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Das Orientbild in der deutschsprachigen Reiseliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts

Zwischen Realität und Imagination

von Karolina Rapp (Autor:in)
©2016 Monographie 310 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin beschäftigt sich mit den einschneidenden – traumatisierenden wie faszinierenden – Stationen der Kulturbegegnung von Ost und West. Sie untersucht die vielschichtigen Facetten des Orients als einerseits rein diskursiven, andererseits geografisch und historisch realen, wenngleich imaginär überfrachteten Topos. Die Analyse des mythischen und modernen Orientbildes in der deutschsprachigen Reiseliteratur ist eine Rückbesinnung auf die Fähigkeit der westlichen wie der östlichen Kultur, Offenheit gegenüber anderen Kulturen zu beweisen. Die Autorin macht auf kulturelle Überlagerungen, Wechselwirkungen und Synthesen aufmerksam und zeigt dadurch, dass das Eigene stets Teil am Anderen hat(te).

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • II. Forschungsmethode
  • 1. Die Orient-Rezeption im deutschen Kulturkreis
  • 1.1 Die Entstehung des Begriffs Orient
  • 1.2 Wo liegt der Orient?
  • 1.3 Die deutsche Rezeptions- und Faszinationsgeschichte orientalischer Länder
  • 1.4 Der deutsche Orientalismus im 18. und 19. Jahrhundert
  • 2. Reisebeschreibungen über den Orient vom 17. bis zum 19. Jahrhundert
  • 2.1 Mittelalter und die frühe Neuzeit
  • 2.2 Inhalte orientalischer Reisebeschreibungen im 17. und 18. Jahrhundert
  • 2.3 Die Anziehungskraft der Orientreisen im 19. Jahrhundert
  • 2.4 Die deutschen Orient-Reisenden
  • 2.5 Reiseliteratur im 19. Jahrhundert
  • 2.6 Der Orient der Frauen
  • 3. Der moderne Orient als Raum in der deutschsprachigen Reiseliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts
  • 3.1 Orientalische Landschaftsallegorien
  • 3.2 Stadtträume – Alltagsräume
  • 4. Der moderne Orient als Kulturphänomen
  • 4.1 Abendland – kurze Geschichte der Begriffsentstehung
  • 4.2 Kulturbegegnungen zwischen Orient und Okzident
  • 5. Der moderne Orient als terra incognita – Reise und Identität
  • 5.1 Reise in den Orient als philosophische Tätigkeit
  • 5.2 Fremde Nähe – Nahe Fremde?
  • 6. Zwischen Wort und Bild – der moderne Orient als Traumland der Tausendundeinen Nacht
  • 6.1 Orientalische Erzählkunst
  • 6.2 Die Magie der Namen
  • 6.3 Träume aus der Tausendundeiner Nacht
  • 7. Vom alten Orient zum Nahen Osten
  • 7.1 Der Orient als Imagination – der Orient-Mythos
  • 7.2 Der Orient als Realität – Vom alten Orient zum Nahen Osten
  • III. Schlusswort und Ausblick
  • IV. Anhang: Zu den Autorinnen und Autoren
  • Literaturverzeichnis

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I.   Einleitung

Seit langem setzt sich die deutschsprachige Literatur mit dem Orient, mit den Hochkulturen einer schwer einzugrenzenden Weltregion auseinander, die – so die vage, aber verbreitete Vorstellung – „im Osten“ liegt, und die als undefinierbare Masse und ein nicht mit Staatsgrenzen zu markierender Raum, der sich scheinbar nicht verorten lässt, wahrgenommen wird. Trotz der kulturellen, religiösen, wissenschaftlichen und politischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Orient und Okzident sollte man nicht vergessen, dass das reale und das imaginäre Morgenland einen großen Einfluss auf die deutschsprachige Philosophie, Kunst und Wissenschaft ausübte und die europäische Sehnsucht nach einem romantisch-mythischen Traumort verkörperte. Unterschiedliche Formen der produktiven Orient-Rezeption haben ihre Blütezeit in der Aufklärung, Weimarer Klassik, Romantik und Vormärz erlebt und zeugen davon, dass der Orient als ein bedeutender Partner der europäischen Kultur gesehen wurde und einen starken Impuls für den Dialog der europäischen und orientalischen Welt sendete. Dieser Dialog wurde im 18. und 19. Jahrhundert durch Neugier und Achtung vor dem Anderen geprägt. Die lange Rezeptions- und Faszinationsgeschichte orientalischer Länder und Völker ist seit dem 17. Jahrhundert ein Gegenstand intensiver kulturwissenschaftlicher, kunsthistorischer und literaturwissenschaftlicher Forschung. Die Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Andrea Polaschegg schreibt im Zusammenhang damit:

