Lade Inhalt...

HimmelsKartenWissen

Frühneuzeitliche Kartierungen des Himmels im Kontext einer theatralen Wissenskultur

von Juliane Howitz (Autor:in)
©2016 Dissertation 410 Seiten

Zusammenfassung

Auf innovative Weise untersucht die Autorin die Kartographie als spezifische historische Inszenierungspraxis vor dem Hintergrund der Welt als Bühne im 16. und 17. Jahrhundert. Wen oder was inszenieren frühneuzeitliche Himmelskarten? Wie präsentieren sie den neuen astronomischen Himmel? Himmelskartographischen Werken der Frühen Neuzeit fällt als Theatri eine besondere Rolle bei der Sammlung und Darstellung von Wissen zu. Im Zusammentreffen von Wissenschaftsgeschichte, Kartographiegeschichte und Theaterwissenschaften offenbart sich ein Paradox im Goldenen Zeitalter der Himmelskartographie: Wachsende astronomische Wissensbestände führen zu sinkender kartographischer Darstellbarkeit. So liegt der besondere Reiz der Karten in der theatralen Vermittlungsleistung zwischen diesen Polen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Krisenhaftigkeit und Herausforderung – Kontextuierung der Entstehung frühneuzeitlicher Himmelskartographie
  • 2.1 Perzeption und Beschreibung eines erneut unbekannten Himmels
  • 2.1.1 Neuheit
  • 2.1.2 Multiplizität
  • 2.1.3 Entgrenzung und Entordnung
  • 2.2 Erschütterung des Wahrnehmungsverhaltens und Zweifel gegenüber der eigenen Sinneserfahrung
  • 2.2.1 Die Frühe Neuzeit als Epoche optischer Innovationen
  • 2.2.2 Gesehener Raum vs. ‚echter‘ Raum
  • 2.3 Kartographischen Wende, bildhafte Blicke und neue Medien
  • 2.3.1 Kartographische Wende, kartographischer Blick, kartographische Bildhaftigkeit
  • 2.3.2 Innovationen der Form
  • 2.4 Resümee
  • 3 Momente von Theatralität und Inszenierung – Frühneuzeitliche Himmelskartographie als Inszenierungspraxis
  • 3.1 Theatrale Aspekte des Handelns, Betrachtens und Darstellens
  • 3.1.1 Untersuchungsaspekt Theatralität
  • 3.1.2 Die Vermessung des Himmels als theatraler Akt
  • 3.1.3 Die Inszenierung des Beobachterstandpunkts
  • 3.1.4 Das Ausstellen des Imaginären – Theatralität als Raumabbildungsverfahren
  • 3.2 Himmelskarten im Kontext der Theatrum-Kultur der Frühen Neuzeit
  • 3.2.1 Der frühneuzeitliche Begriff des Theatrums
  • 3.2.2 Zum Theatrum als enzyklopädische Metapher
  • 3.2.3 Giovanni Paolo Galluccis Theatrum mundi, et temporis
  • 3.3 Himmelstheater in konkreter Einschreibung – Spezifische Ausdrucksformen frühneuzeitlicher Himmelskartographie
  • 3.3.1 Zwischen Provisorischem und Verbindendem – Frühneuzeitliche Himmelskarten wirken als Theatri
  • 3.3.2 Ebenen und Endlosigkeiten – Zur Darstellung von Kartenhintergrund
  • 3.3.3 Sammeln, Ordnen, Präsentieren – Frühneuzeitliche Tabellenästhetik
  • 3.4 Resümee
  • 4 Zusammenfassung, Schlussbetrachtungen und Ausblick
  • 5 Anhang
  • 5.1 Bibliographie
  • 5.2 Abbildungsnachweise
  • Reihenübersicht

1    Einleitung

Die Konstituierungsphase neuzeitlicher Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert offenbart in der Vermessung und Kartographierung des Himmels auf exemplarische Weise eine generelle Fragwürdigkeit überkommener Räume, Instrumentarien und Praktiken des Wissens. Himmelskartographie wird zum Ausdruck einer Übergangszeit im Wechselspiel von berechnender Versachlichung und gesteigerter Theatralität als Resultat tiefumgreifender Umbrüche von Wissenssystemen. Himmelskartographische Werke der Frühen Neuzeit unterscheiden sich deutlich von früheren Karten und scheinen eine ganz eigene, spezielle Art der Notation, Stilisierung und Performanz von Wissen zu entwickeln. Zwischen berechnender Versachlichung und wirkungsorientierter Inszenierung wird eine neue Präsentationsform der Himmelskartographie im Kontext zeitgenössischer Theatrum-Kultur zum signifikanten Ausdruck einer epimestologischen Übergangszeit. Ziel dieser Dissertation ist es, diesen Sachverhalt genau zu fassen und seine Ursachen im Kontext einer frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte zu erforschen. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht geht es dabei vor allem um jene Interferenzen von Kunst und Wissenschaft, deren Erforschung in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend interdisziplinäre Aufmerksamkeit erlangt hat. In diesem Sinne soll Kartographie hier als spezifische historische Inszenierungspraxis untersucht werden. Himmelskarten interessieren vor allem als Produkte eines inszenatorischen Vorgehens, in welchem grundlegende Zusammenhänge zwischen dem Ringen um neues Wissen und der Suche nach angemessenen Darstellungsformen besonders deutlich hervortreten. Was ist das Wesen frühneuzeitlicher Himmelskartographie? Wie präsentiert sie sich und den Himmel im Moment faktischer Unzulänglichkeit bezüglich der an sie gestellten Aufgabe?

