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Staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

Grundlagen, Grenzen, Rechtsschutzmöglichkeiten

von Marina Khachatryan (Autor:in)
©2020 Dissertation 300 Seiten

Zusammenfassung

Die staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren und die Interessen der hiervon Betroffenen stehen in einem Spannungsverhältnis. Diese Publikation befasst sich zunächst mit den rechtlichen Rahmenbedingungen staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit im Stadium des Ermittlungsverfahrens. Anschließend werden die (rechtlichen) Handlungsmöglichkeiten dargestellt, die dem Beschuldigten hiergegen zur Verfügung stehen. Schließlich setze ich mich mit der neuzeitlichen Problematik dauerhafter Online-Abrufbarkeit längst zurückliegender staatsanwaltschaftlicher Stellungnahmen auseinander, die (personenbezogene) Informationen aus laufenden Ermittlungsverfahren betreffen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Kapitel: Einleitung
  • 2. Kapitel: Bedeutung und Inhalt staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit
  • A. Lebach-Urteil
  • B. Die Staatsanwaltschaft als Organ der Rechtspflege
  • I. Stellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren
  • II. Verfahrensgrundsätze des Ermittlungsverfahrens
  • 1. Offizialprinzip
  • 2. Anklagegrundsatz
  • 3. Legalitätsprinzip
  • 4. Faires Verfahren
  • 5. Unschuldsvermutung
  • C. Entstehung und Zweck von (staatlicher) Öffentlichkeitsarbeit
  • I. Urteil des BVerfG zur Öffentlichkeitsarbeit des Staates
  • II. Urteil des BVerwG zur Publikation veröffentlichungswürdiger Entscheidungen
  • III. Rechtsprechungsfortführung durch das BVerfG
  • IV. Urteil des BGH
  • V. Die Staatsanwaltschaft als Teil öffentlicher Staatsgewalt
  • VI. Begriffsdefinition von Öffentlichkeitsarbeit
  • D. Instrumente staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit
  • I. Pressemitteilung
  • II. Pressekonferenz
  • III. Interview
  • IV. Neue Medien
  • E. (Gesetzliche) Vorgaben für die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft
  • I. Gesetzliche Ermächtigungsgrundlage
  • 1. Verfassungsunmittelbarer Auskunftsanspruch
  • a. Urteile des BVerwG
  • b. Urteil des BVerfG
  • c. Reaktionen auf die Urteile des BVerwG
  • aa. Gegenstimmen
  • bb. Befürworter
  • cc. Ansicht Altenhains
  • d. Stellungnahme
  • e. Zusammenfassung
  • 2. Landesverfassung
  • 3. Pressegesetze der Länder
  • a. Inhalt, Form und Frist des Auskunftsanspruchs
  • b. Schranken
  • aa. § 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 HPresseG
  • bb. § 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 HPresseG
  • cc. § 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 HPresseG
  • 4. § 475 Abs. 4, 1 StPO
  • 5. Informationsfreiheitsgesetz (IFG)
  • a. Berechtigte, Verpflichtete
  • b. Form, Inhalt, Schranken
  • c. Auswirkungen des Urteils des BVerwG vom 20.2.2013
  • aa. Oberste Bundesgerichte
  • bb. GBA
  • d. Nachteile des IFG
  • 6. Zusammenfassung
  • II. Inhaltliche Vorgaben für die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft
  • 1. Ziffer 23 RiStBV
  • a. Rechtsnatur
  • b. Leitlinien
  • aa. Unschuldsvermutung
  • bb. Faires Verfahren
  • cc. Bekanntgabe über Anklageschrift
  • dd. Nichtidentifizierbarkeitsgrundsatz
  • ee. Einzelfalldarstellung: Fall Jahns
  • c. Folgen eines Verstoßes gegen Ziffer 23 RiStBV
  • 2. Richtlinien für die Zusammenarbeit der hessischen Staatsanwaltschaft mit den Medien
  • a. Rechtsnatur
  • b. Inhaltliche Vorgaben
  • c. Folgen eines Richtlinienverstoßes
  • 3. Richterrechtliche Grundsätze der Verdachtsberichterstattung
  • a. Die Verdachtsberichterstattung
  • b. Kriterien zulässiger Verdachtsberichterstattung
  • aa. Mindestbestand an Beweistatsachen
  • bb. Keine Vorverurteilung
  • cc. Gelegenheit zur Stellungnahme
  • dd. Vorgang von gravierendem Gewicht
  • 4. Zusammenfassung
  • III. Allgemeines Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten
  • 1. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht
  • a. Recht auf informationelle Selbstbestimmung
  • b. Selbstdarstellungsrecht
  • c. Recht auf Anonymität
  • 2. Sphärentheorie
  • 3. Mediale Berichterstattung über Strafverfahren
  • 4. Übertragung der Sphärentheorien auf Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft zum Ermittlungsverfahren
  • a. Intimsphäre
  • b. Privat- und Sozialsphäre
  • 3. Kapitel: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren
  • A. Öffentlichkeit im Ermittlungsverfahren
  • B. Das Ermittlungsverfahren
  • C. Probleme staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren
  • I. Grundsatz der Unschuldsvermutung
  • II. Allgemeines Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten
  • III. Gefährdung des Ermittlungserfolgs
  • 1. Divergenz zwischen Informationspflicht und nichtöffentlichem Ermittlungsverfahren
  • 2. Staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit in Eigeninitiative
  • IV. Erweiterung des Öffentlichkeitsgrundsatzes auch im Ermittlungsverfahren?
  • 1. Reformüberlegungen zu § 169 GVG
  • a. § 169 S. 2 GVG a.F.