Bei allen wissenschaftlichen Fährnissen, die das Forschungsfeld des Orientalismus bereithält, muß, wer es zu Beginn des 21. Jahrhunderts betritt, eines gewiss nicht fürchten: Einsamkeit. Vor allem das Gebiet des 19. Jahrhunderts hat sich durch die literaturwissenschaftliche Urbarmachung der vergangenen fünfundzwanzig Jahre in eine klein parzellierte Kulturlandschaft verwandelt. […] Neben zahllosen Forschungen zum Orientalismus bei Johann Wolfgang Goethe existiert inzwischen auch eine beträchtliche Reihe von Arbeiten zum Orient bei Heinrich Heine, August von Platen, Friedrich Rückert, August Wilhelm Schlegel, Friedrich Schlegel, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Karoline von Günderrode, Christoph Martin Wieland, und selbst die Werke Bettina von Arnims, Ludwig Tiecks, Heinrich von Kleists, und Wilhelm Heinrich Wackenroders sind bereits auf ihre Be- und Verarbeitung des Orients hin untersucht worden. ← 9 | 10 → 1

Die Zeugnisse ästhetischer, wissenschaftlicher, kultureller und politischer Auseinandersetzung Europas mit dem Orient sind zahllos. Bibliotheken, Manuskripte, Archive, Tagebücher, Diplomatenkoffer hüten Geheimnisse der Ost-West-Beziehungen, deren Wurzeln bis in die Antike reichen. Medien, Künste und Alltagswelten liefern Forschungsbeiträge und geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Publikationen zur europäischen Orientrezeption und veranschaulichen den riesigen Facettenreichtum der west-östlichen Auseinandersetzung und der orientalischen Formen und Motive, die den Okzident inspirierten.

Das breite Interesse an Geschichte und Forschungsmethoden europäischer Auseinandersetzungen mit dem Orient ist aber eine ziemlich junge Erscheinung. Bis weit in die 1970er Jahre hinein spielte der europäische Orientalismus in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung nur eine Nebenrolle. Er war zwar ein Thema wissenschaftlicher Bearbeitungen und kunstgeschichtlicher Forschungen, die aber meistens nur als Hobby betrieben wurden. Es entstanden auch Überblicksdarstellungen und Materialkompilationen, die aber nicht systematisch ausgewertet wurden. Erst in den 1980er Jahren gewann die Orientrezeption die Aufmerksamkeit Europas. Einer der Faktoren, der dazu beigetragen hat, war die Entwicklung der postkolonialen Studien – der geistigen, intellektuellen und künstlerischen Strömung, die Kultur und Identität und sowohl die Kolonialzeit, als auch die Zeit danach im Kontext des Kulturkonfliktes der Kolonisierten und der Kolonialmacht untersucht. Ab den 1980er Jahren beobachtet man ganz deutlich, dass das Morgenland, dem ursprünglich die reine raumdeiktische Bedeutung zugeschrieben wurde, eine Bedeutungsverschiebung des Begriffs Orient signalisiert. Der Alte Orient wird immer öfter zum Nahen Osten.

