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Traumsommer und Kriegsgewitter

Die politische Bedeutung des schönen Sommers 1914

von Matthias Bode (Autor:in)
©2016 Dissertation 344 Seiten

Zusammenfassung

Im kollektiven Gedächtnis sind die Julikrise 1914 und das Augusterlebnis mit Sonne, Hitze und Ferienglück verbunden. Auf einen Traumsommer sei der Krieg wie ein Gewitter gefolgt. Basierend auf meteorologischen Daten, zeitgenössischen Quellen sowie retrospektiven Deutungen zeigt der Autor das Verhältnis zwischen Topos und Realität auf. Das Wettergeschehen während der Julikrise kann zwar mit dem „reinigenden Gewitter" durchaus in Einklang gebracht werden, aber erst das Sommerwetter im August hat die euphorische Herausstellung des „Augusterlebnisses" nachhaltig unterstützt. Die retrospektive Deutung von „Traumsommer" und „Kriegsgewitter" bildet so die Grundlage, argumentativ die schicksalsergebene Unschuld gegenüber einer Naturkatastrophe zu betonen. Der Autor untersucht, wie sich Strategien der Rechtfertigung und der Schuldzuweisung am Umgang mit dem Topos nachweisen lassen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Das Sommernarrativ
  • 1.2 Fragestellung und Forschungsstand
  • 1.3 Inszenierte Überraschung
  • 1.4 Wetter und Geschichte
  • I. Theoretisch-methodische Überlegungen
  • 2. Generationalität und Erinnerung
  • 2.1 Die Unschuld der Zeitzeugen
  • 2.2 Begeisterte Erinnerung der Mitlebenden
  • 2.3 Kritik des „Augusterlebnisses“
  • 3. Die Untiefen des erinnernden Selbst: Ego-Dokumente als historische Quelle
  • 3.1 Zeitgenössische Selbstzeugnisse
  • 3.2 Der Schleier der Erinnerung
  • 3.3 Vom Quellenwert der Autobiografie
  • 3.4 Das kollektive Gedächtnis
  • 3.5 Die Narrativität der historischen Darstellung
  • 4. Das Wetter im Sprachbild
  • 4.1 Wettermetapher in der Literatur
  • 4.2 Krieg, Sturm und Gewitter in der Schule
  • 4.3 Wetterfühligkeit
  • II. Krieg als Naturgewalt? Klimadeutung und Erinnerung
  • 5. Erwartungen und Erfahrungen: Das Klima der Jahre 1911–1914
  • 5.1 1911–1913
  • 5.2 Die letzten Friedensmonate
  • 5.4 Traumsommer: Juli/August 1914
  • 5.5 Wetterumschwung und Kriegswende: Die Schlacht an der Marne
  • 6. Rausch, Ernüchterung und goldener Glanz: „Augusterlebnis“, (klimatische) Depression, Mythisierung
  • 6.1 Reale Überraschung: Abbruch des Urlaubs
  • 6.2 Kriegsgewitter und Siegesträume
  • 6.2 Scheitern und Hadern
  • 6.3 Der Traumsommer als goldenes Zeitalter
  • 6.3.1 „Kriegs-Rundschau“ (1915) und Kriegsgeschichten
  • 6.3.2 Lily Braun, Lebenssucher (1915)
  • 6.3.3 Else Ury, Nesthäkchen (1915–1916) und weitere Romane
  • 6.3.4 Walter Bloem, Vormarsch (1916)
  • 7. Naturalisierung des Kriegsbeginns?
  • 7.1 Erzählung und Erinnerung in der Weimarer Republik
  • 7.1.1 Thomas Mann, Der Zauberberg (1924)
  • 7.1.2 Ernst Glaeser, Jahrgang 1902 (1928)
  • 7.1.3 Arnold Zweig, Erinnerung an einen 1. August (1928)
  • 7.1.4 Emil Ludwig, Juli 14 (1929)
  • 7.1.5 Erich Maria Remarque und Lewis Milestone, Im Westen nichts Neues (1928/1930)
  • 7.1.6 Joseph Roth, Radetzkymarsch (1932)
  • 7.2 Exil und Heimatsommer: Der August 1914 in der NS-Zeit
  • 7.2.1 Carl Zuckmayer, Pro Domo (1938)
  • 7.2.2 Bernhard Adelung, Sein und Werden (um 1940)
  • 7.2.3 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern (1939–41)
  • 7.2.4 Hans Dominik, Vom Schraubstock zum Schreibtisch, 1941
  • 7.2.5 Paul Mühsam, Ich bin ein Mensch gewesen (1938–1950er Jahre)
  • 7.3 Fortschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg
  • 7.3.1 Wilhelm Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten (1947)
  • 7.3.1 Willy Hellpach, Wirken in Wirren (1948/49)
  • 7.3.2 Gustav Mayer, Erinnerungen (1949)
  • 7.3.3 Arnold Zweig, Die Zeit ist reif (1957)
  • 7.3.4 Erich von Manstein, Aus einem Soldatenleben (1958)
  • 7.3.5 EPOCA (1964)
  • 7.3.6 Fritz Bauer im Interview (1967)
  • 7.3.7 Hans Speidel, Aus unserer Zeit (1977)
  • 7.3.8 Eugen Gerstenmaier, Streit und Friede (1981)
  • 8. Historisierung der Meteorologie
  • 8.1 Abschied von der Naturalisierung
  • 8.1 Sommer
  • 8.2 Schwüle
  • 8.3 Gewitter
  • III. Auswertung und Deutung
  • 9. Narrative Strukturen
  • 9.1 Zeitdehnung
  • 9.2 Kontrastierung
  • 9.3 Zäsur
  • 9.4 Naturalisierung
  • 9.5 Entlastung
  • 9.6 Wende
  • 9.7 Der Jahreszeitenzyklus
  • 10. Vergleiche: Vom Wirken des Gewitters im Sommer
  • 10.1 Großbritannien
  • 10.2 Kriegsbeginn 1939
  • 10.3 Keine Überraschung – kein Sommernarrativ
  • 11. Zusammenfassung
  • IV. Bibliografie
  • IV.1 Quellen
  • IV.1.1 Grundlagen: Publikationen vor 1914
  • IV.1.2 Zeitgenössische Texte
  • IV.1.3 Erinnerungsliteratur
  • IV.1.4 Meteorologische Literatur
  • IV.1.5 Ministerial-Erlasse und ähnliche Texte
  • IV.1.6 Lexika
  • IV.1.7 Schulbücher
  • IV.2 Literatur

