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Das Drama im Deutschunterricht um 1900

Der Diskurs über Lektürekanon und Literaturvermittlung

von Helge C. Liebsch (Autor:in)
©2020 Dissertation 540 Seiten

Zusammenfassung

Das Drama zählte um 1900 zur Leitgattung an höheren Schulen. Dramen von Schiller, Goethe und Lessing gehörten zum zentralen Bestandteil der Schullektüre. Wie sollte der Umgang mit dem Drama im Deutschunterricht erfolgen? Diese Studie rekonstruiert systematisch den Lektürekanon an höheren Schulen im Deutschen Reich und geht der intensiven Diskussion innerhalb der Literaturpädagogik über die Fragen der Textauswahl und die Möglichkeiten der Literaturvermittlung nach. Ausgewählt wurden Schulen, an denen die Gymnasialprofessoren unterrichteten, die sich mit den Fragen der Vermittlung beschäftigt haben. Hierzu werden Schulprogramme, Lehrpläne, literaturpädagogische Zeitschriften und Monographien ausgewertet, die bislang nur am Rande eine Beachtung gefunden haben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • I Einleitung
  • Erster Teil: Forschungstheoretischer Rahmen
  • 1 Untersuchungsdesign und methodische Überlegungen
  • 1.1 Forschungsstand
  • 1.2 Diskurs und Diskursanalyse
  • 1.3 Vorhaben und Untersuchungsziele
  • 1.4 Quellengrundlage und methodische Vorgehensweise
  • 2 Der Deutschunterricht an höheren Schulen im Kaiserreich
  • Zweiter Teil: Der dramatische Lektürekanon an höheren Schulen um 1900
  • 3 Dramatische Lektüren in den Jahresberichten höherer Schulen
  • 3.1 Schulprogramme höherer Schulen als Quelle zur Rekonstruktion des Lektürekanons
  • 3.2 Quellenauswahl und methodische Vorgehensweise zur Rekonstruktion des dramatischen Lektürekanons
  • 3.3 Der dramatische Lektürekanon am Beispiel von 20 höheren Schulen im Deutschen Reich
  • 3.3.1 Schiller, Goethe und Lessing im Zentrum des Literaturunterrichts
  • 3.3.2 Randkanonautoren und Werke an höheren Schulen um 1900
  • 3.4 Der dramatische Lektürekanon an höheren Schulen um 1900 – Ein Resümee
  • Dritter Teil: Dramenlektüre im Deutschunterricht – Untersuchungen zum literaturpädagogischen Diskurs unter besonderer Berücksichtigung der Zeitschrift für den deutschen Unterricht
  • 4 Programm und Konzeption der Zeitschrift für den deutschen Unterricht
  • 5 Dramenlektüre im Deutschunterricht: Betrachtungen zu Lehrplankonzeptionen um 1900
  • 5.1 Reaktionen auf die Einführung der Lehrpläne von 1892
  • 5.2 Lehrplankonzeptionen
  • 5.2.1 Lehrplanentwürfe für sächsische Gymnasien
  • 5.2.2 Die dramatische Lektüre am Gymnasium Bautzen nach Gotthold Klees Lehrplanentwurf
  • 5.2.3 Die Lehrpläne von 1901 und Viktor Hirschs Lehrplanmodifikation
  • 5.2.4 Die Umsetzung der Lehrplanmodifikation am Friedenauer Gymnasium
  • 5.3 Resümee
  • 5.4 Eine Lehrplankonzeption für die höhere Mädchenschule – Bernhard Ritters Überlegungen für das höhere Mädchenschulwesen
  • 5.4.1 Dramenlektüre am Sophienstift in Weimar
  • 5.4.2 Resümee
  • 6 Dramenlektüre im Deutschunterricht: Der Umgang mit dem Drama an höheren Schulen
  • 6.1 Dramendidaktische Zielsetzungen und methodische Überlegungen
  • 6.2 Die Vorbereitung der dramatischen Lektüre in den unteren Klassen
  • 6.3 „Zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig“ – Betrachtungen über Schulausgaben deutscher Klassiker für den Deutschunterricht
  • 6.4 Dramatische Werke im deutschen Aufsatz
  • 6.5 Dramenlektüre im nationalistischen Gewand
  • 6.6 Resümee
  • 7 Dramenlektüre im Deutschunterricht: Kanonwandel – Neue Lektüren für den Schulkanon
  • 7.1 Goethes Die natürliche Tochter – ein Drama für den schulischen Kanon?
  • 7.2 „Auch die Jugend unserer Schulen hat ein Recht auf die Dichter des 19. Jahrhunderts“20 – Forderungen nach neuen Lektüren für den Deutschunterricht
  • 7.2.1 Die Aufnahme von Goethes Faust in den Lektürekanon der höheren Schulen
  • 7.2.2 Goethes Faust im Deutschunterricht von Rudolf Lehmann, Veit Valentin, Karl Haehnel und Gotthold Klee
  • 7.3 Resümee
  • 8 Dramenlektüre im Deutschunterricht: Dramatische Schüleraufführungen – Neue Interpretationsverfahren im Literaturunterricht
  • 8.1 Vom „Ersticken der Phantasie“ und dem „lebendigen Eindruck“ – Kritische Haltungen zum Theaterbetrieb
  • 8.2 „Aufführung von Wallensteins Lager durch Schüler der oberen Klassen“ – Stimmen zu dramatischen Schüleraufführungen
  • 8.3 Resümee
  • II Zusammenfassung: Der Diskurs über die Dramenlektüre im Deutschunterricht an höheren Schulen um 1900
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Anhang

