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Vielfalt der Linguistik

Bausteine zur diachronen und synchronen Linguistik

von Maria Biskup (Band-Herausgeber:in) Anna Just (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 310 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch enthält wissenschaftliche Beiträge von jungen und etablierten Forscherinnen und Forschern zu mehreren Aspekten diachroner und synchroner Sprachwissenschaft. Die Autorinnen und Autoren gehen u.a. auf textlinguistische, onomastische und lexikologische Fragestellungen sowie Sprachkontakte und Fachsprachen ein.
„Der vorliegende Band ist eine gelungene, ausgewogene Monographie, die Prof. Józef Wiktorowicz (Universität Warschau) gewidmet ist. Er fügt sich in die in den letzten Jahren wieder aufgenommene sprachwissenschaftliche Forschung mit historisch-kultureller Ausrichtung ein und stellt dabei einen wichtigen Versuch dar, Ergebnisse dieser Forschung zu dokumentieren. […] Der viele treffende Erkenntnisse und Schlüsse präsentierende Band leistet einen wichtigen Beitrag zu sprachwissenschaftlichen Untersuchungen und kann darüber hinaus selbst eine Grundlage für breiter angelegte philologische Forschung sein."
Dr. habil. Andrzej S. Feret (Jagiellonen-Universität in Karków)

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Uber das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Autorenverzeichnis
  • Zur Analyse der thematischen Progression in komplexen Gebrauchstexten am Beispiel von Allgemeinen Versicherungsbedingungen: (Thomas-Sebastian Bertram)
  • Etymologie und Spezifik des deutschen medizinischen Fachvokabulars: (Wiesława Małgorzata Chyżyńska)
  • Sprachwandel und Urbanisierung. Die Auswirkungen der Stadtentwicklung auf die Entstehung des Ruhrdeutschen am Beispiel von Bochum, Essen und Duisburg: (Lisa Glaremin)
  • Asymmetrische Wortäquivalenz in der Zweisprachigkeit: (Anna Jorroch)
  • Ältere deutsch-kroatische und deutsch-polnische Sprachlehrwerke im Vergleich: (Anna Just)
  • Polnischer und deutscher Name im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Komisja Ustalania Nazw Miejscowości. Versuch einer Begriffsinterpretation am Beispiel von Toponymen der Gemeinde Barczewo: (Krzysztofa Juszczal)
  • der selben stunde unde der zît, / als ir gewon ze komene sît. Eine Perspektivierung von Zeit und Zeitlichkeit als Perspektivierung im Tristan: (Anna Karin)
  • Bezeichnungen aus der Pflanzenwelt in der deutschen und polnischen Phraseologie: (Jolanta Kotnowska)
  • Zur Wortbildungssynonymie und -antonymie im Deutschen: (Monika Kulik)
  • Diminuierung in alten Grammatiken der polnischen Sprache für Deutsche: (Anna Majdak)
  • Tier- und Pflanzennamen in historischen Texten: Zum Identifizierungsproblem am Beispiel zweier Belege im „Niederrheinischen Orientbericht“: (Anja Micklin)
  • Zu Motivierungstendenzen der gegenwärtigen Urbanonyme in der Stadt Chmielnik unter Einbeziehung der Straßen- und Platzumbenennung in der Zeit der Teilungen Polens sowie der NS-Besatzung: (Piotr A. Owsiński)
  • Interjektionen im Deutschen und Polnischen aus einer diachronen Perspektive: (Anna Maria Rudnik)
  • Über die Schwierigkeit des Lobens: (Birgit Sekulski)
  • Kuriose Gestalten, dubiose Geschäfte und trübe Wetterlage: Wörter und Wendungen im Kontext aus der Wirtschaftspresse des ausgehenden 19. Jahrhunderts: (Grażyna Strzelecka)
  • Strukturierung des Tages durch Temporaladverbien: Von (früh)morgens bis (spät)nachts – Genese, Entwicklung, Verbreitung: (Claudia Wich-Reif)
  • Zur Kanzleisprachenforschung: das Elbinger Frühneuhochdeutsch anhand der Akten der Stadt Elbing. Die wichtigsten Merkmale und Untersuchungsperspektiven: (Agnieszka Zimmer)
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Reihenubersicht