Forschungsgegenstand

Die Erfassung des Himmels in kartographischen Formen ist so alt wie die Menschheit, doch bis zur Frühen Neuzeit schien der Himmel als zu erfassender und darzustellender Gegenstand unveränderbar und unverändert, während sich kartographische Formen entwickelt haben. Seit der Antike setzte dann eine jahrhundertelang andauernde Phase kartographischer Stagnation ein, während derer Daten und Formen überliefert, aber weder methodisch noch inhaltlich bedeutende Neuerungen erreicht wurden. Die geographische Erschließung der Welt durch die Europäer im 16. und 17. Jahrhundert und die revolutionären astronomischen Entdeckungen seit Kopernikus forderten und ermöglichten dann gleichermaßen die kritische Auseinandersetzung mit dem seit dem 2. Jahrhundert kaum veränderten Land- und Himmelskarten des Ptolemäus’ – der „Ort der Welt“1 wird neu vermessen. Erst dann, im Zuge einer allmählichen Loslösung von diesen überlieferten Daten sowie ← 11 | 12 → eines christlich geprägten Bildes von der Welt, sowie des wachsenden Vertrauen in die eigene Beobachtung, die eigenen Messungen, entsteht eine historisch zunehmend autonome zeitgenössische Kartographie in Europa. Der Wechsel von der Abbildung eines imaginären Raumes in Betonung eines symbolisch-allegorischen, insbesondere religiösen Weltbildes hin zur Darstellung von Vermessungsergebnissen der geographischen Erde mit naturwissenschaftlichem Anspruch ist in der Forschung als Kartographische Wende bekannt und bezeichnet die grundlegend neue Ausrichtung der kartographischen Praxis.2 Im politisch, wissenschaftlich und kulturell aufgeladenen Spannungsfeld der beginnenden Neuzeit wagt diese neue Kartographie die Deutung einer sich neu gestaltenden Welt. Während diese Entwicklung für die Landkartographie gut erforscht und belegt ist, stehen umfassende Untersuchungen frühneuzeitlicher himmelskartographischer Publikationen noch aus. Dabei verspricht der forschende Blick auf dieses Feld der Kartographie ganz eigene Erkenntnisse im Bereich der Notationsverfahren historischer Räume, ihren Darstellungsformen und der sich daraus entwickelnden Mechanismen von Wissensdarstellung und -vermittlung. Denn im Gesamtkontext revolutionärer astronomischer Erkenntnisse, kartographischen Innovationen und gesellschaftsdurchdringender Theatralitätserfahrung entsteht eine völlig neue Art der Himmelskartographie, deren Neugestaltung über die in der Landkartographie erfahrene Gebietserweiterung und Vermessungspräzisierung weit hinaus geht. Ausgehend von der durch die Forschung gut dokumentierte sogenannte Kartographischen Wende der Landkartographie ließe sich annehmen, dass sich ein ähnlicher Prozess der mathematischen Präzisierung, Entmystifizierung und berechenbarer Objektivierung von Raum ebenfalls für die europäische Himmelskartographie zwischen 1500 und 1800 nachzeichnen ließe. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr sind Vorgänge des Auseinanderfallens des Himmelsraums in multiple Räume, Prozesse der Überlagerung von Darstellungs- und Benennungsstrategien und eine generelle diffuse Orientierungslosigkeit feststellbar. Praktiken theatraler Inszenierung und barocke Gestaltungsformen könnten als Versuche verstanden werden, sich diesen Tendenzen der Entwertung, Überforderung und Hilflosigkeit entgegenzustellen. Als Mischform zwischen Präsentationsplattform neuester wissenschaftlicher Ergebnisse und imaginativem Darstellungsraum überlieferter Sternbilder in figurativer Gestaltung liegt der besondere Reiz bei der Analyse dieser Werke in ihrer Vermittlungsleistung zwischen altem und neuem Himmel in einem Übergangszeitraum zwischen karto­graphischem Ganzheitsanspruch und Scheitern der Disziplin gegenüber ihrem eigenen Gegenstand.