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Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2018/2019 unter dem Titel „Dramenlektüre im Deutschunterricht um 1900. Untersuchungen zum Lektürekanon und zur Literaturvermittlung“ als Dissertationsschrift vom Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Osnabrück angenommen.

Ohne die große Unterstützung meiner Familie und die vielfältige Hilfe von Kolleginnen und Kollegen sowie Freundinnen und Freunden wäre das vorliegende Buch nicht zustande gekommen.

Zunächst möchte ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Christian Dawidowski für die Förderung, Begleitung und fruchtbaren Gespräche in den vergangenen Jahren herzlich danken. Mit fachlicher Expertise, kritischem Blick und großem Engagement hat er die Entstehung dieser Studie betreut. Es war mir eine große Freude und Bereicherung, an den Oberseminaren in Osnabrück sowie den Reisen nach Braunschweig und Weimar, in den Harz und zur Burg Hülshoff teilnehmen zu können. Einen besonderen Dank möchte ich Prof. Dr. Wolfgang Adam für alle wertvollen Anregungen und Unterstützungen und für das Zweitgutachten aussprechen. Herr Prof. Dr. Adam hat mich seit meinem Studienbeginn an der Universität Osnabrück im Wintersemester 2009/2010 gefördert und meinen Blick auf die Literatur nachhaltig geprägt.

Bedanken möchte ich mich darüber hinaus auch recht herzlich bei den weiteren Mitgliedern der Promotionskommission Prof. Dr. Dr. Rolf Düsterberg, Prof. Dr. Olav Krämer und Prof. Dr. Jochen Oltmer.

Dr. Nadine Jessica Schmidt (Siegen) bin ich für vielfältige Hinweise, kritische und anregende Gespräche und nicht zuletzt für eine unvergessliche Zusammenarbeit an der Universität Osnabrück außerordentlich dankbar. Für weiterführende Impulse und das Korrekturlesen bedanke ich mich bei Dr. Julia Ogrodnik, Dr. Carsten Bothmer, Dr. Anna R. Hoffmann, Carina Steeger und Jennifer Wolf (allesamt Osnabrück). Ich danke Jessica Ortlieb und Jasmin Plewka für die Unterstützung bei der Aufbereitung der Daten.

Ein großer Dank gilt meinen lieben Eltern Dr. Wolfgang Liebsch und Lydia Liebsch für das Vertrauen, die Ermutigungen, jegliche Unterstützung und Hilfe, die den erfolgreichen Abschluss dieser Studie ermöglicht haben.

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Mein besonderer Dank geht an meine Frau Martina Liebsch, die mich zu jeder Zeit mit vielen guten Ratschlägen unterstützt hat, mich auf andere Gedanken in schwierigen Phasen gebracht hat und nicht zuletzt als junge Mutter mir die Möglichkeit gegeben hat, diese Arbeit zu schreiben. Ihr ist die Arbeit in besonderer Weise gewidmet.