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Vorwort

Das vorliegende Buch ist die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner im Januar 2015 unter demselben Titel an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten Dissertation.

Eine solche Arbeit entsteht aus dem Gespräch: Mit vielen Menschen konnte ich wichtige und weniger wichtige Details besprechen, mit vielen grundsätzliche Einsichten und Ansätze erörtern. Ihnen allen, die hier aufzuführen zu weit führen würde, ist zu danken. Allen voran danke ich Herrn Professor Dr. Thomas Sandkühler für die intensive und immer hilfreiche Betreuung der Arbeit. Ohne seine aufmunternde Bereitschaft, meine Überlegungen zum Zusammenhang von Wetter, Erinnerung und Politik zu begleiten, wären diese nicht so weit gediehen. Ich danke auch Frau Professorin Dr. Gabriele Metzler für das Zweitgutachten, das mir dabei geholfen hat, den Text der Dissertation zu überarbeiten. Florian Krüpe, Kerstin Dross-Krüpe und Peter Garbers lasen erste Fassungen des Buches, ihren Hinweisen und ihrer Mitarbeit verdanke ich viel.

Professor Dr. Holger Thünemann (Köln) und den Mitherausgebern der Reihe gilt mein Dank für die Aufnahme dieser Studie in die Reihe „Geschichtsdidaktik diskursiv – Public History und Historisches Denken“. Dr. Hermann Ühlein vom Peter Lang Verlag hat mich bei der Fertigstellung der Druckvorlage bestens beraten. Auch ihm an dieser Stelle vielen Dank.