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Autorenverzeichnis

Thomas-Sebastian Bertram

Universität Bonn (Bonn)

Wiesława Małgorzata Chyżyńska

Uniwersytet Warszawski (Warszawa)

Lisa Glaremin

Universität Bonn (Bonn)

Anna Jorroch

Uniwersytet Warszawski (Warszawa)

Anna Just

Uniwersytet Warszawski (Warszawa)

Krzysztofa Juszczal

Uniwersytet Warszawski (Warszawa)

Anna Karin

Universität Bonn (Bonn)

Jolanta Kotnowska

Uniwersytet Warszawski (Warszawa)

Monika Kulik

Uniwersytet Warszawski (Warszawa)

Anna Majdak

Uniwersytet Warszawski (Warszawa)

Anja Micklin

Universität Bonn (Bonn)

Piotr A. Owsiński

Uniwersytet Jagielloński (Kraków)

Anna Maria Rudnik

Uniwersytet Warszawski (Warszawa)

Birgit Sekulski

Uniwersytet Warszawski (Warszawa)

Grażyna Strzelecka

Uniwersytet Warszawski (Warszawa)

Claudia Wich-Reif

Universität Bonn (Bonn)

Agnieszka Zimmer

Uniwersytet Warszawski (Warszawa)

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←10 | 11→Thomas-Sebastian Bertram

Zur Analyse der thematischen Progression in komplexen Gebrauchstexten am Beispiel von Allgemeinen Versicherungsbedingungen

Abstract: Der Beitrag thematisiert die Anwendung des Thema-Rhema-Modells auf Allgemeine Versicherungsbedingungen, also auf komplexe Gebrauchstexte von erheblicher Länge und mit ausgeprägter interner Strukturierung. Es zeigt sich, dass der Einbezug der von F. Daneš vorgeschlagenen Klassifikation von fünf Typen der thematischen Progression detaillierte Einblicke in die typischen Merkmale dieser Textsorte eröffnet. Neben den analytischen Herausforderungen, die die Komplexität der Textsorte für die Anwendung des Modells bedingt, steht die Frage nach der spartenübergreifenden Verwendung eines bestimmten Progressionstyps im Mittelpunkt. Vor dem Hintergrund aktueller Initiativen zur verständlicheren Gestaltung von Versicherungsbedingungen erscheint das Thema-Rhema-Modell so als ein perspektivisch interessanter Ansatz zur Textoptimierung.

Schlüsselwörter: Thema-Rhema-Gliederung, thematische Progression, Textsortenanalyse, Allgemeine Versicherungsbedingungen, Rechtssprache.

1 Zum Einsatz der Thema-Rhema-Gliederung in der Text(sorten)analyse

Das Thema-Rhema-Modell hat sich seit den frühen Überlegungen Ende der 1920er Jahre von V. Mathesius zur Unterscheidung von Satzgegenstand und -aussage bis heute als Instrument zur textlinguistischen Analyse etabliert (vgl. Mathesius 1929). Wegweisend ist hierfür unter anderem eine Reihe von anwendungsorientierten Beiträgen aus den 1970er und 1980er Jahren, die einen wichtigen Bezugspunkt auch für aktuelle Studien darstellen. Sie stehen in engem Zusammenhang mit den theoretischen Weiterentwicklungen des Modells von F. Daneš, an dessen Überlegungen zu Grundtypen der thematischen Progression sich auch die folgende Untersuchung orientiert. Für eine Nutzbarmachung der Thema-Rhema-Analyse zu textlinguistischen Zwecken plädierte bereits E. Beneš, besonders im Hinblick auf eine mögliche textsortenspezifische Ausprägung bestimmter Thema-Rhema-Strukturen etwa bei Wetterberichten und Kochrezepten (vgl. Beneš 1973: 55f). Thema-Rhema-Strukturen zeigen ihre Relevanz für die Textkomposition u.a. darin, dass sie in aktuellen Einführungen zur Textlinguistik und zur Syntax einen festen Platz innehaben; zu nennen ist ←11 | 12→hier besonders die (nicht unkritische) Darstellung der thematischen Progression nach Daneš in der neuesten Auflage der Linguistischen Textanalyse.1