Helge C. Liebsch

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I Einleitung

Heinrich Manns 1905 veröffentlichter Roman Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen mag womöglich ein Bild des Deutschunterrichts um 1900 skizzieren und vermutlich gab es durchaus den einen oder anderen Schulmann an Gymnasien, der dem Charakter des alten Gymnasialprofessors Raat entsprach. Raat bereitet es ein sichtliches Vergnügen, das Schicksal seiner Schüler in der Hand zu halten, sie „hineinzulegen“, ihnen die Schullaufbahn zu erschweren oder ihr „Fortkommen, wenn nicht gar unmöglich“ zu machen. So findet Raat für seine Untersekunda nach einer dreivierteljährigen und bis ins Extrem getriebenen Beschäftigung mit Schillers Jungfrau von Orleans – „man hatte sie vor- und rückwärts gelesen“ – ein widersinniges Aufsatzthema, das vor ihm noch keiner „von den unbegreiflich gewissenlosen Schulmännern“ gefunden hatte und zu dem es in gedruckten Leitfäden natürlich keinen Eintrag gab, lässt sich die verlangte Aufgabe, „Das dritte Gebet des Dauphins.“, schlichtweg nicht beantworten. Pflichtgetreu versuchen die Schüler die Aufgabe, auch wenn das Thema sie nichts anging, zu bewältigen, verständlich, dass die „Dichtung, der es entstammte, […] einem, da sie schon seit Monaten dazu diente, einen »hineinzulegen«, auf das gründlichste verleidet [war]; aber man schrieb mit Schwung.“1

Ein solcher Umgang mit Schillers Jungfrau von Orleans hat sicherlich nicht zum Erhalt und zur Steigerung der Lesefreude und zum Aufbau einer stabilen Lesemotivation beigetragen, vielmehr ist das Gegenteil zu vermuten. So erscheint es angesichts solcher Umgangsmethoden nachvollziehbar, wenn Hermann Hesse an Felix Salten den Ratschlag zum Schillerfest erteilt:

Schiller sollte aus dem Lehrplan der Gymnasien gestrichen und womöglich auch noch den Schülern verboten werden. Dann wäre er bald wieder unerhört populär und wirksam. Uns allen ist er von den Schullehrern verleidet worden und wir mußten ihn uns später – oft schon zu spät – mühsam wieder erobern.2

Denkbar wäre ebenso, dass die gestellten schulischen Anforderungen und ein Gymnasiastenschreck wie der tyrannische, unbarmherzige Raat manche Schüler verängstigten und überforderten, oder gar Widerstand hervorriefen. In ←13 | 14→Wedekinds Frühlings Erwachen ist Moritz Stiefel ein Paradebeispiel eines den schulischen Anforderungen nicht gewachsenen Schülers, der von Erfolgsdruck und Versagensängsten geplagt ist. Folgt man der Einschätzung Monika Carbes, so scheinen die fiktionalen Zeugnisse ein zutreffendes Bild vom Deutschunterricht zu geben: „Das ›Lied von der Glocke‹ galt als Schülerschreck und wurde so manchem Professor Unrat zum Folterwerkzeug.“3 Norman Ächtler hat darauf hingewiesen, dass verallgemeinernde Behauptungen dieser Art über die Unterrichtspraxis jedoch nicht historiographisch belegt werden.4 So bemerkt Peter Stein, dass der Roman, „auch wenn die dargestellte autoritäre Schulrealität beklemmend echt ist […] weder als Satire auf das wilhelminische Gymnasium noch als eine naturalistische Gesellschaftskritik ausreichend beschrieben“ ist. Manns Verfahren sei „nicht Abbildung, nicht Verdichtung auf Typisches, sondern Erfindung einer Über-Realität“.5