Gewidmet sei diese Arbeit Anne, Philipp und Sophie – die über vieles hinweggesehen haben, während dieses Buch entstand. ← 11 | 12 →

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1.  Einleitung

Da, wo sich der Familienkram überschneidet mit der Geschichte der Klasse, ist der Punkt, wo ein Lied versteckt ist, das vielleicht auch andere brauchen“, hat Wolf Biermann einmal geschrieben.1 Familienkram überschneidet sich mit Geschichte, wenn Berührungspunkte vorliegen, Vergleichsmöglichkeiten; wenn in der genaueren Betrachtung Gemeinsamkeiten entstehen: In einer Sammlung von Erinnerungen an das Elternhaus etwa schilderten 1984 eine Reihe bekannter und eher unbekannter älterer Menschen, wie sie sich an die Kindheit in ihrem Elternhaus erinnern – darunter sind einige, die den Beginn des Ersten Weltkriegs erwähnen. Der Historiker Alfred Heuß (*1909) etwa erinnert sich an die Kriegsbegeisterung, Wolf Graf Baudissin (*1907) schreibt von hektischer Betriebsamkeit und Euphorie, der Architekt Helmut Hentrich (*1905) erinnert sich ausführlicher: es sei „ein schöner Sommer“ gewesen, „glückliche Tage“, die großen Ferien begannen, „es sollte wieder einmal zur See gehen“. Dann brach, nach „unerträglicher Spannung“, der Krieg aus. Der letzte Satz seiner Reminiszenz lautet: „Eine Zeit, die nie wiederkehren sollte, war endgültig vorbei“. Seine Kindheit oder die Zeit vor dem Krieg?2

Bemerkenswerterweise erwähnen im gleichen Band Josef Kardinal Höffner (*1906) und Max Schmeling (*1905) den Kriegsbeginn nicht. Warum äußern sich der städtische Proletarier Schmeling und der katholische Bauernsohn Höffner nicht zu einem anscheinend so einprägsamen Ereignis, das die anderen so bereitwillig schildern? Liegt es daran, dass Heuß und Hentrich dem damaligen Bürgertum entstammten, Wolf Graf Baudissin dem preußischen Amtsadel? Hier überschneidet sich „Familienkram“ mit der Geschichte der Klasse, um Wolf Biermanns Worte noch einmal zu verwenden. In dieser Arbeit entsteht daraus zwar kein Lied, aber eine Erzählung, die vielleicht auch andere brauchen: Wieso betonen Menschen wie Hentrich die Schönheit des Sommers, während es andere offenkundig nicht tun? Teilen auch andere Baudissins und Hentrichs Einschätzungen? Diese ← 13 | 14 → Arbeit sucht Antworten auf diese Fragen, sucht Antworten auch auf das Schweigen von Max Schmeling und Kardinal Höffner.

Um den „Familienkram“ in Beziehung zur Geschichte einer ganzen Gesellschaft zu bringen, sollen hier die Zeugnisse einer Gesellschaft untersucht werden: die zeitgenössischen ebenso wie die späteren. Dass der Sommer 1914 ein besonderer und besonders schöner gewesen sei, wird teilweise bis heute hervorgehoben.3 Doch trifft das zu – und, wenn ja, in welcher Hinsicht? In dieser Arbeit geht es um den schönen Sommer des Jahres 1914 und seine politisch-historische Bedeutung, daher auch um die vielen Quellengattungen, in denen von diesem Sommer die Rede ist. Die Suche beginnt in den meteorologischen Aufzeichnungen, geht weiter in Tagebüchern, Briefen, Zeitungsartikeln, Predigten und schulischen Tätigkeitsberichten. Kinderliteratur und solche für Erwachsene wird ebenso herangezogen wie Gedichte und Filme und vor allem jene Textgattung, mit der die Überlegung begann: Autobiografien. In all diesen Texten wird es um die Frage gehen, wie Menschen den Kriegsbeginn im Sommer 1914 erlebt und wahrgenommen haben und wie sie später, als der Krieg vorbei war, darüber schrieben – und vor allem, warum der Sommer so schön war oder mit dieser Zuschreibung erinnert wird. Die Menge der Zitate, die Breite der Darstellung erwiesen sich in dieser Form als notwendig, um die sich anbietende Generalisierung mit Material zu belegen: Der Eindruck einer ungerechtfertigten Pauschalisierung soll vermieden werden.