Die Berichte der großen Entdeckungsfahrten seit Christoph Kolumbus, die systematische Durchführung naturwissenschaftlicher Experimente, die umfassenden Fortschritte und Erkenntnisse der Astronomie sowie ein auf mathematischer Berechnung begründetes Raumbewusstsein schaffen einen neuen Himmelsraum und ← 12 | 13 → stellen entsprechend grundlegend veränderte Anforderungen an dessen kartographische Darstellung. Eine neue Himmelskartographie – beginnend mit Alessandro Piccolominis De le Stelle Fisse (1540) – stellt sich dieser Herausforderung. Die zweite Hälfte des ausgehenden 16. und insbesondere das 17. Jahrhundert gelten interessanterweise trotz der offensichtlichen neuen Aufgaben und den damit verbundenen Herausforderungen der Disziplin als Goldenes Zeitalter und produktivste Phase europäischer Himmelskartographie.3 Die seit der Veröffentlichung von Piccolominis Handatlas entstandenen Kartenwerke sind visuell spektakulär oder wissenschaftlich ambitioniert, zuweilen beides. Sie sind um eingehende Darstellungen bemüht, oft sind sie Teil eines größeren enzyklopädischen Projekts (Sebastian Münster, 1544/ Giovanni Paolo Gallucci, 1588). Neuerungen wie die Einführung von Koordinaten- (Gallucci) und Nomenklatursystemen (Johann Bayer, 1603) sind Ausdruck des wissenschaftlichen Fortschritts der Zeit. Trotzdem bleiben die Karten in erster Linie der Tradition einer mythologisch-astrologischen Abbildung von Sternbildern verhaftet: Piccolominis Atlas bleibt im Verzicht auf die figürliche Darstellung eine seltene Ausnahme. So werden Himmelskarten des 16. und 17. Jahrhunderts in der Forschung häufig vor allem wegen ihres ästhetischen Wertes gewürdigt und beispielsweise die Atlanten Andreas Cellarius᾿(1660/61) und Julius Schillers (1627) waren als prächtig ausgestattete Bände schon zu Zeiten der Veröffentlichung mehr Kunst- als Gebrauchsgegenstände. Dieser Betonung des Figürlich-Ästhetischen geht oft einher mit bald schon typischen Verfahren der Rahmung und dadurch Isolation einzelner Sternbilder auf einem Kartenblatt. Übersichtstabellen sowie die Einführung neuer Konstellationen und Projektionsverfahren sind weiterer Ausdruck eines Bemühens um Präzisierung in der wissenschaftlichen Darstellung. Im dynamischen Wissensraum der Frühen Neuzeit versucht die Himmelskartographie durch diese multiplen, mitunter gegenläufigen Strategien den veränderten zu karto­graphierenden Gegenstand zu fassen. Die Werke werden dadurch zum Ausdruck für den Neuentwurf einer Disziplin und ihrem gleichzeitigen partiellen Scheitern auf höchstem ästhetischen Niveau. Exemplarisches Problemfeld ist die nun notwendig gewordene Entscheidung zwischen geozentrischem und heliozentrischem Modell des Universums. Die Kartographen zeigen ersteres (Giovanni Paolo Gallucci, Julius Schiller, Johannes Hevelius), letzteres (Sebastian Münster, Johann Bayer), oder stellen mehrere Systeme als gleichberechtigte Alternativen oder historischen Abriss vor (Andreas Cellarius, Aegedius Strauch). Es herrscht Unentschlossenheit ob des zu kartographierenden Raums. Diese Unsicherheit ist symptomatisch für das neue Verhältnis zwischen Astronomie und Kartographie. Die revolutionären Erkenntnisse in der frühneuzeitlichen Astronomie spielen als Grundlage himmels ← 13 | 14 → kartographischer Werke eine grundlegende Rolle in der Perzeption und Beschreibung des erneut unbekannten physikalischen Himmels. Die Forschungsergebnisse von Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei und Johannes Kepler bilden bis heute die Grundlage für unser Weltbild und Raumverständnis von Himmel und Erde. Im Ergebnis einer auf den Himmel gerichteten forschenden Neugier markiert Kopernikus’ De revolutionibus orbium coelestium (1543) den Beginn eines neuen Paradigmas der Wissenschaften und lässt gleichzeitig den Untersuchungs- und Darstellungsgegenstand Himmel erneut fragwürdig werden. Während der Himmelsbetrachter sich im antiken und mittelalterlichen Naturverständnis in unmittelbaren Bezug zur Totalität des Universums setzen konnte, löst der kopernikanische Bruch dieser Tradition eine tiefe Verunsicherung aus. Im Erkennen der Gebundenheit der menschlichen Perspektive und darüber hinaus der nie aufzulösenden Partialität der eigenen Erfahrung und Erkenntnis muss der Himmelsraum als solcher neu hinterfragt und in dieser Fragwürdigkeit wieder gefasst werden. Dabei waren die einzelnen Phasen der Neuordnung, Entgrenzung und Entordnung des Himmelsraums Komponenten einer ebenso bahnbrechenden wie beängstigenden elementaren Einsicht: der Himmel ist veränderlich. Hinzu kam die Ausweitung des Himmelsraums in seiner Weite, bedingt durch Reisetätigkeit in die südliche Hemisphäre, und Tiefe, ermöglicht durch den Einsatz optischer Instrumente. Während Ptolemäus’ Sternkatalog 1022 Sterne verzeichnete, konnte Johann Bayer 1603 bereits 1564 Sternpositionen angeben und die herausragende Beobachtungsleistung John Flamsteeds ließ dessen Katalog auf 2554 Sterne anwachsen.