Ob in Heinrich Manns Professor Unrat oder anderen literarischen Transformationen ein realitätsnahes Bild des Deutschunterrichts um 1900 gezeichnet wird, ist sicherlich zu bezweifeln, verkörpert Raat in starker Überzeichnung nicht zuletzt einen Typus, der selbst im Lehrerkollegium einmalig ist. Fiktionale Texte können wie auch autobiographische Texte6 nur einen unzureichenden Einblick über die vergangene Schulwirklichkeit geben. Ebenso wenig lässt sich anhand von amtlichen Direktiven, Lehrplänen und Verordnungen oder literaturpädagogischen Abhandlungen ein getreues Bild über den Deutschunterricht gewinnen. Mit den noch verbliebenen historischen Quellen kann allenfalls eine Annäherung an die Schulwirklichkeit erfolgen. Zumindest kann über das Quellenmaterial rekonstruiert werden, welche Lektüren für den Unterricht empfohlen wurden und welche Überlegungen Schulmänner hinsichtlich der Art der Vermittlung anstellten. Was tatsächlich im Klassenraum stattfand, wird ein Geheimnis bleiben, sodass wir uns der historischen Realität, dem Deutschunterricht, nur bedingt annähern können. Dass Raat für den Unterricht Schillers ←14 | 15→Jungfrau von Orleans ausgewählt hat, ist mit Blick auf die historische Realität allerdings überzeugend, wurde Schillers romantische Tragödie doch als Lektürestoff für den Deutschunterricht an Gymnasien von amtlicher Seite empfohlen. Ein Blick auf die jüngste Vergangenheit zeigt, dass Schillers Drama nach wie vor in curricularen Vorgaben für die Sekundarstufe I eine Erwähnung findet. Ohnehin nimmt die Gattung des Dramas eine prominente Rolle im heutigen Literaturunterricht ein, insbesondere die Dramen von Goethe und Schiller bilden eine bedeutende Konstante. „Ihre Werke werden dauern“7, hatte August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur zutreffend vorausgeahnt. In der gymnasialen Oberstufe ist überdies ein immenses Interesse an Goethes Faust erkennbar. In den thematischen Schwerpunkten des Zentralabiturs für das Fach Deutsch aus zwölf Bundesländern (Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen, Sachsen, Hamburg, Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Bremen) im Zeitraum von 2005–2018 spiegelt sich mit insgesamt 27 Nennungen das ungebrochene Interesse an Goethes Tragödie wider.8 Den zweiten Platz belegt Franz Kafkas Der Prozess (21) gefolgt von Georg Büchners Woyzeck (19). Für den Abiturjahrgang 2015 war in Niedersachsen letztmalig Goethes Faust als verbindliche Lektüre vorgeschrieben.

Ein vergleichbares Interesse an Goethes Faust war vor gut einem Jahrhundert überraschenderweise praktisch nicht vorhanden. Die Schulprogramme höherer Lehranstalten enthalten vielfältige Informationen und Hinweise über die Historie des Deutschunterrichts. So kann beispielsweise rekonstruiert werden, welche Lektüren an Schulen gelesen und mit welchen Aufsatzthemen Schüler konfrontiert wurden. Nahezu vergeblich sucht man beispielsweise in den verfügbaren ←15 | 16→Programmen des Osnabrücker Ratsgymnasiums (1870–1911) nach einer entsprechenden Beachtung von Goethes Faust. Lediglich zwei Anhaltspunkte lassen sich in den Jahresberichten der Schule in einem Zeitraum von 40 Jahren finden. 1880 findet sich erstmalig ein Beleg für die Tragödie. Erst ein Vierteljahrhundert später folgt im Programm von 1906 ein weiterer Nachweis. In der Übersicht über die erledigten Aufgaben der Oberprima wird notiert, dass ein „Ausblick auf den Faust“ gegeben wurde. Eingehender wurden in diesem Jahr unter anderem Goethes Torquato Tasso und Iphigenie behandelt. Letzteres war im Übrigen für die Reifeprüfung zum Ostertermin relevant, mussten sich die Schüler doch mit Iphigeniens Frage – „Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?“ – auseinandersetzen.9 Goethes Drama besaß am Ratsgymnasium um 1900, so bleibt zu konstatieren, weder einen kanonischen Rang noch war es, wie der Vermerk in den Schulnachrichten anzeigt, abiturrelevant. So überrascht es nicht, wenn die beiden Schüler Melchior Gabor und Moritz Stiefel in Wedekinds Frühlings Erwachen sich einer Faustlektüre lediglich im Privaten zuwenden, verzichten die Pädagogen doch auf eine Besprechung von Goethes Tragödie. Wenn Melchiors liberal eingestellte Mutter die Meinung vertritt, dass ihr Sohn der Lektüre nicht gewachsen ist und warnend, sind die beiden doch gerade bei der Walpurgisnacht angelangt, von sich gibt: „Ich wollte dich nur darauf aufmerksam machen, daß auch das Beste nachtheilig wirken kann, wenn man noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen“10, trifft das wohl auf die Ansichten der meisten Schulmänner um 1900 zu, die sich einer schulischen Faustlektüre widersetzten.