Bei einer solchen Breite von Material über ein ebenso weites wie intensiv beackertes Feld wie den Kriegsbeginn 1914 muss an dieser Stelle ein klares Wort der Einschränkung fallen: Es ist im Rahmen dieser Studie unmöglich, die Rezeption des Kriegsbeginns umfassend aufzuarbeiten. Die verschiedenen Quellengattungen werden breit genutzt und erörtert, aber einen Anspruch auf Vollständigkeit kann diese Arbeit gerade bei diesem Thema dennoch nicht erheben. Sie ist deshalb weder eine Aufarbeitung der Kriegsschulddebatte noch eine Untersuchung deutscher Kriegspredigten, ← 14 | 15 → eine Analyse deutscher Kriegslyrik, eine Geschichte in Tagebüchern und Briefen oder gar eine Studie über Autobiografien. Vielmehr sucht diese Studie eine Bresche zu schlagen in die schier uferlose Menge des Schrifttums zum Beginn des Ersten Weltkriegs, quer durch viele verschiedene Quellengattungen, auf der Suche nach einem gemeinsamen, in der bisherigen Geschichtsforschung weitgehend übersehenen Narrativ – demjenigen vom schönen Sommer 1914.4

Zur Zitierweise: In einer Edition eines Tagebuchs oder einer Briefsammlung sind Zitate über das Datum ebenso schnell zu finden wie über die Seite. Um den Fußnotenapparat überschaubar zu halten, sind deshalb Nachweise über Tagebücher mit der Klammer (Tb Autorenname) und dem Tagesdatum im Text nachgewiesen, Briefe mit dem Autorennamen und dem Tagesdatum. Beide Textgattungen können so über die im Literaturverzeichnis angegebene Edition überprüft werden. Die Rechtschreibung der Zitate wurde in Einzelfällen behutsam modernisiert. Ortsnamen werden in der Schreibweise der zitierten Quelle wiedergegeben. Quellenzitate sind „in Anführungszeichen kursiv“ gesetzt.

1.1  Das Sommernarrativ

Der „Beginn des Ersten Weltkriegs im berauschend schönen Sommer 19145 ist zu einem Topos in der Geschichtsschreibung geworden: „Der Hochsommer ließ sich sehr hübsch an6, als die Menschen bei der Heuernte waren.7

Am 1. August 1914, mitten im Ferienglück, befahl der deutsche Kaiser die Mobilmachung“, erinnert sich Erich Kästner.8Einen feinen Sommer ham wir“ beginnt Polizeiagent Brettschneider in Jaroslav Haseks Roman ← 15 | 16 → vom braven Soldaten Schweijk, der zwischen 1921 und 1923 entstanden ist, das Gespräch, mit dem er den Prager Hundehändler Schweijk in der Kneipe zu unvorsichtigen Bemerkungen über die politische Weltlage verleiten will.9 Der in der Einleitung zitierte Helmut Hentrich erinnert, es sei „ein schöner Sommer“ gewesen. Sommer überall – dementsprechend trägt eine der jüngeren Studien dann auch den Titel „Europas letzter Sommer“.10 Stefan Zweig beschreibt in seinen Memoiren das Wien des Jahres 1914:

„Jener Sommer 1914 wäre auch ohne das Verhängnis, das er über die europäische Erde brachte, uns unvergesslich geblieben. Denn selten habe ich einen erlebt, der üppiger, schöner, und fast möchte ich sagen, sommerlicher gewesen. Seidenblau der Himmel durch Tage und Tage, weich und schwül die Luft, duftig und warm die Wiesen, dunkel und füllig die Wälder mit ihrem jungen Grün; heute noch, wenn ich das Wort Sommer ausspreche, muss ich unwillkürlich an jene strahlenden Julitage denken…“11

Dies ist die Passage aus Zweigs Werk, die sicher am häufigsten in diesem Zusammenhang zitiert wird – um den „Prachtsommer12 zu illustrieren.