Doch neben diesen epochalen Entwicklungen, welche Astronomie zu einer Leit- und Modellwissenschaft der Zeit machten4, ist die frühneuzeitliche astronomische Wissenschaftsgemeinde zugleich eine Welt voller skurriler Geschichten und außergewöhnlicher Persönlichkeiten mit Nasen aus Gold, Unfällen mit Todesfolge, epischen Auseinandersetzungen und ungeklärten Todesfällen.5 Eine Kenntnisnahme ← 14 | 15 → dieser Dimension von Wissenschaftsgeschichte kann durchaus mehr leisten als nur die Lieferung unterhaltsamer Anekdoten. Diese zwei Seiten astronomischer Datenlieferung als Grundlage himmelskartographischer Werke – faktische Forschungsleistung einerseits und gesellschaftliche Kontextuierung andererseits – lassen sich übertragen auf die Analyse der hier diskutierten Werke selbst. Denn um ein umfassendes Verständnis des relevanten Quellenmaterials zu erlangen sind die Entstehungsvoraussetzungen, unter denen Karten als Resultat weitreichender Vorgänge des Sammelns, Verarbeitens und Darstellens von Informationen erstellt wurden, von ebenso großem Interesse wie rein faktische Daten der Materialauswertung, beispielsweise die Anzahl dargestellter Sterne oder die Größe eines Kartenblatts. Die hierbei zugrunde liegende Arbeitshypothese besagt, dass Himmelskarten nicht allein auf Anschauung des Sternenhimmels basieren, sondern ebenso Ausdruck verschiedener in der Neuzeit grundlegend neuer Praktiken der Weltaneignung sind. Diese stehen nicht zwangsläufig in einem engen kartographiehistorischen Kontext. Die Unterscheidung nach relevanten Praktiken des Handelns, des Betrachtens sowie des Darstellens erlaubt es dabei zum einen, grundlegende wissenschaftlichen und kulturellen Veränderungen der Frühen Neuzeit für das vorgestellte Projekt zu fassen und zum anderen, Himmelskartographie als Inszenierungspraxis zu untersuchen, deren theatrales Gefüge sich im Zusammenspiel von Wahrnehmung, Bewegung und Sprache manifestiert6.

Aspekte des Reisens und des Messens als Dimension praktischen Handelns bilden einen wichtigen Bezugsrahmen kartographischer Ausdrucksformen. Mit dem endgültigen praktischen Beweis der (annähernd) kugelförmigen Erdgestalt durch die Weltumsegelung der Flotte Ferdinand Magellans (1519–22), beendet unter dem Kommando Juan Sebastián Elcanos, wurden der mittelalterlichen Ordnung der Welt ihre räumlichen Grenzen entzogen. Wenn Michel de Certeau konstatiert, die Emanzipation des Ortes vom Raum finde im Zeitraum des 15.–17. Jahrhunderts statt7, dann wird im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Raumkonstitution durch menschliche Praktiken ersichtlich, wie sehr neue Räume der Frühen Neuzeit als Handlungsräume gedacht werden müssen. Neuzeitliche Reisepraktiken schlagen sich in himmelskartographischen Werken natürlich in der Erweiterung des kartographischen Erfassungsraums nieder. Gleichzeitig beginnt die mathematische Erfas ← 15 | 16 → sung der Welt durch geometrisch-mathematisch fundierte Formen der Vermessung und der Himmelsraum wird als Vermessungsraum zunehmend berechnet anstatt geschaut. In der Kartengestaltung findet dieser Paradigmenwechsel unter anderem in der veränderten Platzierung der Sterne Ausdruck. Wurde die Position der Sterne bis 1500 oft der figürlichen Darstellung des Sternbilds angepasst, bestimmt die vermessenen und berechnete Lage der Sterne nun die künstlerische Ausgestaltung des Sternbilds. Der Vermessung bleibt die Beobachtung als astronomisches Arbeitsmethode jedoch beigestellt. Dabei führen neue Praktiken des Betrachtens in der Frühen Neuzeit zu einem veränderten Blick auf den Himmelsraum. Teleskop und Mikroskop begründen den Anspruch der universalen Sichtbarmachung des Unsichtbaren als unabdingbaren Beweis des Seins der Dinge und führen zu einer Krise der Wahrnehmung mit Zweifeln gegenüber der eigenen Sinneserfahrung. So ist Wissen zwar Sehen – die 1660 in London gegründete Royal Society wählt das Motto „Nullius in Verba“ – aber Sehen nicht unbedingt Wissen. Im Zusammenhang mit dem von Christine Buci-Glucksman als zwischen Nahem und Fernem oszillierend charakterisierten kartografischen Blick lässt sich so ein entscheidender Zusammenhang zwischen diesen neuen Instrumenten und einem speziellen Blick auf das zu kartographierende Objekt, den Himmel, herstellen. Darüber hinaus werden seit 1576 in Europa mehrere feste, astronomische Beobachtungsanlagen gebaut. Tycho Brahes Anlagen Uraniborg und Stjerneborg (Bau beendet 1580) auf der heute schwedischen Insel Hven verdeutlichen in ihrer gewählten Isolation mit fast utopischem Charakter als architektonische Beispiele die spezifische Bedeutung des Beobachterstandpunktes für die wissenschaftliche Arbeit. Auch anhand des europaweiten zeitgenössischen Medienechos auf Brahes Schlossanlage und des für die damaligen Verhältnisse enormen Reiseaufkommens von und zu der kleinen Insel im Öresund lässt sich die Bedeutung des Wechselspiels zwischen Beobachtungsort und Karte nachvollziehen.

