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Heimat und Gedächtnis heute

Literarische Repräsentationen von Heimat in der aktuellen deutschsprachigen Literatur

von Garbine Iztueta Goizueta (Band-Herausgeber:in) Carme Bescansa (Band-Herausgeber:in) Iraide Talavera (Band-Herausgeber:in) Mario Saalbach (Band-Herausgeber:in)
©2021 Konferenzband 204 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Der vorliegende Sammelband enthält eine Auswahl der Beiträge, die auf der vierten internationalen Konferenz über Heimat in der deutschsprachigen Literatur an der Universität des Baskenlandes vorgestellt wurden. Darunter sind international anerkannte und mehrfach ausgezeichnete Experten wie Withold Bonner (Universität Tampere) und Sabine Egger (Universität Limerick MIC) zu finden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Heimat und Gedächtnis heute. Vorbemerkungen (Garbiñe Iztueta, Carme Bescansa, Mario Saalbach, Iraide Talavera)
  • In der Zerstreuung zuhause? Gedächtnis und Heimat in den Texten Barbara Honigmanns (Withold Bonner)
  • Gedenkorte, Nicht-Orte und Leerstellen: Zur Deterritorialisierung des Ichs in Katja Petrowskajas Vielleicht Esther1 (Sabine Egger)
  • Prospektives Gedächtnis, prospektive Heimat: Eine ethische Haltung in Vladimir Vertlibs Roman „Viktor hilft“1 (Carme Bescansa)
  • (Re-)Konstruierte Heimat und Postmemory als unvollständiges Erbe in Sabrina Janeschs Romanen Katzenberge (2010) und Ambra (2012) (Grazia Berger)
  • DDR-Heimat und Postmemory in Familie der geflügelten Tiger (2016) von Paula Fürstenberg1 (Garbiñe Iztueta)
  • „Daheim bleiben und nicht fortgehen.“ – Zum Nexus von Heimat und Gedächtnis in Arno Geigers Der alte König in seinem Exil (Anna-Lena Eick)
  • Weil die Heimat der Vergangenheit die gegenwärtige Heimat bedingt: Gudrun Pausewang in Ich war dabei: Geschichten gegen das Vergessen (2004)1 (Iraide Talavera)
  • Das Rückkehrmotiv im Spannungsfeld der Identitäts- und Heimatsuche in Martin Beckers Marschmusik (Isabella Leibrandt)
  • Heimaträume bei Robert Menasse (Gesa Singer)
  • The Basque Nation and conflict memories1 (Mari Jose Olaziregi)
  • Umkämpfte Erinnerungsorte: Raumkonkrete Erinnerungen in Fernando Aramburus Patria und Bernardo Atxagas Ein Mann allein (Daria A. Eismann)
  • The Obsessions of Terror: The Literary Motifs1 (Amaia Elizalde / Mikel Ayerbe)
  • Heimat, the Basque conflict and literary representations: perpetrators, victims and back again1 (Beñat Sarasola / Ana Gandara)
  • Angaben zu den AutorInnen
  • Reihenübersicht

Heimat und Gedächtnis heute. Vorbemerkungen

Garbiñe Iztueta, Carme Bescansa, Mario Saalbach, Iraide Talavera1

Heimat und Gedächtnis haben als Studien- und Forschungsgegenstand in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen. Nun in den letzten Jahren und letzten Monaten sind beide Begriffe aus verschiedenen Gründen sogar in den Mittelpunkt der politischen Debatte, der Medien und der Wissenschaft gerückt. Im Falle von Heimat ist seit 2017 von “politischer Heimat-Renaissance” und “medialer Revitalisierung des Begriffs” die Rede (Costadura/Ries/Wiesenfeldt 2019: 12–13). Die zunehmende politische und symbolische Relevanz des Begriffs Heimat in der Öffentlichkeit spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass das Bundesministerium des Innern im Jahr 2018 zum Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat umbenannt wurde. Dazu kommt, dass im akademischen Bereich aufgrund des in den Kulturwissenschaften seit den 1980er Jahren vorherrschenden Spatial Turn (Schlögel 2003: 37ff; Bachmann-Medick 2006: 212) der Heimatraum als Forschungsgegenstand an Aufmerksamkeit gewonnen hat.