Um die in diesem Beitrag vorgenommene beispielhafte Anwendung des Modells auf einen Repräsentanten der komplexen Gebrauchstextsorte „Allgemeine Versicherungsbedingungen“ zu begründen und einzuordnen, werden zunächst einige Besonderheiten bereits vorliegender Untersuchungen betrachtet. Dabei ist festzustellen, dass die Bandbreite der Textsorten, deren Thema-Rhema-Strukturen in der Forschungsliteratur betrachtet wurden, recht groß ist: Sie umfasst einerseits fiktionale Literatur, andererseits auch Gebrauchs- und Fachtexte. Zum Erstgenannten gehören beispielsweise Studien zu dramatischen Texten (Filipec 1974) und zu Kurzprosa wie Brechts Herrn K.s Lieblingstier (Gülich/Raible 1977: 80–85), zu Letzterem solche zu Wetterberichten (Scherner 1973) und amerikanischen Wirtschaftsfachtexten (Gerzymisch-Arbogast 1987). Eine übergreifende Perspektive nimmt O. Moskalskaja ein, sie zieht zur Demonstration von Thema-Rhema-Strukturen sowohl Textbeispiele von Thomas Mann und Anna Seghers als auch Auszüge aus Sachtexten heran (Moskalskaja 1984: 24f).

Insgesamt ist allerdings auffällig, dass in vielen der genannten Studien nur Satzpaare oder ganz kurze Textabschnitte betrachtet werden. So stellt etwa M. Scherner zwar offenbar vollständige Wetterberichte aus ARD und ZDF als Beispiel für die Besprechung einer alltagsrelevanten Textsorte im schulischen Deutschunterricht zusammen, tatsächlichen Eingang in die Thema-Rhema-Analyse finden dann allerdings meist nur die jeweils ersten beiden Sätze jedes einzelnen Wetterberichts (vgl. Scherner 1973: 65). Dieses Vorgehen wird nicht explizit begründet. Weil Scherner die Grundtypen der thematischen Progression aber ausdrücklich nach dem Vorbild des kurz vorher erschienenen Beitrags von ←12 | 13→F. Daneš kategorisiert (vgl. Daneš 1970), lässt sich vermuten, dass dieser Beitrag auch hinsichtlich der quantitativen Auswahl des Untersuchungsmaterials vorbildhaft gewesen ist. Daneš selbst hatte vorrangig kurze Sequenzen einfacher Hauptsätze, mitunter auch koordinierter Hauptsätze, zur Illustration der Thema-Rhema-Strukturen herangezogen, nur wenig Hypotaxen und keine längeren Ganztexte.

Für eine solche Bevorzugung kurzer und syntaktisch tendenziell einfach strukturierter Texte kommen natürlich mehrere Gründe infrage: Offensichtlich ist, dass eine wirklich vollständige Wiedergabe aller thematischen und rhematischen Einheiten sowie der thematischen Progression in komplexen und langen Texten selbst bei schematischer Darstellungsweise rasch recht unübersichtlich werden kann, sodass Gesamtübersichten nur noch schwer zu handhaben sind. Ein Beispiel für die Komplexität einer solchen Darstellung stellt die mehrseitige Skizze der thematischen Progression eines englischsprachigen Gesetzestextes von Gerzymisch-Arbogast dar, in Ansätzen lässt aber auch die Darstellung von Gülich und Raible zu Herrn K.s Lieblingstier diese Schwierigkeit erkennen.2

Neben der schwierigen Präsentation der Ergebnisse sind es vor allem modellinterne Probleme, die bei komplexen Texten besonders klar zutage treten. Dies betrifft zunächst die als zu unscharf empfundene Definition und Abgrenzung von Thema und Rhema, genauer gesagt die Frage, welche verlässlichen Kriterien zur objektiven Bestimmung dieser Einheiten herangezogen werden können – die Verwendung von „Ergänzungsfragen“3 wird im Allgemeinen nicht als hinreichend betrachtet. Eine gängige Definition – die auch dem empirischen Teil dieses Beitrags zugrunde gelegt werden soll – lautet:

Thema ist […] einerseits das, worüber etwas mitgeteilt wird, und andererseits das, was aus dem Kontext oder der Situation ableitbar ist, also die bekannte oder gegebene Information; Rhema ist einerseits das, was über das Thema mitgeteilt wird, andererseits die nicht aus dem Kontext oder der Situation ableitbare, neue Information. (Gülich/Raible 1977: 74)

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Die Tatsache, dass es damit eigentlich jeweils zwei verschiedene, nicht unbedingt übereinstimmende Dimensionen sind, über die festgelegt wird, was Thema und was Rhema ist, hatte Daneš selbst als beherrschbares Problem gekennzeichnet:

Im Grunde genommen, [sic] sollte man zwei verschiedene Aspekte der funktionellen Satzperspektive unterscheiden: der erste betrifft die Distinktion „Thema – Rhema“, der zweite wieder die Distinktion „das Bekannte – das Neue“. Da aber beide Aspekte in den meisten Fällen zusammenfallen, können wir in unseren heutigen Erwähnungen auf den Unterschied zwischen dem thematischen und dem kontextuellen Aspekt verzichten. (Daneš 1970 : 73)

In ähnlicher Weise wies Beneš darauf hin, dass beide Analysedimensionen zu unterschiedlichen Resultaten führen können:

In vielen Fällen kommt man bei der TRG-Analyse nach beiden Kriterien zu demselben Ergebnis: das „Gegebene, Bekannte, Vorausgesetzte“ liegt der Mitteilung zugrunde, das „Neue“ ist der Mitteilungskern. Manchmal kommt man dann aber zu einem unterschiedlichen Ergebnis. Es gibt Sätze, in denen alles „bekannt“ oder alles „unbekannt“ ist, und trotzdem können sie nach dem zweiten Kriterium in T und R gegliedert werden. (Beneš 1973: 45)

Spätere Autoren plädierten noch entschiedener für eine Trennung der Kriterien, ohne dass aber ein abschließender Konsens zum Thema-Begriff hätte erreicht werden können.4 Zu überlegen ist auch, ob ein solcher übergreifender Konsens überhaupt zu erzielen ist, oder ob sich die Bestimmung nicht eher nach den Anforderungen der jeweiligen Forschungsfrage richten sollte, beispielsweise in Abhängigkeit davon, ob die Studie eher auf die Erforschung von Ganztextstrukturen ausgerichtet ist oder auf Phänomene bis zur Satzebene, wie beispielsweise die Abfolge bestimmter syntaktischer Einheiten in einem topologischen Feld. Ein Beispiel für eine solche Festlegung unter besonderer Berücksichtigung einer psycholinguistischen Perspektive bietet M. Schwarz, die das Thema als „die für den Rezipienten im TWM [i.e. Textweltmodell] verankerte und somit mühelos ←14 | 15→erreichbare Information in einem Text“ definiert, während das Rhema „die noch nicht im TWM repräsentierte Information“ ist.5

Als besonders kritisch ist auch die Frage identifiziert worden, wie mit ober- und untergeordneten Thema-Rhema-Strukturen in Teilsätzen auf unterschiedlichen Hierarchiestufen umgegangen werden soll:

In solchen Fällen müßte man mit einer Hierarchie der Thema-Rhema-Gliederung arbeiten, die deutlich machen würde, daß die Thema-Rhema-Gliederung in eingebetteten Sätzen bzw. in Teilsätzen hierarchisch tiefer steht als die „Progression“ von einem Satz zum andern. Daneš erwähnt eine solche Hierarchie ausdrücklich (1970/74: 114), er gibt aber keine genauen Anweisungen, wie in einem solchen Fall konkret zu verfahren ist. (Gülich/Raible 1977: 81f)

Gülich und Raible lösen das so entstandene Problem, indem sie für ihren Untersuchungstext auch eine vereinfachte Variante diskutieren, bei der sie nur das Thema und das Rhema des ersten Hauptsatzes (unter bewusster Auslassung untergeordneter Satzstrukturen) relevant setzen. Sie weisen aber später darauf hin, dass aufgrund solcher individueller Entscheidungen der Wert der Gesamtdarstellung vermindert wird (vgl. ebenda: 83ff).