  • b. § 169 GVG n.F.
  • 2. Übertragung auf die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft
  • V. Überwiegendes öffentliches Informationsinteresse
  • VI. Zwischenfazit
  • VII. Unbefangenheit von Prozessbeteiligten
  • 1. Erkennendes Gericht
  • a. Berufsrichter
  • b. Schöffe
  • 2. Zeuge und Sachverständiger
  • VIII. Fehlende Ermächtigungsgrundlage
  • 1. Gesetzliche Grundlage
  • 2. Legitimation aufgrund sonstiger Ermächtigung
  • 3. Recht der Staatsanwaltschaft auf Öffentlichkeitsarbeit
  • 4. Öffentlichkeitsarbeit als verfassungsimmanente Aufgabe
  • a. Übertragbarkeit der Rechtsprechungsgrundsätze des BVerwG
  • b. Inhalt der getätigten Äußerung
  • D. Zusammenfassung
  • E. Reformvorschlag
  • I. Gesetzgebungskompetenz
  • 1. Wesensmäßige und historische Zugehörigkeit
  • 2. Gesetzgebungskompetenz zur Regelung staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit
  • II. Bisherige Reformvorschläge
  • III. Formulierungsvorschlag
  • 4. Kapitel: Begrenzung staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren
  • A. Partielle Schweigepflicht der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren
  • I. Entgegenstehendes überwiegendes öffentliches Informationsinteresse an ausnahmsloser Schweigepflicht
  • II. Umkehrschluss zum presserechtlichen Auskunftsanspruch
  • III. Partielle Schweigepflicht mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage
  • B. Einschränkung der Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren
  • I. Inhaltliche Verschärfung der Vorgaben zur Öffentlichkeitsarbeit („Wie“)
  • II. Beschränkung auf reine Verfahrensvorgänge
  • III. Entsprechende Anwendung der §§ 170 ff. GVG
  • IV. Zusammenfassung
  • 5. Kapitel: Rechtsschutzmöglichkeiten des Beschuldigten
  • A. Eigene Pressearbeit
  • B. Gerichtliche Überprüfung staatsanwaltschaftlicher Stellungnahmen
  • I. Rechtswegproblem
  • 1. Verwaltungsgerichtsbarkeit
  • 2. Ordentliche Gerichtsbarkeit
  • 3. Stellungnahme
  • 4. Ergebnis
  • II. Verfahren nach § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG
  • 1. Der Antrag nach § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG
  • a. Antragsgegner und -frist
  • b. Statthafte Antragsart
  • aa. Folgenbeseitigungsantrag
  • bb. Feststellungs- und Leistungsantrag
  • cc. Verpflichtungsantrag
  • c. Vorläufiger Rechtsschutz
  • 2. Entscheidung über den Antrag
  • 3. Bedeutung eines Verfahrens nach den §§ 23 ff. EGGVG
  • 4. Zusammenfassung
  • C. Rechtsschutzmöglichkeiten außerhalb des § 23 EGGVG
  • I. Der Amtshaftungsanspruch
  • 1. Amtspflichtverletzung
  • a. Inhaltliche Vorgaben für Öffentlichkeitsarbeit
  • b. Unterlassene Öffentlichkeitsarbeit
  • c. Eigenmächtige Information der Öffentlichkeit
  • 2. Haftungsausschluss
  • 3. Verschulden
  • 4. Geldentschädigung wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung
  • a. Schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzung
  • b. Subsidiaritätsgrundsatz
  • c. Höhe des Geldentschädigungsanspruchs
  • 5. Ersatz materieller Schäden
  • 6. Unmöglichkeit anderweitigen Ersatzes, § 839 Abs. 1 S. 2 BGB
  • 7. Kosten
  • 8. Defizite des Amtshaftungsanspruchs
  • 9. Zusammenfassung
  • II. Dienstaufsichtsbeschwerde
  • III. Strafrechtliche Rechtsschutzmöglichkeiten
  • 1. Strafverfahrensrechtlicher Ausblick
  • a. Verfahrenshindernis
  • aa. Unzulässige Tatprovokation
  • bb. Verletzung des Beschleunigungsgebots
  • cc. Vorverurteilende staatsanwaltschaftliche Stellungnahmen
  • b. Berufung und Revision
  • c. Strafnachlass
  • 2. Materiell-rechtlicher Ausblick
  • a. § 203 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StGB
  • b. § 353b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB
  • c. § 353d Nr. 3 StGB
  • d. § 33 KUG
  • e. Zusammenfassung
  • D. Art. 6 EMRK
  • E. Ansprüche Angehöriger oder Erben eines betroffenen Beschuldigten
  • I. Strafverfahrensrechtliche Auswirkungen
  • II. Einzelfallbeispiel: Germanwings
  • III. Ansprüche wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung
  • 1. Ersatz materieller Schäden
  • 2. Geldentschädigungsanspruch
  • 3. Einschlägige Rechtschutzmöglichkeiten
  • IV. Öffentlichkeitsarbeit aufgrund postmortaler Ermittlungen
  • V. Zusammenfassung
  • F. Google-Entscheidung des EuGH und ihre Auswirkungen auf den Beschuldigtenschutz
  • I. Sachverhalt
  • II. Entscheidung des EuGH
  • III. Folgen der Entscheidung
  • IV. Auswirkung auf die Online-Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft und den Rechtsschutzmöglichkeiten des betroffenen Beschuldigten
  • 1. Online-Archiv-Rechtsprechung des BGH
  • 2. Neuer Löschungsanspruch
  • 3. Folgen für die staatsanwaltschaftliche Online-Öffentlichkeitsarbeit
  • a. Auswirkungen der Online-Archiv-Rechtsprechung
  • b. Auswirkungen des neuen Löschungsanspruchs
  • 4. Rechtsschutzmöglichkeiten des Betroffenen
  • a. Korrektur im Wege des Geldentschädigungsanspruchs
  • b. Ergebnis
  • 5. Einzelfalldarstellung: Sebastian Edathy
  • V. Zusammenfassung
  • 6. Kapitel: Richtigstellungspflicht und Gegenschlagsrecht der Staatsanwaltschaft
  • 7. Kapitel: Gesamtergebnis
  • Literaturverzeichnis