Untersuchungen zur Fachgeschichte als ein Bereich innerhalb der Literaturdidaktik gehören sowohl in systematischer als auch in diachroner Hinsicht zum „Kernbestand literaturdidaktischer Forschung“ und sind laut Christian Dawidowski „bestens etabliert.“11 Der Deutschunterricht und seine Geschichte ←16 | 17→stehen seit vielen Jahren im Zentrum diverser Forschungsarbeiten. Trotz mannigfaltiger Publikationen stellt Dawidowski eine „gewisse Erstarrung“ innerhalb der fachgeschichtlich ausgerichteten Forschung fest. Ein Grund hierfür besteht sicherlich in „der Wiederentdeckung empirischer Forschungsarbeit (und deren massiver Forschungsfinanzierung)“ und der damit einhergehenden Verlagerung der Forschungsausrichtung. Dennoch bleibt die „historische Selbstreflexion“ ein „unverzichtbarer Bestandteil“12 der Literaturdidaktik. Bestehende Forschungsarbeiten haben bislang vornehmlich den Blick auf namhafte literaturpädagogische Schriften und die amtlichen Vorgaben gerichtet, dabei aber die schulische Rezeptionsebene weitestgehend außer Acht gelassen. Erst in der jüngsten Forschung hat die schulische Rezeption vermehrt Beachtung gefunden. Ein wesentliches Ziel der vorliegenden Studie besteht in der Erschließung und Rekonstruktion dieses fachhistorischen Diskurses. Eine schulische Beschäftigung mit deutscher Literatur beginnt maßgeblich in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. Robert Heinrich Hiecke und Karl Eduard Philipp Wackernagel fordern in ihren richtungsweisenden Literaturpädagogiken, Der deutsche Unterricht auf deutschen Gymnasien (1842), Der Unterricht in der Muttersprache (1843), die Aufnahme deutscher Dichtungen in den Unterricht. Obwohl bereits mit dem an der Universität Siegen situierten DFG-Projekt Der deutsche Lektürekanon an höheren Schulen Westfalens von 1820 bis 1918 beachtliche Ergebnisse hinsichtlich der Schulkanonisierung vorliegen, bleiben nach wie vor einige Fragen offen, beschränkt sich die Untersuchung doch auf die Auswertung von Schulprogrammen der preußischen Provinz Westfalen. So ist mit Blick auf den Schulkanon zu fragen, ob die Ergebnisse auch auf weitere preußische Provinzen und andere deutsche Territorien zutreffen. Besteht z. B. an höheren Lehranstalten im Königreich Sachsen oder in der preußischen Provinz Hannover ein vergleichbares Interesse für die Werke von Schiller und Goethe, und weshalb wird ein Werk wie Goethes Faust im Unterricht gemieden? Ist von einem einheitlichen Kanongebrauch an höheren Schulen auszugehen oder werden an höheren Schulen im Deutschen Reich bestimmte Texte favorisiert? Welche Ziele werden für den Umgang mit Literatur formuliert und welche Überlegungen haben die Schulmänner hinsichtlich einer didaktisch-methodischen Umsetzung getroffen? Die Arbeit versucht, eine Antwort auf diese und weitere Fragen zu geben.

Nach der Vorstellung grundsätzlicher forschungstheoretischer Überlegungen (vgl. Kapitel 1.1 und 1.2) folgt eine ausführliche Beschreibung zur Positionsbestimmung und Zielsetzung der Arbeit (vgl. Kapitel 1.3), bevor eine Vorstellung ←17 | 18→der verwendeten Quellen sowie eine genaue Explikation der methodischen Vorgehensweise das einleitende Kapitel beschließt (vgl. Kapitel 1.4). Es ist unerlässlich für eine Arbeit, die sich dezidiert einem historischen Untersuchungsfeld nähert, den zugrunde liegenden historischen Rahmen abzustecken. Selbstverständlich kann hier nur ein Überblick über die Rahmenbedingungen des Deutschunterrichts an höheren Schulen im Kaiserreich gegeben werden (vgl. dazu Kapitel 2).