Neue Darstellungspraktiken und -verfahren in den Künsten zeigen darüber hinaus ein von der Kartographie ganz unabhängiges Bild des Himmels in der Frühen Neuzeit. Anamorphotische Verfahren, Zentralperspektive und die neue Bedeutung des Horizonts werden zum darstellenden Ausdruck einer Suche nach Berechenbarkeit des nicht leicht Erfassbaren.8 Auch der auf der Barockbühne gezeigte Himmel im Kontext eines umfassenden Weltganzen im Theatrum Mundi prägt neben metaphorischen Himmelskarten der Literatur (Shakespeare, Kepler, Milton, Mores) und Darstellungen der Malerei (insbesondere Vermeer, Gossaert, Brueghel d. Ä., Hans Holbein d. J.) ein spezifisches zeitgenössisches Himmelsbild. Die Einflussnahme ← 16 | 17 → dieser Darstellungspraktiken auf Formen der Landkartographie ist nachgewiesen.9 In der vorliegenden Studie wird insbesondere Spuren des Theaters im Zusammenhang mit der Theatrum-Kultur des 16. und insbesondere des 17. Jahrhunderts nachgegangen. Als Raumabbildungsverfahren besitzen Kartographie und Theatralität ähnliche Mechanismen des Umgangs mit Raumfragen. Beschreibung und Erfassung von Räumen unterliegen dabei in der Frühen Neuzeit nicht nur im Kontext astronomisch-kartographischer Studien der Spannung zwischen vermessbarem, geometrischem Systemraum und paradoxem, amorphem Erfahrungsraum. Die besondere Relevanz und Brisanz der Veränderungen am Himmelsraum und die daraus folgende Anwendung theatraler Navigationsstrategien in diesem Feld begründen sich jedoch in der Neuheit dieses Himmels und der Durchschlagskraft, mit der sich speziell kartographische Verfahren den politischen, wissenschaftlichen, kulturellen und ästhetischen Veränderungen jener Zeit stellen. In Himmelskarten als theatralem Darstellungsraum fallen Raumwissen und Himmelswissen zusammen, so dass der Erforschung theatraler Präsentations- und Inszenierungsverfahren eine hohe Bedeutung zur Erschließung des Themas beigemessen werden muss.

In der Untersuchung des wissenschaftsgeschichtlichen Kontextes der Entstehung dieser Himmelskarten ist ein theaterwissenschaftlicher Ansatz daher von großem Wert, verspricht doch gerade die Hinterfragung kartographischer Darstellungmechanismen vor dem Hintergrund der „Welt als Bühne“ im 17. Jahrhundert entscheidende Ergebnisse. In den letzten Jahren wurde in den Geistes- und Sozialwissenschaften zunehmend die Bedeutung des Performativen in den großen europäischen Kommunikationsumbrüchen im Mittelalter, der Frühen Neuzeit und der Moderne erkannt und untersucht. In diesen Zusammenhängen wurde aus theaterwissenschaftlicher Perspektive auch der Begriff des Theatrums erforscht, welcher als Organisationsmodell und Metapher insbesondere im 16. und 17. Jahrhundert eine spezifische Form der Wissensdarstellung, -sammlung und -präsentation impliziert. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist die gehäufte Nutzung des Begriff des Theatrums ein symptomatischer Ausdruck für die Instabilität und Dynamisierung von Wissensräumen in der Frühen Neuzeit.10 Der 1588 erschienene, erste moderne Himmelsatlas Theatrum mundi, et temporis von Giovanni Paolo Gallucci stellt sich ebenso in die reiche Tradition gleichnamiger Werke, welche in dieser enzyklopädischen Metapher in einer epistemologischen Umbruchzeit Wissen zu ← 17 | 18 → bündeln versuchen, wie Stanislaw Lubienieckis umfangreiches Sammelwerk Theatrum Cometicum (1666–1668) und das französischsprachige Théâtre Francoys (1594) von Maurice Bourguereau. Doch auch frühneuzeitliche Karten, in dessen Titel sich der Begriff des Theatrums nicht finden lässt, so die These, sind im Kontext der Theatrum-Kultur zu verorten. Zum einen, weil sich theatrale Merkmale auch in den Inszenierungsstrategien einzelner Kartenblätter feststellen lassen. Zum anderen, weil in der erörterten Ausnahmesituation einer zunehmenden Auflösung der visuellen Deckungsgleichheit zwischen Karte und ihrem Darstellungsgegenstand das Theatrum als Organisationsmodell eine Vermittlungsebene zwischen konkurrierenden Aspekten des darzustellenden Himmelsraums bietet. Vor diesem Hintergrund und aus dem Verständnis einer wissenschaftsgeschichtlich orientierten Theaterwissenschaft heraus wird der Begriff der Theatralität im hier entworfenen Vorhaben als charakterisierendes Merkmal innerhalb einer performativ orientierten Wissenschaftsgeschichte verwendet.