Noch heute tritt diese Kombination auf: Margaret MacMillan setzt 2013 in ihrer Studie „The War that ended Peace“ das Sommerferienwetter in die ersten Zeilen des Kapitels 18, das sich mit den Folgen des Attentats von Sarajevo beschäftigt: „the weather was warm and sunny […] green lawns looked beautiful […] the summer vacation had already started.13 Der Bezug zum schönen Sommer markiert also eine herausgehobene Stelle innerhalb ihres Buches. Am anderen Ende des breiten Spektrums historiografischen Schreibens, in einer kleinstädtischen Ortschronik, liest sich der gleiche Ansatz, erneut am Kapitelanfang, so: „Am Mobilmachungstag, dem 1. August 1914, einem schönen Sonntag, waren die Menschen noch voller Hoffnung und dachten an einen schnellen, kurzen und erfolgreichen Krieg.“14 Obwohl der 1. August ein Samstag war, ist die Kombination von ← 16 | 17 → Kriegsbeginn und schöner Sonne zu unwiderstehlich, als dass sich der Autor hier den schönen Satz vom Kalender hätte korrigieren lassen wollen. Überdies fällt die pauschale Akteursbezeichnung „die Menschen“ auf, die in dieser Form jedenfalls auf dem flachen Land auf keinen Fall gerechtfertigt ist.

Barbara Tuchman hatte 1964 im SPIEGEL die Vorkriegszeit eingängig „einen gesegneten Sommernachmittag15 genannt; Volker Ullrich nannte 2002 seine Reportage über den Kriegsbeginn „Ein Sommer, wie er keiner mehr war“, deren erster Satz lautet: „Es war ein strahlend schöner Sonntag, jener 28. Juni 1914.“16 Nach dieser Einleitung breitet er auf den nächsten Seiten ein Panorama der Sommereindrücke aus: Menschen im Urlaub, Menschen am Strand, Menschen in der Hitze. Bemerkungen darüber, dass es vielleicht nicht ganz so schön war, folgen erst am Ende seines Kapitels, als er über das „reinigende Gewitter“ schreibt, das manche damals im Krieg gesehen hätten.

Dies leitet über zur zweiten narrativen Tradition neben dem schönen Sommer. In Wien predigte Pfarrer Zimmermann am 4. Oktober 1914 über die Stille vor dem Sturm: „Wir haben sie erlebt, als die Schauerkunde von Serajewo [sic!] durch die Lande flog – da war’s uns als stockte der Herzschlag, alle Sommerluft verstummte – das war die Stille vor dem Sturm, von dem wir fühlten, dass er nun kommen werde…17

Denn die zweite meteorologische Konstruktion ist die des Unwetters. Roger Chickering hatte in seiner Geschichte des Krieges das Kapitel zum Kriegsbeginn ebenfalls mit dem warmen Wetter und den Reisen der Reichen begonnen, dann aber alarmierende Aussichten anlässlich des Mords von Sarajewo festgehalten: they loomed over the consultations. Der deutsche Übersetzer machte aus dem loomed, einem drohenden Schweben, eine Gewitterwolke, die sich über den Beratungen in der deutschen Hauptstadt hielt.18 Denn mitten in diesen Friedenssommer hinein kam der Krieg, so ← 17 | 18 → schien es, wie ein Unwetter: In Hermann Stegemanns‘ „Geschichte des Krieges“ lesen wir 1917 die Sätze:

„In fiebernder Spannung verging der Juli; mit hurtigen Sichelschlägen brachten die geängstigten Völker die auf dem Halm stehende Ernte ein, ein furchtbares Gewitter überzog den Himmel, als je die Welt gesehen hatte. Und doch schien vielen auch dieser Gewitterzug nur mit kalten Schlägen und Wetterleuchten zu drohen, als könne der Frieden im Herzen Europas überhaupt nicht mehr ernstlich gestört werden.“19

Für Carl Peters „schwebte dieser ungeheure Krieg wie eine drohende Wolke über unserm Vaterland“, als er aus London im Sommer 1914 nach Deutschland zurückkehrte.20 Ken Follett dürfte in „Sturz der Titanen“, seinem Roman zum Ersten Weltkrieg, die gleiche Wolke über London beschreiben: „Die Londoner genossen den Sonnenschein, doch über Walter [einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft] türmten sich düstere Wolken auf“.21 Doch sie bleiben nicht über London: „Und nun fällt eine schwarze Wolke über Europa“, schrieb Egon Friedell am Ende seiner „Kulturgeschichte der Menschheit“.22 Gerd Krumeich jedoch schlägt 2014 in der „taz“ einen anderen Ton an: Zwar habe „spätestens ab 1911 eine Kriegswolke über Europa“ gehangen, doch es sei nun nicht so, in der Tradition Fritz Fischers etwa, dass das das Deutsche Reich allein schuld daran gewesen sei.23

