshalb als Untersuchungsgegenstand, da in den Romanen zum einen die Ehethematik erörtert wird, wobei damit einhergehend Frauen porträtiert werden, die sich nicht in die Geschlechterrollenerwartung fügen. Zum anderen haben die beiden Autorinnen auf unterschiedliche Weise die Frauenliteratur Malis geprägt und nehmen somit eine Schlüsselposition im Korpus malischer Frauenliteratur ein: Die zweisprachige Dolmetscherin und Übersetzerin (Englisch und Deutsch)26 Aïcha Fofana (1957–2003) ist die erste malische Romanschriftstellerin und Fatoumata Keita (geb. 1977), die Initiatorin von Figuira Editions27, gilt heute als die profilierteste Autorin Malis.

Thematisch verglichen werden die erwähnten malischen Romane mit Halbtier! (1899) von Helene Böhlau und Ellen von der Weiden (1900) von Gabriele Reuter, die während des Protestes von Frauen gegen das Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs (1888–1896)28 geschrieben wurden und die zweitrangige Stellung der Frau thematisieren. Zwar liegen die von deutschen Autorinnen veröffentlichten Werke und die von malischen Schriftstellerinnen geschriebenen Bücher mehr als ein Jahrhundert auseinander. Trotzdem bilden ähnliche Gesellschaftsformen die Grundlage für die ausgewählten Erzähltexte, denn geprägt sind die dargestellten Gesellschaften von traditionellen Geschlechterrollen. In den zu analysierenden Romanen werden die gesellschaftliche Situation der Frau und insbesondere deren Emanzipationsstreben am Beispiel der Eheschließung und des Ehelebens erörtert. Darüber hinaus spielen bei den vier Autorinnen die sozialen Lebensbedingungen der Frau eine symptomatische Rolle.

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Als Frauenrechtsaktivistin und Menschenrechtlerin29 hat Aïcha Fofana die Lebensbedingungen von Frauen ins Zentrum ihrer Werke gerückt. In ihrem Romanwerk werden Protagonistinnen präsentiert, die wegen ihres Selbstbestimmungswunsches die traditionellen Verhaltensmuster brechen. Der 1994 veröffentlichte Roman Mariage: On copie thematisiert am Beispiel der Ehegeschichte von vier Frauen die geschlechterbedingte Gesellschaftsfrage in ihren unterschiedlichen Facetten: von der Standesheirat, die sich mit der Konvenienzehe in der wilhelminischen Gesellschaft vergleichen lässt, und dem binationalen Paar mit ihren Problemen (z.B. Identitätskrise und -suche) über die Verbindung von Ehe und Beruf bis zum Leben in einer polygamen Familie und zur Kritik an der Leviratsehe.

Bei Fatoumata Keita (oder auch Fatou K30) fungiert das Schreiben als das geeignetste Mittel, um die soziale Situation der Frau zu enthüllen:

Etant « le premier garçon de mon père », et la première fille de ma mère (c’est-à-dire celle qui va aider le père au champ pour revenir faire la cuisine), très tôt, j’ai eu les yeux ouverts sur un monde où tous les combats restent à mener par les femmes maliennes pour l’amélioration de leurs conditions de vie. L’écriture m’a paru alors le meilleur espace pour parler de la condition féminine.31

Keitas Verdienst besteht darin, als erste und bisher einzige Autorin Malis eine Romantrilogie veröffentlicht zu haben, in deren Zentrum die subalterne Rolle der Frau, insbesondere in der Ehe, gerückt wird. Erörtert wird die Problematisierung dieser Geschlechterfragen vorwiegend in Quand les cauris se taisent, dem zweiten Band ihrer Trilogie. Am Beispiel der Lebensgeschichte Titis entlarvt die Autorin misogyne traditionelle Werte: vor allem die verlogene Sexualmoral, die Fixierung der Frau auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter sowie ihre Doppelbelastung durch Haus- und Erwerbsarbeit.

Ähnlich wie die oben genannten malischen Schriftstellerinnen haben die deutschen Autorinnen der Jahrhundertwende der gesellschaftspolitischen Lage ←18 | 19→der Frau großen Raum in ihrem literarischen Schaffen eingeräumt, wobei auch der normative Weiblichkeitsdiskurs aufgedeckt und kritisiert wird.

Helene Böhlau (1856–1940), Tochter des Weimarer Verlagsbuchhändlers Hermann Böhlau32, behandelt ausführlich die frauenrechtlichen Themen ihrer Zeit in ihrem gesellschaftskritischen Drama Philister über Dir! (1900) und in ihren Prosawerken.33 Ihr Roman Halbtier!, den die Literaturwissenschaftlerin Gisela Brinker-Gabler als den „provozierendsten Frauenroman der Jahrhundertwende“34 bezeichnet hat, schildert das Leben der „Kunstenthusiastin“35 Isolde Frey. Die geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse in der Familie werden thematisiert und Isoldes Versuche, sich künstlerisch zu verwirklichen, werden als Verstoß gegen das konventionelle Frauenbild dargestellt.