Zielsetzung

Die Entdeckung der Kartographie in den vergangenen Jahren als Leitbegriff und Denkmodell verschiedener Disziplinen war auf vielen Gebieten fruchtbar und steht gleichzeitig und wechselwirkend in Zusammenhang mit der Öffnung kartographiehistorischer Forschung für neue, auch interdisziplinäre Ansätze der Analyse und Auswertung kartographischen Quellenmaterials11. Doch die alleinige Bezugnahme vieler dabei entwickelter Theorien auf geo-kartographische Werke und deren Vorgänge der Inszenierung, Darstellung und Eroberung des Raums der Welt beschränkt nicht nur die Entwicklung eines Arbeitsbegriffs ‚Karte‘ unnötig, sondern vergibt zudem die Möglichkeit der Beleuchtung nur scheinbar randständiger Themen, welche einen erheblichen Beitrag zur Schreibung und Etablierung einer interdisziplinär geprägten Wissenschaftsgeschichte leisten können. Aus den genannten Gründen ist es wichtig, frühneuzeitliche Himmelskartographie als historisch geprägten Ausdruck einer epimestologischen Krisenerfahrung ernst zu nehmen und ihr gegenüber dem weit bearbeiteten Feld frühneuzeitlicher Landkartographie mehr als nur eine Nebenrolle einzuräumen. Durch die Verknüpfung theaterwissenschaftlicher Aspekte mit wissenschafts- und kartographiehistorischen Fragestellungen wird der Rahmen für eine entsprechende Neubearbeitung des Quellenmaterials zur Beantwortung der Frage nach dem Charakter frühneuzeitlicher Himmelskartographie in Zeiten einer Krisenerfahrung der Disziplin sinnvoll abgesteckt. Ziel der vorliegenden Arbeit war es, den Umgang der entsprechenden kartographischen Werke mit den ihnen zugrunde liegenden neuen, unsicheren und mitunter veralteten Wissensbeständen zu analysieren, auch unter Berücksichtigung bisher kaum erschlossenen Quellenmaterials. Insbesondere den bislang von der Forschung vernachlässigten theatralen Implikationen himmelskartographischer Werke soll nachgespürt werden, um eine Studie zu ← 18 | 19 → theatralen, ästhetischen, erkenntnistheoretischen und kulturhistorischen Aspekten auf Grundlage ausgewählter historischer Kartenwerke zu erstellen und die gesamte historische Dimension des als These angenommen zwangsläufigen Scheiterns der kartographischen Erfassung des Himmels seit Kopernikus erfassen zu können. Die Arbeit leistet so einen Beitrag zur Erforschung historischer theatraler Räume und ihrer Notationsverfahren. In diesem Sinne wird Kartographie als spezifische historische Inszenierungspraxis untersucht und verstanden. Ausgehend von dieser Zielsetzung und den Vorüberlegungen lassen sich die wichtigsten Ausgangsthesen des Projekts folgendermaßen skizzieren: Es wird davon ausgegangen, dass sich die im Vorhaben zu spezifizierenden Ausdrucksformen und Darstellungspraktiken frühneuzeitlicher Himmelskartographie als signifikanter Ausdruck einer epistemologischen Übergangszeit verstehen lassen. Dabei tritt der wissenschaftshistorisch paradoxe Fall auf, dass durch die fortschreitende wissenschaftliche Erschließung des physischen Himmelsraums dessen kartographische Erfassung und Darstellung nicht, wie anzunehmen wäre, erleichtert, sondern, ganz im Gegenteil, erschwert wird. Das neue Wissen über den spezifischen Raum des Himmels entzieht sich zunehmend der kartographischen Darstellbarkeit. Angesichts dieser Tendenz und der gleichzeitig enormen Produktivität europäischer Kartographen und Astronome im fraglichen Zeitraum ergibt sich die Frage, was dann kartographisch in all diesen Werken dargestellt wird. Sie zeigen, so die These, theatrale Vermittlungen von Himmelswissen. Im Zusammentreffen von auf neue Weise unbekanntem Himmel, fragwürdig gewordenen (Wissens)Räumen und neuen Praktiken der Kartographie fällt himmelskartographischen Werken daher als Theatri eine besondere Rolle bei der Sammlung und Darstellung von Wissen zu. Im Kontext einer theatral geprägten Wissenskultur der Frühen Neuzeit wirkt das Theatrum als Organisationsmodell, enzyklopädische Metapher und Verbindungsebene, durch welches versucht wird, die Dissonanzen zwischen Darstellungsgegenstand und kartographischen Formen zu überwinden.

Methodik

Die Überprüfung dieser Hypothesen und die spezifische Anlage des Projekts erfordert eine Vorgehensweise, welche sowohl für die Arbeit am historischen Quellenmaterial als auch in Hinblick auf die Untersuchung und Deutung von Techniken und Formen der Präsentation und Inszenierung geeignet ist. Als Beitrag zu einer performativ orientierten Wissenschaftsgeschichte oder einer wissenschaftshistorisch ausgerichteten Theaterwissenschaft bewegt sich die Arbeit an der Schnittstelle zwischen Kartographiegeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Theaterwissenschaft. Daher ist nur eine interdisziplinäre Herangehensweise bzw. ein Argumentieren auf der Grundlage verschiedener disziplinspezifischer Paradigmen angemessen für die Bearbeitung der genannten Fragestellungen. Die aus dieser Methodik eventuell resultierenden Brüche, Diskontinuitäten und Widersprüche werden nicht nur in Kauf genommen, sondern als adäquate Spiegelung der Charakteristiken des Themenfelds durch die Art und Weise seiner Bearbeitung verstanden. ← 19 | 20 →