Im 20. und 21. Jahrhundert erhielt der Orient aus eurozentrischer Sicht eine kulturspezifische Zuschreibung, aber die räumliche Abgrenzung dieses Kulturerdteils stellt weiterhin eine Herausforderung dar. Die Gestaltung des Terminus Orient bzw. die wissenschaftliche Konstruktion des Orients wurde schon im 20. Jahrhundert schrittweise von der Geographie und genauer gesagt der Kulturgeographie übernommen, die die Erdoberfläche als mehrdimensionales, multifaktorielles und ganzheitliches2 Gebilde betrachtet, und die sich mit Natur, Politik und Kultur eines Landes oder einer Landschaft auseinandersetzt. Das duale Wesen des Orients, das Eigenschaften eines geographischen Raumes und einer Kulturlandschaft miteinander kombiniert, wird im 20. und 21. Jahrhundert am besten durch die Reiseliteratur widergespiegelt. ← 10 | 11 →

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit folgenden Reiseberichten der deutschen, österreichischen und schweizerischen Autoren: Orientreisen: Reportagen aus der Fremde (2010) von Annemarie Schwarzenbach, Bruder Orient. Sieben andere Reisen in den Nahen Osten (2004) von Karl Lubomirski, Traumland Marokko. Orientalisches Tagebuch (2007) von Mourad Kusserow, Im Herz ein Feuer. Unterwegs von Kairo in den Süden Afrikas (2001) von Andreas Altmann, Magische Nächte in Marrakesch. Wie ich lernte das Leben mit allen Sinnen zu begreifen, und sich dabei Zeit und Raum verschoben (2010) von Helene Brochett, Lesereise Istanbul: Der Sternenwind am Bosporus (2011) von Joscha Remus, Ein Jahr in Istanbul: Reise in den Alltag (2008) von Cornelia Tomerius, Marokko. Im Labyrinth der Träume und Basare (2011) von Walter M. Weiss und Zwischen Babylon und Heiligem Land. Syrische Aussichten (2004) von Walter M. Weiss.

Darüber hinaus füllt diese Arbeit eine Lücke in der Forschung der deutschsprachigen Reiseliteratur im 20. und 21. Jahrhundert aus, die dem Orient gewidmet ist. Es entstehen zwar zahlreiche Reiseführer, aber sie haben einen rein praktischen Charakter. Die Reiseberichte der genannten Autoren wurden dagegen nach bester altmeisterlicher Kunstmanier der Reiseliteratur verfasst. Das methodologische Instrument der Autoren sind nicht nur ihre fünf Sinne. Sie bemühen sich, die existentielle und metaphysische Dimension der orientalischen Welt zu erschließen und die erfahrene Realität authentisch und persönlich wiederzugeben. Inhalt und Form ihrer literarischen Reiseaufzeichnungen sind als Ausdruck der eigenen und der orientalischen Kultur und Geschichte zu verstehen. Die Sprachkraft ihrer Texte rückt in die Nähe einer essayistisch-subjektiver Kunstform. Die Wahrnehmung und Untersuchung der orientalischen Geschichte und der morgenländischen und abendländischen Kulturmuster gehen mit den eingehenden dichterischen Beschreibungen von erfahrener Wirklichkeit einher.

Das Ziel der Arbeit ist es, das allgemeine Orientbild, das noch im 18. und 19. Jahrhundert entstand und das als Projektionsfläche von Träumen in das 20. und 21. Jahrhundert tradiert wurde, mit modernen orientalischen Alltagsgeschichten in Beziehung zu setzten. Die Analyse betritt das Forschungsfeld der deutschsprachigen Reiseliteratur und knüpft an die lange Tradition der deutschsprachigen Orientberichte an, die ihre Blütezeit noch im 18. und 19. Jahrhundert hatten.