Im zweiten Teil der Arbeit wird mittels eines historisch-empirischen Zugriffs der dramatische Lektürekanon um 1900 an 20 ausgewählten höheren Schulen im Deutschen Reich ermittelt. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob hinsichtlich des Schulkanons an höheren Schulen im Deutschen Reich allgemeingültige Tendenzen zu verzeichnen sind. Zu Beginn werden die Besonderheiten der für die Auswertung genutzten Quellen (Schulprogramme) im Detail zu beschreiben sein, lässt sich über die Jahresberichte höherer Schulen schließlich herausfinden, welche Autoren und Werke im Unterricht behandelt wurden (vgl. Kapitel 3.1). Des Weiteren kann mittels der Schulprogramme eruiert werden, welche Lehrer an den Schulen wirkten und in welchen Klassen die Lehrpersonen unterrichteten. Weiterhin können aus den Schulprogrammen mitunter biobibliographische Informationen gewonnen werden. Daran anknüpfend wird die Quellenauswahl dargelegt und begründet sowie eine Erläuterung der methodischen Vorgehensweise zur Rekonstruktion des dramatischen Lektürekanons gegeben (vgl. Kapitel 3.2). Die Auswertung der durchgeführten Erhebung wird in zwei gesonderten Kapiteln präsentiert. Zunächst richtet sich der Blick auf die Kernkanonautoren Schiller, Goethe und Lessing, die über Jahrzehnte hinweg den Schulkanon mit ihren dramatischen Werken dominiert haben (vgl. dazu Kapitel 3.3.1). Das nachfolgende Kapitel widmet sich den Randkanonautoren, für die in den Schulprogrammen nur vereinzelt eine Resonanz nachgewiesen werden kann (vgl. Kapitel 3.3.2). In einem abschließenden Resümee werden die wesentlichen Ergebnisse der empirischen Studie mit einem vergleichenden Blick auf bereits bestehende Forschungsarbeiten zusammengetragen (vgl. Kapitel 3.4).

In einem zweiten Schritt erfolgt die Untersuchung des literaturpädagogischen Diskurses (vgl. Dritter Teil: Dramenlektüre im Deutschunterricht – Untersuchungen zum literaturpädagogischen Diskurs unter besonderer Berücksichtigung der Zeitschrift für den deutschen Unterricht). Hierbei werden die Ergebnisse des zweiten Teils an ausgewählten Stellen, im Rahmen eines Blicks auf die Mikroebene, herangezogen. Neben den Schulprogrammen der höheren Schulen ist eine weitere Hauptquelle die Zeitschrift für den deutschen Unterricht. Diese von Otto Lyon herausgegebene Fachzeitschrift widmete sich erstmalig ausdrücklich den Fragen des Deutschunterrichts. Viele Deutschlehrer, die sich aus einer ←18 | 19→literaturwissenschaftlichen Perspektive Gedanken über eine geeignete Lektüreauswahl und Vermittlung von Literatur gemacht haben, publizierten Beiträge in dieser Zeitschrift. Insofern ist es erforderlich, in einem gesonderten Kapitel auf das Programm und die Konzeption der Zeitschrift einzugehen (vgl. Kapitel 4).

Zu Beginn stehen Lehrplankonzepte (vgl. Kapitel 5 Dramenlektüre im Deutschunterricht: Betrachtungen zu Lehrplankonzeptionen um 1900) im Fokus, wobei der Blick sowohl auf die normativen als auch diskursiven Quellen gerichtet wird. Die Analysen verlaufen teils sehr detailliert am Einzelfall (z. B. Klee / Ritter / Unbescheid), um der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand gerecht werden zu können. Kurzzusammenfassungen sind am Ende der jeweiligen Kapitel angefügt. Einleitend werden die kritischen Reaktionen auf die Einführung der preußischen Lehrpläne von 1892 beleuchtet (vgl. Kapitel 5.1). Im Anschluss stehen exemplarische Lehrplankonzeptionen im Zentrum, die in Auseinandersetzungen mit den amtlichen Vorgaben entstanden sind. Zunächst werden die Lehr- und Prüfungsordnungen für sächsische Gymnasien betrachtet. Der Bautzener Gymnasiallehrer Gotthold Klee hat für sein Gymnasium ein schulinternes Curriculum entwickelt und darin unterrichtspraktische Überlegungen getroffen (vgl. Kapitel 5.2.1). Die Umsetzung seines Lehrkonzepts kann mithilfe der Schulprogramme, die bereits im Zuge der empirischen Untersuchung eine Beachtung gefunden haben, beobachtet und überprüft werden (vgl. Kapitel 5.2.2). Daran anknüpfend werden die Lehrplanüberlegungen des Berliner Gymnasiallehrers Viktor Hirsch betrachtet (vgl. dazu Kapitel 5.2.3 / 5.2.4). Abschließend wird mit Bernhard Ritters Didaktik eine Konzeption für das höhere Mädchenschulwesen in Augenschein genommen (vgl. Kapitel 5.4). Die Schulnachrichten des Sophienstifts waren ebenso wie die Programme des Bautzener Gymnasiums Bestandteil der empirischen Kanonuntersuchung. Ritter war viele Jahre Direktor des Sophienstifts in Weimar, sodass kontrolliert werden kann, inwieweit die theoretischen Überlegungen Eingang in seinen Unterricht am Sophienstift gefunden haben (vgl. Kapitel 5.4.1 Dramenlektüre am Sophienstift in Weimar).