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1. Kapitel: Einleitung

Berichterstattungen über Strafverfahren erzeugen ein Spannungsverhältnis zwischen Justiz, Medien sowie den Rechten desjenigen, gegen den das Strafverfahren geführt wird. Dieses Spannungsverhältnis kann in unterschiedlichen Konstellationen auftreten. Zum einen kann das Berichterstattungsinteresse der Medien mit den Rechten des Betroffenen kollidieren. Zum anderen kann das Berichterstattungsinteresse der Medien mit dem (Geheimhaltungs-)Interesse der Justiz kollidieren. Schließlich stehen die Öffentlichkeitsarbeit der Justiz und die Interessen des hiervon Betroffenen in einem Spannungsverhältnis. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht letzteres Spannungsverhältnis, begrenzt auf die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft im Stadium des Ermittlungsverfahrens. Hauptakteure sollen demnach der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren sowie die ermittelnde Staatsanwaltschaft sein. An die Beschuldigteneigenschaft anknüpfend untersucht die Arbeit mithin das Zeitfenster zwischen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und Anklageerhebung.

Nicht behandelt wird die staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit nach Eröffnung des Hauptverfahrens. In diesem Stadium ist das Verfahren grundsätzlich öffentlich. Personenbezogene Informationen Betroffener sind dann ohnehin öffentlich zugänglich.

Wie schwierig es sein kann, die Balance zwischen staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit und Rechten betroffener Beschuldigter zu wahren, belegen zahlreiche gerichtliche Entscheidungen, die Klagen betroffener Beschuldigter gegen eine unzulässige staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit zum Gegenstand hatten1. Das Thema ist dauerpräsent und deshalb von höchster Relevanz.

Welche Herausforderungen sich aus der Kollision zwischen der Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft und den Interessen des Beschuldigten ergeben, soll nachfolgend an aktuellen Beispielen veranschaulicht werden. Der inzwischen ehemalige Präsident und Geschäftsführer der EBS Universität für Wirtschaft und Recht gGmbH (EBS) Prof. Dr. Christopher Jahns wurde im April 2011 unter dem dringenden Verdacht der gewerbsmäßigen Untreue zulasten der EBS auf Antrag der Staatsanwaltschaft Wiesbaden vorläufig festgenommen. Jahns verlor ←15 | 16→infolge des Haftbefehls sein zu diesem Zeitpunkt ruhendes Amt als Präsident, seine Position als Geschäftsführer und seinen Hochschullehrervertrag. Gegen Ende April des Jahres 2012, nach über einjähriger Ermittlungstätigkeit, wurde gegen Jahns Anklage erhoben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Juli 2018) ist das vor der Wirtschaftsstrafkammer des LG Wiesbaden geführte Strafverfahren gegen Jahns noch nicht beendet2. Über die Inhalte des gegen Jahns geführten Verfahrens wurde regional berichtet3. Im Laufe des Ermittlungsverfahrens hat sich auch die Staatsanwaltschaft Wiesbaden gegenüber Medienvertretern geäußert. Insgesamt elf dieser Äußerungen hat Jahns im Rahmen einer Zivilklage beanstandet und vor dem LG Wiesbaden teilweise obsiegt: Dieses sprach Jahns 15.000 Euro Geldentschädigung wegen Verletzung seines Persönlichkeitsrechts aufgrund vorverurteilender und sachlich falscher öffentlicher Äußerungen der Staatsanwaltschaft gegenüber Medienvertretern im Ermittlungsverfahren zu4.