Der methodische Ansatz der Arbeit ist wesentlich geprägt durch die Einnahme einer speziell theaterwissenschaftlichen Perspektive bei der Untersuchung des einzelnen kartographischen Werkes, seiner Inszenierungsstrategien und Darstellungsmechanismen, aber auch weiter greifender historischer und ästhetischer Zusammenhänge. Die Legitimation dieses Ansatzes liegt in der festen Überzeugung, dass Theaterwissenschaft als Fluchtpunkt einer wissenschaftshistorischen Untersuchung im dargelegten Problembereich des Theatri als offenem Raum einer epistemologischen Übergangszeit relevante Aspekte der Konstruktion und Inszenierung von Wissen der beginnenden Neuzeit aufdecken kann. Theaterwissenschaftliche Ansätze verdienen im aufgezeigten Problemfeld daher besondere Aufmerksamkeit, weil sie auf spezifische Weise geeignet sind, Auffassungen der Welt als Theatrum mundi mit dem Aufkommen neuer Raumvorstellungen und -erfahrungen kon­struktiv ineinander zu spiegeln. Eine gegenüber ihren Untersuchungsgegenständen offene Form der Theaterwissenschaft kann so als Methode aussagekräftige Resultate in Bereichen liefern, welche über einen eng gefassten Begriff von Theater und Aufführung hinaus gehen.12 Verschiedenen Arbeiten der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass insbesondere bei der Bearbeitung spezifischer Fragen der Gestaltung und Inszenierung von Wissen in der Frühen Neuzeit ein theaterwissenschaftlich geprägter Ansatz zielführend und erfolgreich ist.13

Die der theaterwissenschaftlichen Perspektive beigestellte kartographiehistorische Fokussierung der Studie folgt dem Ansatz John Brian Harleys14, der sich vor allem durch ein konsequentes Hinterfragen kartenimmanenter Mechanismen, welche zuvor als trivial oder augenscheinlich und daher nicht untersuchungswürdig galten, sowie die Hervorhebung der Zusammenhänge zwischen Karten und politischer Macht auszeichnet. Als einer der Vordenker der Critical Cartography sowie Mitbegründer des an der Universität Wisconsin-Madison angesiedelten History of Cartography Projects, welches als erstes interdisziplinäres Großprojekt seiner Art Historiker, Geographen, Künstler und Kulturwissenschaftler im weitesten Sinne zusammenbringt, um in einer mehrbändigen Publikationen eine umfassende Kartographiegeschichte auch unter Berücksichtigung bislang kaum in der kartographischen Forschung genutzter Ansätze und Aspekte zu erstellen15, kann Harleys Leistung ← 20 | 21 → für die Öffnung kartographiehistorischer Forschung kaum hoch genug bewertet werden. Die heute selbstverständliche Deutung und Kontextuierung landkartographischer Werke als Mittel politischer Machtausübung und Autorepräsentation16 begründet sich erst in den Publikationen von Vertretern der Critical Cartography, zu denen neben Harley auch Denis Cosgrove17, Denis Wood18, David Woodward19, John Krygier und Jeremy Crampton20 gehören. Sie alle verstehen Karten als Schauplätze von Macht und Wissen und setzen sich so über eine Deutung von Karten als passiv-rezeptive Medien, welche frei von eigenen Interessen und objektiv Raum darstellen würden, hinweg. Es ist dringendes Anliegen dieser Arbeit, die vorgestellten Karten im Sinne Harleys und seiner Nachfolger als inszenatorisches Produkt ernst zu nehmen und den Werken eine Bedeutung zuzuschreiben, welche deutlich über die Feststellung ästhetischer Anziehungskraft hinausgeht.

Die Studie leistet auch einen Beitrag zu Aspekten frühneuzeitlicher Wissenschaftsgeschichte und so finden auch wissenschaftshistorischer Methoden Einsatz, insbesondere bei der konkreten Analyse einzelner Kartenblätter. Die Orientierung erfolgt dabei insbesondere in Anlehnung an die bereits erwähnte Publikationen performativ orientierter Wissenschaftsgeschichte. An dieser Stelle erscheint es zudem wichtig, die Studie von jenen wissenschaftshistorischen Arbeitsfeldern abzugrenzen, zu denen sie keinen Beitrag leistet. Das Projekt möchte weder eine Geschichte der astronomischen Erkundung des Himmels erstellen, wie sie beispielsweise Michael Hoskin21 oder Peter Aughton22 vorgelegt haben, noch eine Erfolgsgeschichte zunehmender ← 21 | 22 → himmels­kartographischer Präzision im Zuge der Entwicklung kartographischer Projektionsverfahren, wie die herausragende Studie Mark Monmoniers23 zur Mercator-Projektion, verfassen. Vielmehr geht es um das Aufspüren einer in und durch die Karten nachvollziehbaren Haltung gegenüber ihrem Darstellungsgegenstand, ein Aspekt, der zweifelsfrei schwieriger zu beschreiben ist und zugleich umstrittener sein kann als empirische Geschichtsschreibung. Jede der in der Arbeit erwähnten Karten hätte eine mikrohistorische Analyse nach dem Vorbild von Carlo Ginzberg24 verdient, doch angesichts der notwendigen Beschränkungen von Zeit und Raum wurde die Entscheidung getroffen, eine solche Beschränkung des Materials zugunsten eines panoramatischen Entwurfs der Vielfalt der Ausdrucksformen zu verwerfen.