Fraglich ist, ob die Unterscheidung von „neuer“ und „bekannter“ Information tatsächlich strikt dichotom erfolgen kann, oder ob der Neuigkeitswert nicht vielmehr unterschiedliche Grade auf einer Skala erreicht, e.g. in Abhängigkeit von dem jeweiligen Kontext oder dem Vorwissen des Lesers.6 Diesem Gedanken folgend ist zu entscheiden, ob bei der praktischen Analyse auf eine Taxonomie der unterschiedlichen Bekanntheitsgrade von Referenten zurückgegriffen wird, wie sie von E. Prince in englischer Sprache aufgestellt wurde (Prince 1981). Prince nimmt an, dass sich die Referenten in einem Text einem von sieben unterschiedlichen Bekanntheitsgraden („Assumed Familiarity“) zuordnen lassen, und demonstriert dies anhand eines Mitschnitts einer mündlichen Äußerung und anhand eines Abschnitts aus einem soziolinguistischen Fachbuch, wobei sich unterschiedliche Erfolge zeigen: Während sich für die mündliche Äußerung aufgrund der verhältnismäßig einfachen Thematik und der überschaubaren Satzkomplexität und -länge eine gute Anwendbarkeit zeigt, entstehen bei der Analyse ←15 | 16→des Fachtextes vermehrt Zweifelsfälle. Verantwortlich dafür sind vor allem die Größe und Art der zu klassifizierenden Einheiten, die im Fachtext häufig abstrakter Natur und zudem noch in sich komplex sind. Prince stellt aus diesem Grund ihre Analyse selbst unter Vorbehalt, indem sie explizit warnt, die Kategorisierungen seien in einigen Punkten sicherlich nicht unangreifbar.7 Gerade für Versicherungsbedingungen sind solche abstrakten Einheiten in erhöhtem Maße zu erwarten, daher wurde für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand die Entscheidung getroffen, keine solche graduelle Skala anzunehmen, sondern mit den beiden Kategorien „bekannt“ vs. „neu“ zu arbeiten, wohl wissend, dass es sich dabei um eine Vereinfachung der tatsächlichen Verhältnisse handelt.

Ein grundsätzliches Problem besteht bei Texten mit fachlich komplexen Inhalten auch darin, dass die Bekanntheit eines Referenten in graduellen Modellen grundsätzlich nicht nur durch explizite, objektiv feststellbare Vorerwähnung im Text bedingt ist, sondern auch durch Interferenzen aus dem Weltwissen des Lesers/Hörers folgen kann. So argumentiert Prince etwa: Wird in einem Text erst das Wort Bus erwähnt, kann bei folgender Erwähnung des Wortes Fahrer der letztgenannte Referent nicht mehr als völlig neu gelten, weil der Leser aufgrund seines Weltwissens annehmen kann, dass zu einem Bus ein Fahrer gehört.8 In Alltagsbeispielen funktionieren solche Schlussfolgerungen unabhängig davon, ob der Leser über besondere Expertise in einem bestimmten Fachgebiet verfügt. Dass es bei der Einstufung von Referenten als ‚bekannt‘ aber sehr auf die unterschiedlichen Wissensstände von Produzent und Referent ankommen kann, betont bereits Daneš: „Given or known is that information which is derivable or recoverable (to use Hallidayʼs wording) from the context, situation and the common knowledge of the speaker and listener“ (Daneš 1974: 109). Diese Einschätzung ist nicht auf eine spezielle Textsorte bezogen, sondern betrifft im Grunde sämtliche Kommunikationsprozesse. In komplexen und auch fachlich anspruchsvollen Texten wie Versicherungsbedingungen scheint die Einstufung der Einheiten nun in besonderem Maße vom speziellen individuellen Kenntnisstand des Lesers abzuhängen; der juristische Laie kann hier weit weniger als gegeben annehmen als der Fachmann. Zwar sind Versicherungsbedingungen grundsätzlich nicht für Experten bestimmt, sondern für jeden Kunden, der eine Versicherung abschließt. Die Texte sind jedoch nicht nur unter Laien allgemein ←16 | 17→berüchtigt für ihre mangelnde Verständlichkeit.9 Inwiefern ein bestimmtes Vokabular mit seinen Implikationen daher korrekt verstanden wird, steht durchaus zur Debatte: Ein Beispiel hierfür ist die Verwendung der Begriffe Eigentümer und Besitzer, deren Unterscheidung im juristischen Sinne wohl nicht jedem Leser ad hoc bewusst ist.10