Diese drohenden Wolken verbindet der konservative Politiker Elard von Oldenburg-Januschau 1936 in seinen „Erinnerungen“ mit der Erntezeit in Ostpreußen: „Während sich im Juli 1914 die Wolken am politischen Horizont zu einem schweren Gewitter zusammenballten, war ich in der Erntearbeit ganz gefangengenommen.“24 Die Gewitter, die die Ernte bedrohen, und die Kriegsdrohungen treten hier in engem Zusammenhang auf. Auch die Belgier warteten Ende Juli und Anfang August 1914 auf die ← 18 | 19 → Entscheidung, ob sie angegriffen werden, „das ganze Land bangt wie vor einem Gewitter“, schrieb Emil Ludwig.25

Das Gewitter erwähnen auch Adolf Hitler – „Da fuhr denn auch schon der erste gewaltige Blitzstrahl auf die Erde nieder: das Wetter brach los“.26 – und Eric Hobsbawm: „Wie ein Gewitter entlud er [der Krieg] die schweren Wolken der Erwartung und fegte den Himmel sauber.27 Im September 2012 lief im ZDF Guido Knopps Fernsehserie „Weltenbrand“, deren erster Teil über den Ausbruch des Krieges 1914 von SPIEGELonline mit den Worten kommentiert wurde: „Abgesehen davon verzichtet Folge eins auf jeden historischen Kontext: […] Stattdessen bricht der Erste Weltkrieg über den arglosen Zuschauer herein wie ein Stahlgewitter aus heiterstem Himmel.28 Die Verbindung von Gewitter und Krieg wird hier durch den wenig subtilen Hinweis auf Ernst Jüngers Buch „In Stahlgewittern“ noch vertieft.29 In seiner Besprechung der Serie in der Süddeutschen Zeitung setzt der Rezensent Gustav Seibt ebenfalls beim Wetter an:

„Es war ja nicht so, dass Europa 1914 völlig unvorbereitet in den Krieg taumelte – die Juli-Krise handelt der Film in kaum einer Minute ab -, düstere Vorahnungen hatte es viele gegeben. Die auch hier wieder zitierten Sätze von Stefan Zweig und Carl Zuckmayer über den schönen Friedenssommer 1914 könnten von einer Fülle anderer Zeugnisse relativiert werden.“30

Das mahnte bereits 1970 der in der DDR forschende Historiker Fritz Klein an, indem er formulierte:

„Nach einer in sentimentalen Erinnerungsbüchern und apologetischer Publizistik sowie Geschichtsschreibung hartnäckig verfochtenen Legende kam der Krieg, der im heißen Hochsommer des Jahres 1914 begann, wie ein Blitz aus einem lange Zeit trotz mancher Verdüsterung im wesentlichen doch heiteren und friedlichen ← 19 | 20 → Himmel. In Wahrheit waren die Jahre vor 1914 durchaus nicht von strahlendem Sonnenglanz erfüllt.“31

Augenscheinlich drängt die Erzählung vom Sommer und dem Sommergewitter den Autor – und die Kritiker des ZDF-Geschichtsfernsehens – dazu, sich vehement davon abzugrenzen.

Die Verbindung von Krieg und Naturkatastrophe bleibt aber auch in der alten Bundesrepublik nicht unhinterfragt: „Nicht selten wurde der Erste Weltkrieg als eine Art Naturkatastrophe empfunden, die die europäischen Völker gleichermaßen unvorbereitet traf. Doch war er dies wirklich?“ Mit diesen Worten leitete Peter Alter bereits 1984 den Abschnitt über die Kriegsschulddebatte und die Fischer-Kontroverse im Oberstufenlehrbuch „Grundriss der Geschichte“ ein. Alters Antwort war eindeutig: Der Krieg sei keine Naturkatastrophe gewesen.32

Diese Übersicht verschiedener Zitate von verschiedenen Autoren zeigt, dass quer durch das 20. Jahrhundert, quer durch politische Lager und Textgattungen Autorinnen und Autoren einen Bezug zum Sommer, zum Sonnenschein und zu Gewittern herstellen, wenn sie vom Beginn des Krieges schreiben. Dabei ist es gleichgültig, ob sie den Krieg erlebt haben oder nicht, aus welchem Land sie kommen und in welchem Genre sie schreiben.