Aktuellstes Beispiel ist die vom OLG Frankfurt a.M. abgewiesene Entschädigungsklage des zum Zeitpunkt der Äußerung amtierenden Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) Theo Zwanziger5. Zwanziger wollte wegen eines gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahrens sowie der Weitergabe staatsanwaltschaftlicher Informationen an die Presse das Land Hessen auf Zahlung von 25.000 Euro Geldentschädigung in Anspruch nehmen. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt a.M. hat Ermittlungen unter anderem gegen Zwanziger6 im ←16 | 17→Zusammenhang mit der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2006 an Deutschland und einem Geldtransfer in Höhe von 6,7 Millionen Euro vom WM-Organisationskomitee des DFB an den Fußball Weltverband FIFA wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall aufgenommen7.

Ein weiteres Beispiel für die problematische Kollision zwischen der Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft und den Persönlichkeitsrechten des Betroffenen stellt die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft Düsseldorf nach dem Germanwings-Absturz dar8. Kritisiert9 wurde vor allem die Preisgabe von Namen und Krankheit des Co-Pilot zur Ermittlung der Tatmotive, die letztlich zum Absturz der Germanwings-Maschine führten, obwohl die Staatsanwaltschaft Düsseldorf zunächst nicht einmal einen ausreichenden Anfangsverdacht für eine strafprozessuale Maßnahme begründen konnte10. Dies zum Anlass nehmend, wird sich die vorliegende Arbeit auch mit den Handlungsmöglichkeiten Hinterbliebener eines verstorbenen Beschuldigten gegen eine unzulässige Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft beschäftigen.

Die eben dargestellten Beispiele machen deutlich, dass aus Beschuldigtensicht von staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit nicht immer sogenannte Prominente betroffen sein müssen. Auch der Vorwurf schwerster Kriminalität ist ←17 | 18→kein Kriterium dafür, ob und wann Details aus dem Ermittlungsverfahren von Seiten der Staatsanwaltschaft an die Öffentlichkeit gelangen.

Inhaltlich befasst sich die Arbeit zunächst mit den rechtlichen Rahmenbedingungen staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit im Stadium des Ermittlungsverfahrens. Anschließend werden die dem Beschuldigten hiergegen zur Verfügung stehenden (rechtlichen) Handlungsmöglichkeiten dargestellt. Auseinandergesetzt wird sich schließlich auch mit der neuzeitlichen Problematik dauerhafter Online-Abrufbarkeit längst zurückliegender staatsanwaltschaftlicher Stellungnahmen betreffend (personenbezogener) Informationen aus laufenden Ermittlungsverfahren. Anstoß hierfür gab die über eine Stunde andauernde Pressekonferenz unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft Hannover zum Fall des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy vom 14.2.2014, die noch heute auf dem Online-Videoportal YouTube abrufbar ist11.


1 S. nur BGH NJW 1994, 1950; OLG Hamm NJW-RR 2015, 936; OLG Düsseldorf NJW 2005, 1791 – Mannesmann; OLG Celle NJOZ 2005, 3135; LG Frankfurt a.M., Urteil vom 22.3.2017 – 2-04 O 328/16; LG Wiesbaden NJW 2015, 2975 – Jahns; VG Berlin ZUM-RD 2014, 256.

2 Das Hauptverfahren wurde gemäß § 228 I StPO ausgesetzt und das Strafverfahren wegen dauernder Verhandlungsunfähigkeit Jahns gemäß § 205 StPO vorläufig eingestellt, s. dazu die Presseinformation des LG Wiesbaden vom 7.10.2014, https://lg-wiesbaden-justiz.hessen.de/irj/LG_Wiesbaden_Internet?rid=HMdJ_15/LG_Wiesbaden_Internet/sub/3f1/3f1101aa-d0e5-c841-79cd-aa2b417c0cf4,,,11111111-2222-3333-4444-100000005003%26overview=true.htm (zuletzt abgerufen am 29.6.2015).

3 Hetrodt/Zoske, EBS-Präsident Jahns festgenommen, FAZ-Online vom 04.04.2011, http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/region/untreue-verdacht-ebs-praesident-jahns-festgenommen-1622181.html (zuletzt abgerufen am 29.6.2015); Anklage gegen Ex-EBS-Chef Jahns, FR-Online vom 5.5.2012, http://www.fr-online.de/rhein-main/european-business-school-wiesbaden-anklage-gegen-ex-ebs-chef-jahns,1472796,15175994.html (zuletzt abgerufen am 8.7.2015).

4 LG Wiesbaden NJW 2015, 2975 – Jahns.

5 OLG Frankfurt a.M. BeckRS 2018, 4097.

6 Ebenfalls Ermittlungen aufgenommen hat die Staatsanwaltschaft Frankfurt a.M. gegen den seinerzeitigen DFB-Generalsekretär Wolfgang Niersbach sowie gegen den seinerzeitigen DFB-Generalsekretär Horst R. Schmidt, s. Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Frankfurt a.M. vom 3.11.2015, https://sta-frankfurt-justiz.hessen.de/irj/STA_Frankfurt_am_Main_Internet?rid=HMdJ_15/STA_Frankfurt_am_Main_Internet/sub/a71/a715b305-ce8b-051f-012f-312b417c0cf4,,,11111111-2222-3333-4444-100000005003%26overview=true.htm (zuletzt abgerufen am 23.3.2017).