Obwohl es eine große zeitliche Distanz zwischen den Orientreisen von Schwarzenbach (1908–1942) und den von Lubomirski (geb. 1939), Tomerius (geb. 1974), Brochett (geb. 1953), Altmann (geb. 1949), Remus (geb.1958), Kusserow (geb. 1939) und Weiss (geb. 1961) gibt, greifen sie auf dieselben Topoi zurück. Das Orientbild, das sie in ihren Reiseberichten malen, scheint zeitlos und nicht generationenabhängig zu sein. Alle acht Autoren verbindet vor allem ← 11 | 12 → die Suche nach dem ganz Anderen, nach außergewöhnlichen Erfahrungsfeldern und Erlebnissen, in denen die Kontexte zwischen dem realen und dem imaginären Orient überschaubar werden. Die reisenden Autoren sind bemüht, ihre Reiseberichte mit Erfahrungstrophäen auszuschmücken und den Anspruch auf die Authentizität und Unmittelbarkeit seiner Erlebnisse zur Geltung zu bringen. Die zur Analyse gewählten Texte fügen den historischen Traumort mit dem ihm entsprechenden geographischen Raum in der Gegenwart zusammen. Dieser Ort hat drei Haltepunkte, die zwischen Realität und Imagination schweben: Die Wiege der Zivilisation befindet sich im Alten Orient, die Kreuzfahrer zogen ins Heilige Land, das aktuelle Krisengebiet liegt im Nahen Osten.3 Alle diese raumspezifischen Zuschreibungen treffen auf den Osten zu. Bei der Textauswahl war die Tatsache äußerst relevant, dass die Reiseberichte von Schwarzenbach, Lubomirski, Weiss, Kusserow, Tomerius, Altmann, Remus und Brochett die Weltregion darstellen, in der der erste große Mythos der Menschheit entstanden ist, wo Richard Löwenherz und Saladin ihre Macht demonstrierten und die heutzutage dauerhaft für Schlagzeilen sorgt. Darüber hinaus findet man in allen analysierten Texten drei Elemente, durch die, Ewald Banse4 zufolge, der moderne Orient konstruiert wird – durch Kultur, unterschiedliche Lebensformen und Trümmer. Sie stimmen auch mit der Konzeption von Eugen Wirth überein, die fundamentale Bestimmungselemente des Orients umfasst und zwar: der Orient ist der westliche und mittlere Teil des großen altweltlichen Trockengürtels, der Orient ist kulturgeschichtlich gesehen der Ursprungsort der neolithischen Revolution und unserer Hochkulturen, der Orient gehört schon seit dem 7. Jahrhundert bis heute dem Islam zu.5 Um das moderne Orientbild konstruieren zu können, war die topographische Eingrenzung der kulturellen Alterität, also die Anwendung des geographischen Kriteriums ein notwendiger Schritt im Prozess der Textauswahl. ← 12 | 13 → Eugen Wirth, der seit den 1960er Jahren an der Klärung der räumlichen Unschärfe des Orients arbeitete, schreibt:

Nordafrika6 und Vorderasien seien im folgenden unter dem Oberbegriff Orient zusammengefasst: Der Orient umfasst also den durch den Islam geprägten westlichen und mittleren Teil des großen altweltlichen Trockengürtels. Es seien ihm folgende Staaten zugerechnet: Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, die Staaten der Arabischen Halbinsel, Jordanien, Libanon, Syrien, Irak, Türkei, Iran und Afghanistan.7

Die Autoren beschreiben: Marokko, Syrien, Türkei, Libyen, Ägypten, Israel, Jordanien, Syrien, Jemen, Afghanistan und Iran.

Die oben angeführten vielfältigen Dimensionen des modernen Orientbildes zeigen die Notwendigkeit eines differenzierten Umgangs mit diesem Thema. Für die Analyse wurden Reiseberichte gewählt, da sich diese Literaturgattung gezwungenermaßen sowohl mit kultureller Alterität, als auch mit geographischen Eigenschaften des Orients auseinandersetzt. Die Interdisziplinarität der Reiseberichte blieb also nicht ohne Bedeutung für die Textauswahl. Wie kaum ein anderes Genre ermöglicht der Reisebericht eine Überschreitung der Fachgrenzen, sowohl in inhaltlicher, als auch in methodischer Hinsicht, was für die Beschreibung des modernen, komplexen Orientbildes unerlässlich ist. Reiseberichte umfassen nämlich faktographische Ergebnisse und sind gedanklich in unterschiedlichen Fachgebieten angesiedelt, u. a. in Geschichts- und Sozialwissenschaften, Philosophie, Geographie. Da die Frage nach der Neubestimmung des Orientbildes im 20. und 21. Jahrhundert im Vordergrund dieser Studie steht, galt meine besondere Aufmerksamkeit auch solchen Texten, die einen hohen ästhetischen Anspruch haben und mit literarischen Mitteln Zugangswege zu anderen Kulturen suchen. Bei der Auswahl der Texte galt meine Neugierde der Erschließung eines geographischen Raums, der bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa verallgemeinernd als Orient bezeichnet wurde.