Es zeichnen sich zwei Argumentationslinien ab: Die einen beschreiben den Sommer 1914 als Idylle und wunderschön. Die anderen lassen den Krieg urplötzlich wie ein Gewitter über den Traumsommer hereinbrechen.33 Die beiden Pole, der schöne Friedenssommer und die Ferien auf der einen Seite und das plötzlich hereinbrechende Stahlgewitter auf der anderen, bilden gemeinsam einen Rahmen, in dem mit meteorologischen Begriffen der Beginn des Krieges gedeutet und erzählt wird.

Diese Erzählweise wird vorliegend als „Sommernarrativ“ bezeichnet.

Doch warum wird dieses Narrativ von so vielen Autoren verwendet? Und welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesem Befund ziehen? ← 20 | 21 →

Das Sommernarrativ von 1914 zu dokumentieren, zu analysieren und zu interpretieren ist das Anliegen dieser Arbeit. Es soll klären, was genau als das Sommernarrativ anzusehen ist, welche Elemente wie und wo dazugehören, ob sich an dieser Sommerdarstellung über die Jahrzehnte Unterschiede finden lassen. Es soll geklärt werden, warum dieses Sommernarrativ die Deutung des Kriegsbeginns bei so vielen Autoren transportiert, warum aber auch einige auf dieses Narrativ verzichten oder ihm ausdrücklich widersprechen.

1.2  Fragestellung und Forschungsstand

Der Begriff der „Meistererzählung“ hat in den letzten Jahren eine gewisse Konjunktur erlebt: Er wird für geschichtliche Großdeutungen verwendet, die den großen Bogen spannen und rückblickend dem Einzelgeschehen einen Platz im sinnvollen Ganzen zuweisen. Dieser Begriff bezeichnet zentrale Strukturmuster der Erzählung von und Erzählungen über Geschichte, deren (Be)Deutung in ihrer narrativen Struktur realisiert wird.

Zu solchen Grundmustern von Geschichtsdeutung gehört Deutschlands „langer Weg nach Westen“ oder der „deutsche Sonderweg“ ebenso wie die Periodisierung des langen 19. und kurzen 20. Jahrhunderts. An solchen Konstruktionen von Historikern lässt sich erkennen, wie aus „dem Gewesenen ‚an sich‘ Geschichte ‚für uns‘“34 gemacht wird. Ihre politische und gesellschaftliche Relevanz erhalten solche Meistererzählungen dann, wenn sie explizit zu Legitimationszwecken gebraucht, ggf. missbraucht werden.35 Wie es in dieser Hinsicht um den Sommer 1914 und das Sommernarrativ bestellt ist, wird zu klären sein.

Martin Sabrow und Konrad Jarausch haben einen Versuch gemacht, den Begriff Meistererzählung ohne distanzierende Anführungsstriche zu definieren und für die historische Forschung fruchtbar zu machen. Sie sehen in einer Meistererzählung oder master narrative eine „in einer kulturellen Gemeinschaft zu einer gegebenen Zeit dominante Erzählweise des ← 21 | 22 → Vergangenen“, „eine kohärente, mit einer eindeutigen Perspektive ausgestattete Geschichtsdarstellung, deren Prägekraft nicht nur innerfachlich schulbildend wirkt, sondern öffentliche Dominanz erlangt.“36

Der Traumsommer 1914 bildet auf den ersten Blick solch eine Erzählweise der Vergangenheit. Inwieweit sie dominant ist, wo sie dies ggf. noch immer ist, wann sie dies war, ob dies auf eine kulturelle Gemeinschaft beschränkt war oder noch ist, wie ggf. die kohärente Perspektive ausgesehen hat – das soll im Rahmen dieser Studie erörtert werden.

Details

Seiten
344
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631693919
ISBN (PDF)
9783653071849
ISBN (MOBI)
9783631693926
ISBN (Hardcover)
9783631677025
DOI
10.3726/978-3-653-07184-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. 244 S., 15 s/w Abb., 7 Tab.

Biographische Angaben

Matthias Bode (Autor:in)

Matthias Bode studierte in Marburg Geschichte und Englisch. Er wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert und lehrt Geschichtsdidaktik an der Universität Marburg.

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Titel: Traumsommer und Kriegsgewitter
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