7 Die Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Frankfurt a.M. vom 3.11.2015 ist abrufbar unter: https://sta-frankfurt-justiz.hessen.de/irj/STA_Frankfurt_am_Main_Internet?rid=HMdJ_15/STA_Frankfurt_am_Main_Internet/sub/a71/a715b305-ce8b-051f-012f-312b417c0cf4,,,11111111-2222-3333-4444-100000005003%26overview=true.htm (zuletzt abgerufen am 23.3.2017).

8 Der Airbus A320 der Fluggesellschaft Germanwings stürzte am 24.3.2015 mit 144 Fluggästen sowie sechs Crewmitgliedern über den französischen Alpen ab. Nach dem am 13.3.2016 veröffentlichten Abschlussbericht der der französischen Behörde für Sicherheitsuntersuchungen in der zivilen Luftfahrt (BEA), wurde der Absturz durch eine „bewusste und geplante Handlung des Co-Piloten verursacht, der entschieden hatte, Suizid zu begehen, während er alleine im Cockpit war.“ S. Abschlussbericht der BEA S. 109, abrufbar unter: https://www.bea.aero/uploads/tx_elydbrapports/BEA2015-0125.de-LR.pdf (zuletzt abgerufen am 5.9.2016).

9 S. Mitsch, JuS 2015, 884 (890), der die Arbeit der Staatsanwaltschaft diesbezüglich als „posthume boulevardeske Verunglimpfung des Co-Piloten“ sowie „ein weiteres Beispiel einer ausufernden Öffnung verschlossen zu haltender Verfahrensbereiche“ bezeichnet. Laut Darnstädt, Der Spiegel 16/2015, 28 (28), trat die Staatsanwaltschaft „fast täglich“ mit neuen Informationen zum Ermittlungsstand an die Öffentlichkeit.

10 Mitsch, JuS 2015, 884 (890 f.); Darnstädt, Der Spiegel 16/2015, 28 (29).

11 https://www.youtube.com/watch?v=l8-O5uot-Yk (zuletzt abgerufen am 9.10.2017). Das Verfahren gegen Edathy wegen Besitzes kinderpornografischen Materials wurde am 2.3.2015 gemäß § 153a Abs. 2 StPO gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt, s. Urteil des LG Verden vom 2.3.2015 – 2 KLs 3714 JS 9585/14 (8/14).

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2. Kapitel: Bedeutung und Inhalt staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit

In den Augen der Gesellschaft ist die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft heutzutage selbstverständlich. An ihr schätzt die Öffentlichkeit, dass sie Verborgenes, insbesondere das individuell begangene Unrecht, an das Tageslicht bringt12. Mittlerweile haben Staatsanwaltschaften daher auch eigene Presseabteilungen sowie einen Pressesprecher. Im Wege staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit gelangen Informationen entweder unmittelbar oder mittelbar über die Medien13 an die Öffentlichkeit.

A. Lebach-Urteil

Eine Berichterstattung über Strafverfahren ist speziell bei aufsehenerregenden Strafverfahren nicht mehr wegzudenken. Neben Sensationslust und Neugier steht auch ein durchaus ernstzunehmendes Interesse von Öffentlichkeit über die Person des Täters, seine Tatmotive sowie den Tathergang. Spätestens seit dem Lebach-Urteil des BVerfG gilt deshalb, dass eine Berichterstattung über Straftaten, insbesondere über die Person des Täters, den Tathergang sowie die Umstände, die zur Straftat geführt haben, zum Zeitgeschehen gehören, dessen Vermittlung Aufgabe der Medien überhaupt sei14. Die Verletzung der ←19 | 20→allgemeinen Rechtsordnung, die Beeinträchtigung von allgemeinen Rechtsgütern der betroffenen Bürger oder der Gemeinschaft, die Sympathie mit den Opfern und ihren Angehörigen, die Furcht vor Wiederholungen solcher Straftaten und das Bestreben, jenem vorzubeugen, stelle ein durchaus anzuerkennendes Interesse an näherer Information über Tat und Täter dar15. Dieses sei umso stärker, je mehr die Straftat sich durch die Besonderheit des Angriffsobjekts, die Art der Begehung oder die Schwere der Folgen über die gewöhnliche Kriminalität hervorhebe16. Neben dem Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Information über das Tatgeschehen falle auch das Bedürfnis nach Kontrolle der für die Sicherheit und Ordnung zuständigen Staatsorgane und Strafverfolgungsbehörden maßgebend ins Gewicht17. Die dargelegten Informationsbedürfnisse der Öffentlichkeit zu befriedigen sei darum auch Aufgabe der Medien. Dieses Informationsinteresse an einer aktuellen Berichterstattung über Straftaten sei grundsätzlich auch vorrangig gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen zu berücksichtigen18. Wer den Rechtsfrieden breche, müsse sich nicht nur den dafür in der Rechtsordnung verhängten strafrechtlichen Sanktionen beugen, sondern grundsätzlich auch dulden, dass das von ihm selbst durch seine Tat erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit auf den dafür üblichen Wegen, namentlich denen der medialen Berichterstattung, befriedigt werde19. Den Medien der Massenkommunikation komme hierbei „sowohl für die Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen wie für deren Kontrolle als auch für die Integration der Gemeinschaft in allen Lebensbereichen eine maßgebende Wirkung20“ zu. Dass sich die Berichterstattung der Medien über eine Straftat im Übrigen nicht nur negativ, sondern auch positiv für den Betroffenen auswirken kann, ←20 | 21→begründet das BVerfG sodann damit, dass es die vorerwähnte Kontrollfunktion der Medien über staatliches Handeln hervorhebt21.