Die zentrale Forschungsfrage lautet, ob der Orient des 20. und 21. Jahrhunderts, genauso wie im 18. und 19. Jahrhundert, ein mythischer imaginärer Raum ist, oder ob er zu einer realen (geografischen und politischen) Weltregion wurde. Um diese Frage beantworten zu können, wurde in den ersten drei theoretischen ← 13 | 14 → Kapiteln die Geschichte der Orientrezeption im deutschsprachigen Kulturkreis und die Gestaltung des Begriffs Orient dargestellt. Die Aus- und Abgrenzung des Orients vom Okzident ist ein historisch und politisch gewolltes Phänomen. Die begriffsgeschichtliche Frage nach Ort und Grenzen des Orients gewinnt also nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine geschichtliche Dimension, die auch für das Verständnis des Orients im 20. und 21. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielt. Weiter wird die deutsche Rezeptions- und Faszinationsgeschichte orientalischer Länder und Völker seit dem 17. bis zum 19. Jahrhundert geschildert, die ein Gegenstand intensiver kulturwissenschaftlicher, kunsthistorischer und literaturwissenschaftlicher Forschung war. Diese vielseitige Beschäftigung mit der Orientthematik veranschaulicht, dass der deutsche Orientalismus ein komplexes Phänomen ist, und dass sein komplizierter Charakter auch die Orientrezeption im deutschsprachigen Raum beeinflusst. Eine Skizze der Genese und der Bedeutungsentwicklung des Orientalismus in Deutschland (Kapitel 1) seit der Frühen Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zeigt eine grundlegende Wandlung sowohl des ästhetischen als auch des wissenschaftlichen Zugriffs auf den Orient und einen Wechsel zum künstlerischen und wissenschaftlichen Wahrnehmungsmodus des Morgenlands, der unsere heutige Denkweise über den Orient immer noch prägt.

Im Nachvollzug der Genese des deutschen Orientalismus und der Faszinationsgeschichte wird die Geschichte der deutschen Reisebeschreibungen über den Orient vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert beschrieben, die einen großen Einfluss auf den deutschsprachigen Reisebericht im 20. und 21. Jahrhundert haben (Kapitel 2).

In der vorliegenden Arbeit wird die Aktualität der Motive der Orient-Rezeption analysiert, die auch in den Reiseberichten aus dem 18. und 19. Jahrhundert das Orientbild mitkonstituieren. In erster Linie wird der Orient als Raum wahrgenommen. Hier werden zwei Aspekte beschrieben: die orientalische Natur- und Stadtlandschaft (Kapitel 3). Zuerst kommt der Raum, dann kommt die Zeit – besagen die modernen Naturwissenschaften und erweitern die schon in der Antike bekannten Kategorien des Raumes, der mit der Zeit unzertrennlich verbunden ist. Aus diesem Grund kann man den Kategorien der Zeit und des Raumes noch die Kategorie des Denkens ankoppeln. Die eben erwähnten Aspekte sind für Schwarzenbach, Lubomirski, Weiss, Kusserow, Altmann, Remus, Tomerius und Brochett ausschlaggebend. Über die Städte, die als die intensivste und reinste Form der Sinnlichkeit gelten, definiert sich in hohem Maße die orientalische Kultur. Im Rahmen der Arbeit werden unterschiedliche Formen des zwischenkulturellen Gedankenaustausches und der kulturellen Beeinflussung ← 14 | 15 → zwischen Morgenland und Abendland untersucht (Kapitel 4), die sich heutzutage vor allem im Alltagsleben offenbart. Im Folgenden (Kapitel 5) werden die Figuren des Reisenden und die Philosophie des Reisens analysiert. Es wird gezeigt, wie die Autoren das Eigene und das Fremde definieren, und wie sie Teile eines von Fremdheit gezeichneten Lebens eines Reisenden in ihre Ausgangskultur einbauen. Das Hauptanliegen dieses Kapitels besteht darin, anhand konkreter Darstellungen von kultureller Alterität das Fremde in seinen Variationen zu erfassen.