Das folgende Hauptkapitel Dramenlektüre im Deutschunterricht: Der Umgang mit dem Drama an höheren Schulen widmet sich primär den didaktisch-methodischen Vermittlungsverfahren sowie den Unterrichtszielen (vgl. dazu im Besonderen Kapitel 6.1). In jedem weiteren Unterkapitel steht jeweils ein Schwerpunktthema im Zentrum, wenngleich aufgrund der inhaltlichen Vielfalt einzelner Beiträge immer Anknüpfungspunkte zwischen den Kapiteln bestehen. Die Literaturpädagogen setzen sich u. a. mit dem Problem auseinander, wie bereits in den unteren Klassenstufen eine Auseinandersetzung mit der Gattung stattfinden kann (vgl. Kapitel 6.2). Des Weiteren steht die Eignung und Beschaffenheit von Schulbüchern auf dem Prüfstand (vgl. Kapitel 6.3). Im Detail spielt ferner ←19 | 20→die Verwendung der Dramenlektüre im Deutschen Aufsatz eine wichtige Rolle (vgl. Kapitel 6.4) und zuletzt wird zu prüfen sein, inwiefern die Lektüre und Literaturvermittlung im Zeichen der Nationalerziehung stand (vgl. Kapitel 6.5).

Kapitel 7 beleuchtet das Phänomen des Kanonwandels (Dramenlektüre im Deutschunterricht: Kanonwandel – Neue Lektüren für den Schulkanon). Die Literaturpädagogen setzen sich intensiv mit den bestehenden Direktiven auseinander und entwickeln vor dem Hintergrund ihrer Unterrichtserfahrung eigene Ideen und Alternativkonzepte (vgl. dazu auch Kapitel 5). So plädiert der Gymnasiallehrer Franz Kern für eine Aufnahme von Goethes natürliche Tochter in den Schulkanon (vgl. Kapitel 7.1). Inwiefern seine Vorstellungen Einfluss auf den Kanon genommen haben, kann durch die Ergebnisse zum dramatischen Lektürekanon aufgezeigt werden. Bildeten maßgeblich die Werke von Schiller, Goethe und Lessing den schulischen Kernkanon, fanden sich im literaturpädagogischen Diskurs zunehmend Fürsprecher, die für eine Berücksichtigung der nachgoethischen Literatur eintraten (vgl. Kapitel 7.2). Besonders eindrucksvoll lässt sich der schleichende Prozess des Kanonwandels an Goethes Faust demonstrieren, ein Spezialfall, denn Goethes Tragödie fand in den amtlichen Vorgaben keine Erwähnung und wurde fast konsensuell als nicht schultauglich befunden (vgl. Kapitel 7.2.1 / 7.2.2).

Das letzte Hauptkapitel beleuchtet die Positionen zum Theaterbesuch und den dramatischen Schüleraufführungen (vgl. Kapitel 8 Dramenlektüre im Deutschunterricht: Dramatische Schüleraufführungen – neue Interpretationsverfahren im Literaturunterricht). In Kapitel 8.1. stehen zunächst die kritischen Haltungen zum Theaterbetrieb im Mittelpunkt, bevor in Kapitel 8.2 Ansichten über dramatische Schüleraufführungen präsentiert werden und deren Einbindung in den Unterricht und Schulalltag anhand der Schulprogramme nachvollzogen wird.

In Kapitel II (Zusammenfassung: Der Diskurs über die Dramenlektüre im Deutschunterricht an höheren Lehranstalten) erfolgt abschließend eine Zusammenführung der Ergebnisse aus dem zweiten (Zweiter Teil: Der dramatische Lektürekanon an höheren Schulen um 1900) und dritten Teil (Dritter Teil: Dramenlektüre im Deutschunterricht – Untersuchungen zum literaturpädagogischen Diskurs unter besonderer Berücksichtigung der Zeitschrift für den deutschen Unterricht).