Straftaten, eingeschlossen die Person des Täters, den Tathergang sowie die Umstände, die zur Straftat geführt haben, gehören grundsätzlich zum Zeitgeschehen. Den Medien kommt insofern die Aufgabe zu, dieses zeitgeschichtliche Ereignis der Öffentlichkeit zu vermitteln22. Die Medien sind Orientierungsgeber für die öffentliche Meinungsbildung, indem sie dem Bürger die notwendigen Informationen verschaffen und ihn hiermit erst in die Lage versetzen, sich eine eigene Meinung zu bilden23.

B. Die Staatsanwaltschaft als Organ der Rechtspflege

Nachfolgend soll zunächst ein einführender Überblick über die Stellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren sowie die sog Prozessmaximen gewährt werden24. Er soll dabei helfen, die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft in Bezug auf ihre Öffentlichkeitsarbeit zu verstehen.

I. Stellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren

Die Staatsanwaltschaft ist ein selbständiges und gegenüber dem Gericht gleichwertiges Organ der Strafrechtspflege, RiStBV Nr. 1 S. 225. Sie ist keine Partei des ←21 | 22→Strafprozesses26, sondern in gleichem Umfang wie das Gericht der Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet27. Das Leitbild der Wahrheit ist in diesem Zusammenhang als Pflicht zur Ermittlung der materiellen (objektiven) Wahrheit zu verstehen28. Der der Straftat zugrunde liegende Sachverhalt ist so aufzuklären, wie er sich tatsächlich zugetragen hat29. Gerechtigkeit wiederum bedeutet im vorgenannten Zusammenhang zuvörderst, Gesetzesbindung, welche wiederum auf der Gesetzesbindung jeglichen staatlichen Handelns gemäß Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG beruht30. Übertragen auf die Tätigkeit des Staatsanwalts bedeutet dies, der Staatsanwalt darf nur dann in Rechte und Rechtsgüter von Betroffenen eingreifen, falls es hierfür eine gesetzliche Grundlage gibt. Die Gesetzesbindung hat weiterhin zur Folge, dass der Staatsanwalt, will er sein Ermessen in eine Entscheidung einbringen, dies nur dann kann, falls ihm das Gesetz einen Beurteilungs- oder Ermessenspielraum gewährt31. Sowohl Staatsanwälte eines Gerichts (§ 144 GVG) als auch der Generalbundesanwalt beim BGH (GBA) und die Bundesanwälte (§ 148 GVG) sind Beamte32. Die funktionale Unabhängigkeit von den ←22 | 23→Gerichten wird einerseits in § 150 GVG statuiert. Die Verpflichtung zur Wahrheit und Gerechtigkeit begründet jedoch andererseits eine zumindest funktionale Gleichwertigkeit von Staatsanwaltschaft und Gericht, ebenso wie der in § 160 Abs. 2 StPO normierte Umfang der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft33. Danach hat die Staatsanwaltschaft zur Erforschung der materiellen Wahrheit alle be- und entlastenden Umstände sorgfältig und objektiv zu ermitteln. Dies entspricht ihrer Stellung als einem zu Gerechtigkeit und Objektivität verpflichteten Rechtspflegeorgan34. Nicht ohne Grund wird die Staatsanwaltschaft deshalb als „objektivste Behörde der Welt“ bezeichnet35.

II. Verfahrensgrundsätze des Ermittlungsverfahrens

Die Staatsanwaltschaft spielt im Ermittlungsverfahren die zentrale Rolle und ist „Herrin des Ermittlungsverfahrens“36. Nach RiStBV Nr. 1 liegt das vorbereitende Verfahren in den Händen des Staatsanwalts. Aufgrund seiner Rolle als (Mit)Verantwortlicher für eine faire und ordnungsgemäße Durchführung des Strafverfahrens37 gelten für den Staatsanwalt die nachfolgenden Prozessmaxime sowie Verfahrensgrundsätze im Ermittlungsverfahren38.

1. Offizialprinzip

§ 152 Abs. 1 StPO statuiert den Grundsatz der Strafverfolgung (Offizialprinzip). Diese obliegt grundsätzlich der Staatsanwaltschaft und damit dem Staat39. Die ←23 | 24→Strafverfolgung geschieht von Amts wegen (ex officio)40. Der Staatsanwaltschaft kommt im Ermittlungsverfahren die wesentliche Rolle zu, eine Maßnahme zu treffen, die erkennbar darauf abzielt, gegen den Beschuldigten – auch wenn dieser noch unbekannt sein sollte – strafrechtlich vorzugehen41. Zwecks effizienter Anwendung des Grundsatzes der Strafverfolgung gilt für sie das Prinzip der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens, soweit nicht ein bestimmtes Vorgehen oder eine bestimmte Form des Vorgehens vorgeschrieben ist42. Als zwingend vorgegebene Grundsätze sind – für die vorliegende Arbeit im Besonderen relevant – etwa zu nennen der Grundsatz der Unschuldsvermutung, abgeleitet aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. III GG und statuiert in Art. 6 Abs. II EMRK, das ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete und in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK statuierte Gebot auf ein faires Verfahren („fair-trial“)43 und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wonach eine Maßnahme unter Würdigung aller persönlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet und erforderlich sein muss44.