Was den Begriff Gedächtnis betrifft, so ist das neueste Anzeichen für seine Relevanz in den heutigen Medien mit dem Ausbruch der globalen COVID-19 Pandemie verbunden. Die Medien und die wissenschaftliche Gemeinschaft haben sich mit Fragen über die möglichen Folgen der durch die Pandemie verursachten Traumata auf das individuelle und kollektive Gedächtnis auseinandergesetzt, was die öffentliche Aufmerksamkeit erneut auf die Mechanismen zur Gestaltung des individuellen und kollektiven Gedächtnisses (siehe Schmundt im Spiegel 5.6.2020) gelenkt hat. Zuvor stand das Konzept des (kollektiven) Gedächtnisses meistens im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte sowie an der Frontlinie der Initiativen zur Wiederherstellung nationaler Erinnerungen, wo es u.a. um menschliche Katastrophen wie Weltkriege, Holocaust, Verfolgung, Vertreibung, Flucht, Migration und Exil ging. In Zusammenhang damit hat die europäische Kultur- und Bildungspolitik erst kürzlich mit Initiativen des Ausschusses für Bildung und Kultur der Europäischen Kommission für den Aufbau einer kohärenten EU-Gedächtnispolitik plädiert, als Antwort auf die Notwendigkeit eines europäischen historischen Gedächtnisses, das Information und Selbstkritik umfassen soll (Prutsch 2015: 7).←7 | 8→

Zum Heimatbegriff im Rahmen des institutionellen Diskurses ist der Einleitungstext der Sektion „Heimat und Integration“ auf der Webseite des Bundesministeriums für Inneres, Bau und Heimat von großer Bedeutung.2 In der Formulierung der Aufgabe des Ministeriums werden drei Schlüsselkategorien der vom Ministerium behandelten Heimatauffassung explizit genannt: der Zusammenhalt, das Gemeinschaftsgefühl und die Identifikation in bzw. mit [unserem] Land [= Deutschland]. Darüber hinaus wird die Komponente “Verlust” in Verbindung mit Heimat implizit in den Mittelpunkt gerückt, indem die Absicht des Ministeriums als “Neubelebung und -verortung einer gemeinsamen Identität und eines belastbaren Wertefundaments, das uns verbindet” (Bundesministerium des Inneren, Bau und Heimat 2020) dargestellt wird. Dabei liegt tatsächlich die Idee einer verlorengegangenen kollektiven Identität und gleichsam einer abhanden gekommenen gemeinsamen kulturellen Basis zugrunde. Vor dem Hintergrund des wieder vereinigten Deutschlands läuft diese Darstellung über die Binarität sowohl hinsichtlich des Ost-West-Gegensatzes als auch der Polarisierung zwischen Eingeborenen und Migranten auf eine dynamische Heimatauffassung hinaus. Es handelt sich bei dieser Heimatkonzeption um einen kollektiven Konstruktionsprozess, wobei ein kohärenter, zugleich mehrstimmiger und integrierender Raum mit Konsensentscheidungen gestaltet werden soll.

In dieser Heimatauffassung des Ministeriums spielt das Verhältnis zwischen Raum und Emotionen eine zentrale Rolle, denn im Mittelpunkt steht ein Raum, der sich in Einklang mit Gefühlen des Wohlbefindens, Akzeptiertseins und der Geborgenheit, der Dazugehörigkeit und Gemeinschaft, Sicherheit und Orientierung befinden soll (Bundesministerium des Inneren, Bau und Heimat 2020). Dies bestätigt die These, dass auch in dem politischen Heimatdiskurs Heimat nicht (nur) als physisch-geografischer Raum, sondern eher auch als ein sozialer und emotionaler Raum fungiert. Das Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Kollektiv und die emotionale Dimension in diesem Verhältnis haben den früheren, bis ins 18. Jahrhundert gültigen rein geografischen Heimatbegriff als Hof und Besitz deutlich überholt. Trotz einer noch spürbaren Resonanz des traditionellen binären Heimatkonzepts, das das Eigene dem Fremden entgegensetzt, liegt der Fokus im aktuellen Ministeriumsdiskurs auf der Prozesskomponente, dem relationalen Aspekt mit einem klaren Schwerpunkt in der Suche nach Harmonie.