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass trotz gewisser terminologischer Kontroversen und Probleme rund um die Bestimmung des Themabegriffs die Thema-Rhema-Analyse breite Anwendung gefunden hat und als nach wie vor aussichtsreicher Ansatz zur Analyse der Besonderheiten einzelner Textsorten gelten darf. Vor diesem Hintergrund wird nun untersucht, inwiefern sich der Ansatz eignet, um typische Strukturen in einer komplexen Gebrauchstextsorte, nämlich Allgemeinen Versicherungsbedingungen, aufzuzeigen. Grundlage sind dabei die fünf von Daneš vorgeschlagenen Typen thematischer Progression, die vor der dann folgenden Auswertung in aller Kürze skizziert seien.

2 Grundtypen der thematischen Progression

Im Rahmen seines Aufsatzes Zur linguistischen Analyse der Textstruktur plädierte Daneš bereits 1970 dafür, fünf Typen der thematischen Progression in Texten zu unterscheiden. Die anhaltende Aktualität dieser Unterscheidung wird unter anderem daran ersichtlich, dass nicht nur Brinker, Cölfen und Pappert, sondern auch die letzte Ausgabe der Duden-Grammatik sie ausführlich referieren (vgl. ←17 | 18→Brinker/Cölfen/Pappert 2018: 47ff, Wöllstein 2016: 1145ff). Im Einzelnen legt Daneš die Typen so fest:11

Typ 1), die „einfache lineare Progression“: Das Rhema des voranstehenden Satzes wird Thema des folgenden Satzes. Beispiel: „Unsere Wirtschaft sucht rationelle Arbeitsverfahren. Rationelle Arbeitsverfahren verlangt auch die Wissenschaft.“

Typ 2), die Progression mit einem „durchlaufenden Thema“: Hier bleibt das Thema satzübergreifend gleich, es wird e.g. durch Wiederholung oder pronominal wiederaufgegriffen und es werden ihm immer neue rhematische Informationen zugesprochen. Beispiel: „Goethe war überzeugt von dem Fortschritt der menschlichen Entwicklung. Er trat für die Erziehung des Menschengeschlechts zur friedlichen Entwicklung ein. […] Goethe nannte sich ‚ein Kind des Friedens‘.“

Typ 3), die „Progression mit abgeleiteten Themen“: Es existiert ein (übergeordnetes) Hyperthema, dem sich die Themen der einzelnen Sätze unterordnen lassen. Beispiel: „Die Sozialistische Republik Rumänien liegt am Schnittpunkt des 45. Breitenkreises mit dem 25. Längenkreis. Die Bodenfläche des Landes beträgt 235.500 Quadratkilometer; seine Bevölkerungszahl ist 19 Millionen Einwohner.“

Typ 4), das „gespaltene Rhema“: Im voranstehenden Satz existiert ein Rhema aus mindestens zwei Komponenten, von denen in den folgenden Sätzen zuerst die eine, dann die andere separat thematisiert wird. „Die Widerstandsfähigkeit in feuchter und trockener Luft ist bei verschiedenen Arten pathogener Viren sehr unterschiedlich. Poliomyolitisviren sterben in trockener Luft sofort ab, während sie bei einer Luftfeuchtigkeit von 50% relativ stabil sind. (…) Bei Grippeviren ist es hingegen umgekehrt“.