2. Anklagegrundsatz

Der Anklagegrundsatz (Akkusationsprinzip) gilt lückenlos im deutschen Strafprozessrecht45. Die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung setzt gemäß § 151 StPO die Einreichung einer Klage durch den Staatsanwalt als Vertreter des Staates46 voraus. Zwischen Staatsanwaltschaft und Strafgericht besteht eine klare Rollenverteilung, nach der der Nachweis eines hinreichenden Tatverdachts und die Anklageerhebung Aufgabe der Staatsanwaltschaft ist und die Frage der Schuld und des Strafmaßes dem Strafrichter obliegt47. § 151 Abs. 1 StPO statuiert ←24 | 25→das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft48. Sie darf und muss gemäß § 170 Abs. 1 StPO49 öffentliche Klage erheben, soweit ein hinreichender Tatverdacht vorliegt50. Die Regelung verfolgt den im öffentlichen Interesse gründenden generalpräventiven Zweck des Strafrechts, Straftaten nicht unverfolgt zu lassen51.

3. Legalitätsprinzip

Nach dem Legalitätsprinzip ist die Staatsanwaltschaft, soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte und folglich ein Anfangsverdacht vorliegt, § 152 Abs. 2 StPO52 (sog. Erforschungspflicht53). Bieten die Ermittlungen Anlass, ist öffentliche Klage zu erheben, § 170 Abs. 1 StPO (Verfolgungspflicht)54. Das Legalitätsprinzip ist also das Korrelat zum Anklagegrundsatz55. Durch das Legalitätsprinzip wird sichergestellt, dass Straftäter im Rahmen des geltenden Rechts verfolgt und einer gerechten Strafe zugeführt werden. Es sichert den Strafanspruch des Staates56. Dies wiederum ist für einen Rechtsstaat elementar, da es auch zu dessen Prinzip gehört, die Sicherheit seiner Bürger sowie deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit seiner Institutionen zu schützen57. Eine Durchbrechung des Verfolgungszwangs ordnet § 152 Abs. 2 StPO selbst an („soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist“). Daneben wird das Legalitätsprinzip auch vom verfassungsmäßigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durchbrochen, d.h. im Einzelfall darf auf Bestrafung verzichtet ←25 | 26→werden, falls präventive Gründe sie nicht erfordern58. Ergänzt wird das Legalitätsprinzip durch das in § 156 StPO normierte sog. Immutabilitätsprinzip, wonach die öffentliche Klage von der Staatsanwaltschaft nicht mehr zurückgenommen werden kann, sobald das Gericht das Hauptverfahren eröffnet hat59.

4. Faires Verfahren

Bei dem Recht auf ein faires Verfahren handelt es sich nach Auffassung des BVerfG60 um ein Grundrecht des Beschuldigten, welches sich insbesondere aus dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG sowie aus Art. 2 Abs. 1 GG herleitet61 und die Vorschriften der StPO konkretisiert62. Das Recht auf ein faires Verfahren ist zudem in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK63 normiert. Die ←26 | 27→Verfahrensgarantie gilt nicht nur im Falle der Erhebung einer Anklage, sondern über den Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK hinaus für das gesamte Strafverfahren, einschließlich des Ermittlungsverfahrens64. Danach ist dem Betroffenen ein Mindestmaß an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen einzuräumen, so dass dieser die Möglichkeit hat, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen65. Mit dem Recht auf ein faires Verfahren einher geht der verfahrensrechtliche Grundsatz der Waffengleichheit zwischen Strafverfolgungsbehörden einerseits und dem Beschuldigten andererseits66. Es besagt, dass beide Seiten – Beschuldigter und Staatsanwaltschaft – in vergleichbarer Weise Teilnahme-, Informations-, und Äußerungsrechte wahrnehmen können67. Der Grundsatz der Waffengleichheit dient besonders dem Schutz des Beschuldigten, da dieser nur dann eine Entscheidung zu seinen Gunsten herbeiführen kann, wenn ihm äquivalente Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen68.