1 Heinrich Mann: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Frankfurt a. M. 32002, Zitate S. 12, 13, 15.

2 Hermann Hesse an Felix Salten, 13. März 1905. Zit. nach Hermann Hesse: »Aus dem Traurigen etwas Schönes machen«. Die Briefe. Bd. 2. 1905–1915. Hg v. Volker Michels. Berlin 2013, S. 13.

3 Monika Carbe: Schiller. Vom Wandel eines Dichterbildes. Darmstadt 2005, S. 62.

4 Vgl. Norman Ächtler: Schulprogramme Höherer Lehranstalten. Ein bislang unbeachtetes Quellenkorpus zur Schiller-Rezeption im 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2016, S. 298–346, hier S. 302.

5 Peter Stein: Heinrich Mann. Stuttgart, Weimar 2002, S. 65.

6 Vgl. Hermann Korte: »Meine Leserei war maßlos«. Literaturkanon und Lebenswelt in Autobiographien seit 1800. Göttingen 2007. Hier insbesondere das Kapitel »Wir liebten die deutschen Stunden nicht«. Autobiographische Vorbehalte gegen die Macht der Kanoninstanz Schule. „In Autobiographien werden Schulerlebnisse meistens strikt nach positiv und negativ erinnerten Episoden unterteilt.“ Ebd., S. 94.

7 August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Kritische Ausgabe eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Giovanni Vittorio Amoretti. Bd. II. Bonn u. Leipzig 1923, S. 285–310, hier S. 279: „Doch darf ich wohl von der dramatischen Laufbahn Goethe’s und Schiller’s, zweyer Männer, auf welche unsre Nation stolz ist, und im vertrauten Umgange mit denen ich oft meine Gedanken über die Kunst berichtiget habe, mit der Offenheit reden, welche ihres großen uneingennützigen Strebens würdig ist. Die Verirrungen, welche sie, anfänglich noch in Mißverständnissen begriffen, veranlaßt haben, während sie immer reinerer Klarheit entgegen gingen, sind zum Theil schon in Vergessenheit versunken oder werden es bald seyn; ihre Werke werden dauern: wir haben darin wenigstens die Grundlage einer zugleich eingenthümlichen deutschen und ächt künstlerischen dramatischen Schule.“

8 Vgl. hierzu die Untersuchung von Christian Dawidowski u. Lisa Maas: Der schulische Lektürekanon im Zentralabitur der deutschen Bundesländer seit 2005. Eine Erhebung. Erscheint in den MdDG 2018.

9 Vgl. (SP Osnabrück: Ratsgymnasium 1906)

10 Frank Wedekind: Frühlings Erwachen (1891). In: ders.: Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 2. Hg. v. Mathias Baum u. Rolf Kieser. Darmstadt 2000, S. 259–322, hier S. 280.

11 Christian Dawidowski: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Fachgeschichte? Beginn einer methodologischen Selbstreflexion in der Literaturdidaktik. In: Fachgeschichte in der Literaturdidaktik. Historiographische Reflexionen für Theorie und Praxis. Hg. v. dems. u. Nadine J. Schmidt. Frankfurt a. M. 2017, S. 9–34, hier S. 11, 9. In der Reihe „Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts“ sind seit 1988 über 70 Bände erschienen. Neben zahlreichen Sammelbänden beschäftigen sich viele Monographien mit Einzelaspekten des Fachs. Vgl. Christian Dawidowski u. Bodo Lecke (Hg.): Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts. Frankfurt a. M. [u. a.] 1983ff.

Details

Seiten
540
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631799031
ISBN (ePUB)
9783631799048
ISBN (MOBI)
9783631799055
ISBN (Hardcover)
9783631776681
DOI
10.3726/b16363
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Literaturpädagogik Literaturunterricht höheres Schulwesen Mädchenschulwesen Kanonwandel Schüleraufführungen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 540 S., 17 s/w Abb., 56 Tab.

Biographische Angaben

Helge C. Liebsch (Autor:in)

Helge Christian Liebsch studierte Germanistik und Kunstpädagogik an der Universität Osnabrück und war als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am germanistischen Institut der Universität Osnabrück im Bereich der Literaturdidaktik tätig.

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Titel: Das Drama im Deutschunterricht um 1900
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