Ohne Reflexion über die Aktualität der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht im Orient des 20. und 21. Jahrhunderts wäre das Orientbild nicht vollständig. Im Rahmen des Kapitels 6 wurde das Motiv der arabischen Märchen untersucht, die schon im 18. Jahrhundert zum repräsentativen Werk der arabischen Kultur und Literatur zählten. Im Vordergrund steht hier die Frage, ob auch der moderne Orient eine Rahmenerzählung, eine Schachtelgeschichte, eine endlose Kette von Geschichten bzw. Träumen ist, also ob der Orient des 20. und 21. Jahrhunderts der alten Tradition der arabischen Erzählkunst nahesteht.

Der Fokus des Kapitels 7 richtet sich auf das duale Wesen des Orients, der zwischen Realität und Imagination schwebt, zwischen Realität und erträumter Wirklichkeit, die wie Schwarzenbach, Lubomirski, Weiss, Kusserow, Altmann, Remus, Tomerius und Brochett zeigen, nicht eindeutig voneinander getrennt sind. Im Zusammenhang damit werden mythische imaginäre Eigenschaften des zeitgenössischen Orients hervorgehoben. Der klassische Begriff Orient enthält kulturspezifische Elemente. Der Terminus Naher Osten wird dagegen in der Geographie, Politik und Zeitgeschichte verwendet. Es wird eine Antwort auf die Frage gesucht, ob der so verstandene Nahe Osten ein integraler und realer Element des kulturellen Begriffs Orient ist, und ob die Imagination zur Realität also der Orient zum Nahen Osten wurde. ← 15 | 16 →


1 Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 1–2.

2 Vgl. Nissel, Heinz: Vom Kulturerdteil Orient zur Islamischen Welt, in: Steffelbauer, Ilja; Hakami, Khaled (Hrsg.): Vom Alten Orient zum Nahen Osten, Essen 2006, S. 22.

3 Vgl. Hakami, Khaled; Steffelbauer, Ilja (Hrsg.): Vom Alten Orient zum Nahen Osten, Essen 2006, S. 8.

4 Ewald Banse (1883–1953) war ein deutscher Geograph, Forschungsreisende, Historiker und Schriftsteller. 1918–1923 arbeitete er in Braunschweig als Schriftsteller und Privatgelehrter. 1932–1934 war er Honorarprofessor für Geographie an der damaligen Technischen Hochschule. In den Jahren 1940–1942 lehrte er an der Pädagogischen Hochschule in Braunschweig. Er plädierte erfolglos für die Definition der Geographie als Kunst (Kulturgeographie). Aufgrund seiner rassistischen Publikationen wird Banse in vielen deutschsprachigen Schriften nicht zitiert. Vgl. Escher, Anton: Die geographische Gestaltung des Begriffs Orients im 20. Jahrhundert, In: Schenpel, Burkhard; Brands, Gunnar; Schönig, Hanne (Hrsg.): Orient-Orientalistik-Orientalismus: Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011, S. 125–129.

5 Vgl. Escher, Anton: Die geographische Gestaltung…., S. 131–133.

6 Im europäischen Kulturkreis werden die nordafrikanische Staaten und darunter vor allem Tunesien, Algerien, Marokko, Libyen und Mauretanien als Maghreb bezeichnet. In arabischen Sprachen versteht man unter Maghreb in erster Linie Marokko – den westlichsten arabischen Staat.

7 Wirth, Eugen: Der Orient, In: Hinrichs, Emil (Hrsg): Illustrierte Welt- und Länderkunde in drei Bändern, Zürich 1979, S. 259.

Details

Seiten
310
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653062557
ISBN (ePUB)
9783631693384
ISBN (MOBI)
9783631693391
ISBN (Hardcover)
9783631670422
DOI
10.3726/978-3-653-06255-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (März)
Schlagworte
Transkulturalität Kulturwissenschaft Morgenland Abendland Orientalismus Literaturwissenschaft
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 310 S.

Biographische Angaben

Karolina Rapp (Autor:in)

Karolina Rapp ist Germanistin. Sie ist als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanische Philologie der Universität in Zielona Góra (Polen) tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Reiseliteratur, Postkolonialismus, Transkulturalität und Literatur sowie Räume der Hybridisierung von Kultur und Literatur.

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