Typ 5), der „thematische Sprung“: Hierbei handelt es sich um eine „Modifikation der einfachen linearen Progression“, wobei aber „in einer Progression ein Glied der thematischen Kette ausgelassen wird (und zwar ein solches Bindeglied, das leicht aus dem Kontext ergänzt werden kann)“ (Daneš 1970: 78). ←18 | 19→Beispiel: „Hans wurde in ein dunkles Zimmer geführt. Es war mit wertvollen Möbeln ausgestattet. Die Teppiche zeigten leuchtende Farben.“

Konkret sind für die Untersuchung von Versicherungsbedingungen folgende Fragen von besonderem Interesse: Welche der beschriebenen Typen lassen sich in dem Beispieltext ausmachen? Ist ein dominierender Typus festzustellen? Gibt es nicht zuordnungsfähige Passagen oder solche mit mehreren Zuweisungsmöglichkeiten?

3 Gegenstand der empirischen Untersuchung

Für die exemplarische Untersuchung wurden die Allgemeinen Bedingungen für die Feuerversicherung (AFB 2010) des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in der Version vom 01.04.2014 ausgewählt.12 Der GDV legt mit diesem Text einen unternehmensübergreifenden Standard und einen zentralen Orientierungs- und Bezugspunkt für die Akteure auf dem Versicherungsmarkt fest. Zwar ist es den einzelnen Versicherern freigestellt, eigene und abweichende Bedingungen zu formulieren, weil die Verwendung dieses Musters nicht obligatorisch ist.13 Trotzdem ist von einer hohen praktischen Relevanz auszugehen, zumal die unkomplizierte Verfügbarkeit es Kunden erlaubt, rasche Vergleiche zwischen verschiedenen Anbietern anzustellen und bei ihrer Entscheidungsfindung für oder gegen ein bestimmtes Unternehmen zu berücksichtigen. Der Text hat einen Umfang von ungefähr 10.000 Wortformen und ist in ein Inhaltsverzeichnis und zwei Abschnitte A und B eingeteilt, von denen der erste 14, der zweite 23 Paragraphen enthält. Die Paragraphen bestehen meistens nur aus wenigen Sätzen, weisen aber trotzdem häufig eine innere Aufteilung mittels Gliederungspunkten (Buchstaben und/oder Ziffern) auf. Die paragrapheninterne Hierarchie erreicht dabei eine Tiefe von drei Gliederungsebenen. Diese strenge formale Strukturierung unterscheidet die Versicherungsbedingungen von vielen anderen Texten, die im Rahmen von Studien zur Thema-Rhema-Struktur betrachtet wurden, besonders von Textbeispielen aus der fiktionalen Literatur.

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4 Auswertung

Für die einfache lineare Progression kommen besonders solche Passagen in Betracht, in denen ein neuer Sachverhalt, Gegenstand oder Begriff eingeführt wird, der dann im Folgesatz direkt wieder aufgegriffen und näher erläutert wird:

(1) Der Versicherungswert von Gebäuden ist

Details

Seiten
310
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631822579
ISBN (ePUB)
9783631822586
ISBN (MOBI)
9783631822593
ISBN (Hardcover)
9783631802885
DOI
10.3726/b16989
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Sprachwandel Textlinguistik Sprachkontakte Phraseologie Wortbildung Fachsprachen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 310 S., 60 s/w Abb., 8 Tab.

Biographische Angaben

Maria Biskup (Band-Herausgeber:in) Anna Just (Band-Herausgeber:in)

Maria Biskup arbeitet am Institut für Germanistik der Universität Warschau. Zu ihren Forschungsbereichen gehören Semantik, Wortbildung und Übersetzungswissenschaft. Anna Just arbeitet am Institut für Germanistik der Universität Warschau. Zu ihren Forschungsgebieten gehören historische Linguistik, Kodikologie und Paläographie.

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Titel: Vielfalt der Linguistik
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