Der Grundsatz der Waffengleichheit respektive die – zumindest in der Effektivität – Gleichwertigkeit von Befugnissen, ist mit dem im Ermittlungsverfahren geltenden Offizialprinzip schwer zu vereinbaren69. Vor diesem Hintergrund begegnet es jedenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten über die Einleitung eines gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahrens vorübergehend im Unklaren lässt70. Vielmehr liegt es in der Natur des Ermittlungsverfahrens, dass dieses nicht unter Bekanntgabe aller ermittelten oder auch nur den Anfangsverdacht begründenden Tatsachen ←27 | 28→geführt wird. Sachverhaltserforschung und Wahrheitsfindung, die zentralen Anliegen des Ermittlungsverfahrens, würden andernfalls untragbaren Erschwernissen und Verdunkelungsmöglichkeiten ausgesetzt. Der Grundsatz der Waffengleichheit ist aber spätestens zu Beginn der Vernehmung des Beschuldigten zur Sache, die grundsätzlich bis zum Abschluss der Ermittlungen erfolgt71, wiederherzustellen72. Dieser verfahrensrechtlich eingeräumte Informationsvorsprung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren ist im Hinblick auf eine funktionsfähige Strafrechtspflege nicht zu beanstanden73. Das in § 147 StPO gewährleistete Akteneinsichtsrecht des Verteidigers (Abs. 1) und des Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat (Abs. 4) sowie die dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren zustehenden Rechte aus den §§ 163a Abs. 3, 166, 168c Abs. 2, 168d StPO bewahren ihn davor, im Ermittlungsverfahren bloßes Objekt zu werden74. Der Informationsvorsprung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren wird allerdings aus Beschuldigtensicht dadurch relativiert, dass sie gemäß § 160 Abs. 2 StPO nicht nur die den Beschuldigten belastende, sondern auch diesen entlastende Umstände zu ermitteln hat75.

Ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahrens ist gerichtlich überprüfbar76. Er kann grundsätzlich auch in der Revision mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden77. Für die Frage eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens ist jedoch nicht inzident auf den einzelnen Verstoß abzustellen. Vielmehr ist zu fragen, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit fair gewesen ist78.

←28 | 29→
5. Unschuldsvermutung

Im Gegensatz zum Prinzip des fairen Verfahrens bezieht sich die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK ausweislich ihres Wortlauts nur auf das Strafverfahren. Als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips gemäß Art. 20 Abs. 3 GG genießt sie, ohne ausdrücklich im Grundgesetz statuiert zu sein, Verfassungsrang79. Die Unschuldsvermutung ist insoweit mit dem Grundsatz auf ein faires Verfahren verbunden, als sie vor einer Bestrafung ohne den vollen Nachweis der strafrechtlichen Schuld schützt und die Bestrafung nur dann zulässt, wenn der Nachweis der Schuld als Ergebnis eines fairen Verfahrens i.S.d. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK erbracht wird80. Gleichwohl verwehrt die Unschuldsvermutung Strafverfolgungsorganen nicht, vor Abschluss der Hauptverhandlung den verfahrensbezogenen Verdachtsgrad81 einer strafbaren Handlung des Beschuldigten zu beurteilen82.

Die in Art. 6 Abs. 2 EMRK garantierte Unschuldsvermutung erfasst, ebenso wie das Prinzip des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, das gesamte Strafverfahren, demzufolge auch das Ermittlungsverfahren83. Im Stadium des ←29 | 30→Ermittlungsverfahrens darf die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten als verfahrensbezogenen Verdächtigen behandeln, nicht aber als einen Schuldigen, da der Schuldnachweis in diesem Verfahrensabschnitt noch nicht erbracht ist84. Vielmehr gilt die Unschuldsvermutung solange, bis eine gerichtlich festgestellte

Schuld85 in Rechtskraft erwachsen ist86. Eine Verurteilung des Betroffenen bleibt dem richterlichen Schuldspruch vorbehalten87.

Für öffentlich getätigte staatliche Äußerungen gilt, dass diese keine Schuldfeststellungen beinhalten dürfen88. Dies gilt sowohl für formellen als auch für solche informellen Äußerungen89. Aufgrund ihrer den Ablauf des Strafverfahrens bestimmenden Funktion gilt für amtliche Äußerungen der Staatsanwaltschaft, dass der Inhalt ihrer Aussage stets am Grundsatz der Unschuldsvermutung zu messen ist90. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung wird dann verletzt, wenn in einer Erklärung der Eindruck erweckt wird, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Straftat schuldig91. Die öffentliche Verlautbarung über ein laufendes Strafverfahren muss demnach inhaltlich zurückhaltend sein und kenntlich machen, dass sie nur einen Verdacht betrifft92. Die Staatsanwaltschaft hat dies ←30 | 31→betreffend „ganz besondere Vorsicht93“ walten zu lassen, zumal für einen juristisch nicht vorgebildete Person die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens nicht selten bereits mit dem Nachweis der zur Last gelegten Tat gleichgesetzt wird94. Zur Wahrung der Unschuldsvermutung ist ferner eine identifizierende Berichterstattung zu vermeiden95, es sei denn, sie hat bereits medial im Vorfeld der Ermittlungen stattgefunden96.

Auch der Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung kann mit der Verfahrensrüge in der Revision geltend gemacht werden97.

Details

Seiten
300
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631811825
ISBN (ePUB)
9783631811832
ISBN (MOBI)
9783631811849
ISBN (Paperback)
9783631800850
DOI
10.3726/b16538
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Dezember)
Schlagworte
Allgemeines Persönlichkeitsrecht Medienberichterstattung Pressekonferenz Ermächtigungsgrundlage Amtshaftungsanspruch Online-Archive Richtigstellungspflicht
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 300 S.

Biographische Angaben

Marina Khachatryan (Autor:in)

Marina Khachatryan studierte Rechtswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sie arbeitete als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Justus-Liebig-Universität in Gießen und wurde dort promoviert.

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Titel: Staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren
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