Im akademischen Bereich findet zum Heimatbegriff in den letzten Jahren eine komplexe und multiperspektivistische Diskussion statt. Die neuesten Studien Heimat: Ein vielfältiges Konstrukt (2019), herausgegeben von Martina Hülz, Olaf Kühne, Florian Weber, oder Heimat global: Modelle, Praxen ←8 | 9→und Medien der Heimatkonstruktion (2019), von Edoardo Costadura, Klaus Ries, Christiane Wiesenfeldt, Heimat Revisited: Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf einen umstrittenen Begriff (2020), von Dana Bönisch, Jil Runia und Hanna Zehschnetzler, genau wie das 2018 erschienene Heft „Heimat“ der Zeitschrift Indes Zeitschrift für Politik und Gesellschaft sprechen dafür. Das Umdenken um den Begriff Heimat ist einerseits stark von der räumlichen Perspektive des Spatial Turn beeinflusst worden, andererseits auch von der expliziten Verkettung von Gefühl und Raum im Licht des Emotional Turn (Hüppauf 2007), und hat weitere Impulse aus philosophischer (Joisten 2003, Rosa 2007) sowie der Genderperspektive (Kanne 2011, Ecker 1997) und nicht zuletzt seitens der Gedächtnisstudien in Hinblick auf die gedächtnisbildende Funktion von Diskursen (Eigler/Kugele 2012) erhalten. In Verbindung mit dem Spatial Turn hat Heimat einen performativen Konstruktcharakter gewonnen (Eigler 2012). Denn dem Spatial Turn liegt eine Raumauffassung als sozialer Prozess (Lefebvre 2011: 84 f.) zugrunde, d.h. als Produkt der Beziehungen nicht nur von Körpern und Subjekten in einem gegebenen Kontext, sondern auch von einem Raum mit anderen Räumen (Bachmann-Medick 2006: 289; Löw 2001: 158f.). Somit spielen Bewegung und Performanz eine entscheidende Rolle in diesem Raumverständnis (Böhme 2005: xvii). Gedächtnis und eine dem Subjekt bewusste emotionale Beziehung zum Raum sind auch in diesem Kontext als weitere Definitionskategorien ausgewiesen. Dementsprechend wird Heimat als eine „Art produktiver Gefühlserinnerung“ (Huber 1999: 33), als Ergebnis eines dynamischen, symbolischen und affektiven Prozesses zwischen Subjekt und Raum (Obermaier 2013: 25) konzipiert.3

Weiter in derselben Richtung versteht auch Blickle Heimat als dynamischen, sich verändernden Raum in seiner Fokussierung auf Identität und Emotion. Heimat stellt er als einen mit Emotionen verbundenen metaphorischen Raum (Blickle 2012, 2018) dar. Morley verknüpft gleichfalls Heimat mit Identität und Emotion, allerdings mit einem starken Fokus auf ihre Beziehung zum Gedächtnis (1995: 5, 17, 73), wie wir weiterhin näher erklären werden.

Somit ergibt sich die Aufgabe, Heimat zu definieren, bisher als unauflösbar, und daher erweist sich der von Gebhart/Geisler/Schröter in Heimat: Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts schon geprägte Begriff „mehrdimensionaler Assoziationsgenerator“ (2007: 9–10) besonders inspirierend für eine offene theoretische Annäherung. Gebhart/Geisler/Schröters multiperspektivische Auseinandersetzung mit dem Thema zeichnet sich dadurch aus, dass Heimat einerseits mit Begriffen wie Raum, Zeit und Identität verknüpft und ←9 | 10→andererseits auch mit Verlust-Distanzierung und Reflexion verbunden wird. In der Verbindung mit dieser zweiten Achse ist das Verhältnis zwischen Heimat und Gedächtnis zu verorten.

Verflechtungen, Schichtungen und Verschiebungen des Begriffs Heimat und die multiperspektivische Auseinandersetzung mit dem Begriff auch in Verbindung mit etlichen thematischen Achsen stehen seit Jahren im Zentrum des Interesses unserer Forschungsgruppe an der Universität des Baskenlandes. Seit 2013 und im Kontext von mehreren Forschungsprojekten, vier internationalen Tagungen und daraus zustande gekommenen Bänden (Bescansa/Nagelschmidt 2014, Iztueta/Saalbach/Talavera/Bescansa/Standke 2017, Bescansa/Saalbach/Talavaera/Iztueta 2020) hat unsere Forschungsgruppe bisher Heimat im Zusammenspiel mit jeweils Verlust, Raum, Emotion und Unheimlichkeit betrachtet.