Gabriele Reuter (geb. am 8.2.1859 in Alexandria/Ägypten und gest. am 13.11.1941 in Weimar)36 greift in fast all ihren Werken das Thema „der beklagenswerten Lage bürgerlicher Frauen und Mädchen“37 auf. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang ihre Romane Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens (1895) und Ellen von der Weiden (1900). Der erste Roman, der der ←19 | 20→Autorin nach einigen schriftstellerischen Versuchen38 den literarischen Durchbruch bringt, skizziert am Beispiel der Lebensgeschichte Agathe Heidlings das Leben „der höheren Töchter“39 im Kaiserreich, wo diesen alle Mittel zur geistigen, sozialen und beruflichen Entfaltung versagt sind. In dieser männlich geprägten Gesellschaft ist das Leben der Frau nur auf die Anforderungen der Männer, Ehepflichten und die Geburt von Kindern ausgerichtet. In Ellen von der Weiden werden verschiedene Aspekte eines Frauenlebens geschildert: Ehealltag, Rollenerwartungen, Möglichkeiten der Selbstfindung, -bestimmung und -behauptung; insbesondere aber auch der daraus resultierende Lebensüberdruss der kunstbegeisterten Titelheldin Ellen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Zentrum der zu analysierenden Romane vorwiegend die Darstellung der Frauengestalt in drei gesellschaftlichen Rollen steht, nämlich als Tochter, Ehefrau und Mutter. Dabei werden die weiblichen Romanfiguren als „Le Deuxième Sexe“40 wahrgenommen und behandelt. Doch die meisten Frauengestalten verschaffen sich Gehör, indem „La Politique du mâle41, d.h. die Männerherrschaft, in Frage gestellt wird.

In Halbtier! von Böhlau, Ellen von der Weiden von Reuter, Mariage: On copie von Fofana und Quand les cauris se taisent von Keita werden Fragen der Eheschließung (nichtstandesgemäße Liebe, Standesehe, Liebes-, Zwangs-, Geld- und ←20 | 21→Versorgungsheirat usw.) und das Eheleben als Oberhaupt-Untertan-Verhältnis problematisiert, wobei auch die Beziehung zu den Eltern, vor allem zum Vater, aufgegriffen wird.

Leitendes Erkenntnisinteresse der Studie ist es, das Untersuchungsmaterial aus einer fremdkulturellen Leseperspektive zu untersuchen, die der kamerunische Germanist Norbert Ndong in seiner Habilitationsschrift als „das inszenierte Gespräch zwischen Literaturen“42 bezeichnet hat. Ndong nach fungiert der afrikanische Germanist als Dolmetscher und/oder Mittler zwischen der deutschen und afrikanischen Literatur, der die beiden Literaturen durch eine thematische Konfrontation in ein Verhältnis von Frage und Antwort bringt.43 Dadurch werde, so Ndong, ein Austausch bestimmter Erkenntnisse und Erfahrungen über die gezeigten Gesellschaften ermöglicht.44

Das Ziel der Untersuchung soll demnach sein, die vier Romane auf ihren möglichen emanzipatorischen Gehalt zu überprüfen und in einer kulturüberschreitenden Perspektive miteinander zu vergleichen.

Den Auftakt zu dieser Analyse bilden die Werke aus der malischen Literatur. Ich schließe mich der Meinung des senegalesischen Germanisten Alioune Sow an, der dazu rät, bei einer komparatistischen Untersuchung zwischen der deutschen Literatur und der afrikanischen Literatur mit seiner eigenen zu beginnen, da „Vergleichen erst möglich ist, wenn Erkenntnisse aus der eigenen Literatur vorhanden sind.“45 Dabei soll der Vergleich vor allem typologisch erfolgen; der zeitlichen und räumlichen Entfernung der Vergleichsobjekte kommt dabei keine große Bedeutung46 zu. Die Komparatistik oder Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft setzt sich zum Ziel, die Literaturen von Ländern in einer grenzüberschreitenden Perspektive in Beziehung zu setzen. Dabei bedient sie sich entweder des genetischen ←21 | 22→Vergleichstypus, der sich auf direkte oder indirekte Kontakte fokussiert, oder des typologischen Vergleichstypus, der diachron oder synchron Literaturen vergleicht, wobei die Frage nach dem Kontakt keine Rolle spielt. Außerdem ist die Arbeit an der Vergleichsmöglichkeit orientiert, die die Komparatistin Christiane Solte-Gresser als „Synthese“47 oder „Vergleichen als dialektischer oder differenzieller Prozess“48 bezeichnet hat.49

Des Weiteren wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Literatur bei den vier Autorinnen als Mittel zur Emanzipation eingesetzt wird. Der Vergleich wird also um einen literatursoziologischen Zugriff erweitert, der sich als wissenschaftliche Methode mit der Beziehung der Literatur zur Gesellschaft auseinandersetzt, wobei auch die Produktions- und Rezeptionsbedingungen in Betracht gezogen werden.

Details

Seiten
254
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631860168
ISBN (ePUB)
9783631860175
ISBN (Hardcover)
9783631852330
DOI
10.3726/b18749
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (September)
Schlagworte
Feminismus emanzipatorische Romane Subversion männliche Herrschaft engagierte Frauenliteratur
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 254 S.

Biographische Angaben

Issa Diabaté (Autor:in)

Issa Diabaté hat Germanistik an der Université de Bamako (Mali) studiert, einen Masterstudiengang Vergleichende deutsche und afrikanische Literaturwissenschaft an der Université Cheikh Anta Diop de Dakar (Senegal) absolviert und wurde an der Universität des Saarlandes promoviert. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter (Medien, Gewerkschaften und Genderfragen) der Friedrich-Ebert-Stiftung (Mali). Derzeit ist Issa Diabaté Maître-Assistant und Leiter des Département d’Études Germaniques an der Université des Lettres et des Sciences Humaines de Bamako (ULSHB/Mali).

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Titel: Emanzipatorische Aufbrüche: Ehe-Romane von deutschen und malischen Autorinnen
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