Was unsere Annäherung an Gedächtnis als Analysekategorie von Heimat im vorliegenden Band anbelangt, sind wir von der Auffassung des Gedächtnisses als Konstruktionsprozess ausgegangen, wobei Bedeutung aus Erfahrungen, Kenntnissen und Identität(en) der Vergangenheit entsteht. Es handelt sich dabei um einen individuellen Prozess, der allerdings auch durch kollektives Erinnern konditioniert bzw. mitgestaltet wird, denn nach Emile Durkheim werden sowohl Erinnerungsbilder als auch Erinnerungspraktiken von der Gesellschaft geprägt (Durkheim 2008: 10). Maurice Halbwachs seinerseits weist schon darauf hin, dass die Erinnerung eines jeden Individuums aus seiner einzigartigen Position in der Gesellschaft heraus konfiguriert wird, was zu einer Vielfältigkeit der Erinnerung führt (Halbwachs 1980: 48). Daher sind Subjektivität, Multiplizität, Prozess und Transferenz inhärente Kategorien des Gedächtnisses.

Aleida und Jan Assmann betonen darüber hinaus in ihrer Betrachtung des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses die relevante Rolle von Emotionen als Mitgestalter von Bedeutungen (Aleida Assmann 2015). Dazu kommt, dass das Gedächtnis nach Jan Assmann “diachronische Identität” ist (2008: 114). Im Kontext dieser diachronischen Natur des Gedächtnisses operiert Erinnerung allerdings nicht nur retrospektiv sondern auch prospektiv, so Astrid Erll (2016: X).4 Sie bezieht sich mit ihrem Begriff „prospective memory“ auf den von Reinhart Koselleck geprägten Begriff „future pasts“, der die Projektion hervorhebt, die wir von dem in der Zukunft zu erinnernden entwerfen (Koselleck 2003: 248). Dadurch werden mittels des prospektiven Gedächtnisses dementsprechend auch Identität und Heimat prospektiv und performativ konzipiert.

Ziel dieses Bandes ist es, Schlüsselbegriffe der Gedächtnisstudien wie u.a. Familiengedächtnis, Generationengedächtnis, kulturelles Gedächtnis, ←10 | 11→Postmemory, prospektives Gedächtnis und transnationales Gedächtnis in Verbindung mit Texten der neuesten deutschsprachigen Literatur zu betrachten, die sich mit dem weiterhin aktuellen Thema der Heimat beschäftigen; und dabei der Frage nachzugehen, inwiefern die von der neueren Literatur aufgeworfene multiperspektivische Konfiguration von Gedächtnis, Heimat und Identität eventuell Ausdruck prospektiver Projektion ist.

Details

Seiten
204
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783034343190
ISBN (ePUB)
9783034343206
ISBN (MOBI)
9783034343213
ISBN (Paperback)
9783034339902
DOI
10.3726/b18334
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juli)
Schlagworte
Erinnerungsorte Rückkehrmotiv Gedenkorte Heimatauffassung Gemeinschaftsgefühl Heimat
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 204 S.

Biographische Angaben

Garbine Iztueta Goizueta (Band-Herausgeber:in) Carme Bescansa (Band-Herausgeber:in) Iraide Talavera (Band-Herausgeber:in) Mario Saalbach (Band-Herausgeber:in)

Garbiñe Iztueta promovierte in Germanistik und Anglistik und ist Dozentin an der Universität des Baskenlandes und Abteilungsdirektorin am Baskischen Etxepare Kulturinstitut. Carme Bescansa ist promovierte Germanistin und Dozentin für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität des Baskenlandes. Iraide Talavera promoviert über Kinder- und Jugendliteratur. Sie ist Dozentin für Englische Sprache an der Universität des Baskenlandes. Mario Saalbach ist Professor für Deutsche Sprache und Literatur am Germanistischen Institut der Universität des Baskenlandes. Die vier HerausgeberInnen beschäftigen sich seit Jahren in mehreren gemeinsamen Projekten sowie in zahlreichen Publikationen mit dem Thema Heimat in der deutschsprachigen Literatur.

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Titel: Heimat und Gedächtnis heute
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