Schließlich sind Aspekte kulturwissenschaftlicher Ansätze ergänzend geeignet, die Breite des Untersuchungsfeldes und seine zunächst scheinbar disparate Zusammensetzung integrativ zu bewältigen. Besonders aus der Tradition der anglo­phonen Cultural Studies heraus haben Vertreter der Disziplin die Produktivität kulturwissenschaftlicher Herangehensweisen im Kontext interdisziplinärer Fragestellungen hervorgehoben25, gerade weil es nicht die eine kulturwissenschaftliche Lesart gibt und die Disziplin gleichermaßen disparat als auch holistisch erscheinen kann. Hauptkritikpunkte an vielen Formen kulturwissenschaftlicher Arbeit wie deren Ersetzung der empirischen Analyse zugunsten der Interpretation26 oder eine nur vorgetäuschte weltanschauliche Neutralität27 sind nicht unberechtigt. Diese Charakteristika erweisen sich jedoch als forschende Grundhaltung mitunter gerade von besonderem Wert. Speziell eine unbefangene Offenheit gegenüber dem Quellenmaterial über eine empirische Erfassung hinaus ist für das hier verhandelte Thema an der Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft wünschenswert. Die vorliegende Arbeit besitzt einen nicht-empirischen Charakter, es wird keine wissenschaftshistorische Aufbereitung und Auswertung des historischen Quellenmaterials im Sinne einer aufzählenden, Daten verzeichnenden Fortschrittsgeschichte geleistet. Doch eine interpretierende Analyse im Sinne einer von Vertretern der Kulturwissenschaften betonten Kontextualität des Handelns (De Certeau/ Fiske)28 entspricht in ihren Grundzügen Harleys Forderung nach einer neuen Art der kartographiehistorischen Arbeit, der Öffnung des Materials für mehr als eine faktisch-konstatierende Bestandsaufnahme. ← 22 | 23 →

Über die Festlegung der methodischen Ansätze hinaus ist die Arbeit in ihrem Untersuchungszeitraum sowie geographisch zu begrenzen. Untersucht wurden allein frühneuzeitliche Karten aus Europa, weclhe zwischen 1500 und 1800 erstmals publiziert wurden. Der historische Schwerpunkt der Analyse liegt dabei deutlich im 16. und 17. Jahrhundert. Die Erschließung relevanten Quellenmaterials bildete die Grundlage der Analyse. Das Material wurde bei der Sichtung als einem der ersten Arbeitsschritte vor allem nach folgenden Kriterien ausgewertet: Entstehungsgeschichte, Aufbau, Publikum, Wahl der Mess- und Darstellungsverfahren, ästhetische Strategien/ Inszenierungsstrategien, Auswahl und Art des vermittelten und dargestellten Wissens, Nutzbarkeit als orientierende Karte, Blickrichtungen und Beobachterstandpunkt. Aus Gründen des zeitgenössischen Einflusses, des ästhetischen Wertes oder der exemplarischen Stellvertreterposition in Bezug auf kartographische Besonderheiten der Zeit wurden folgende Hauptquellen identifiziert: Sfera del mondo e Delle stelle fisse (Alessandro Piccolomini, 1540), De revolutionibus orbium coelestium (Nikolaus Kopernikus, 1543), Cosmographia (Sebastian Münster, 1544), Theatrum mundi, et temporis (Giovanni Paolo Gallucci, 1588), Uranometria (Johann Bayer, 1603), Coelum Stellatum Christianum (Julius Schiller, 1627), Harmonia Macrocosmica (Andreas Cellarius, 1660/61), Theatrum Cometicum (Stanislaw Lubieniecki, 1666–68), Firmamentum Sobiescanum sive Uranographia (Johannes Hevelius, 1690), Epitome cosmografica (Vincenzo Maria Coronelli, 1693). Veröffentlichungen früherer oder späterer Jahrhunderte sowie weitere Quellen aus dem 16. und 17. Jahrhundert wurden ergänzend hinzugezogen. Die gesamte historische Quellenlage gestaltet sich wie im Literaturverzeichnis gesondert aufgeführt.

Bei der Betrachtung dieses kurzen Auszugs aus der Liste der verwendeten historischen Quellen wird deutlich, dass keine der genannten Publikationen jenen Begriff im Titel trägt, um den es hier gehen soll: Karte. Die in den folgenden Kapiteln untersuchten Werke wurden unter verschiedensten Titeln veröffentlicht, zudem sind viele der eigentlichen Kartenblätter nicht ihrer Form nach benannt, etwas als ‚charte‘ oder ‚mappa‘29, sondern nach dem Gegenstand, den sie abbilden. Diese Vielfalt ist typisch für kartographische Formate der Frühen Neuzeit. Christian Jacob konnte aufzeigen, dass bis ins 19. Jahrhundert keine ein-eindeutige etymologisch- ← 23 | 24 → lexikalische Zuschreibung zwischen Medium und Bezeichnung existierte.30 Die fehlende Benennung des verwendeten Formats sowie die Vielfalt der Quellenbegriffe macht es erforderlich, zu definieren, was im Folgenden unter dem Begriff der Karte zu verstehen sein soll. Was ist eine Karte? Und ist eine Himmelskarte überhaupt eine Karte?

In den letzten zwei Jahrzehnten haben Fragestellungen zur Verbindung von Raumproblematik und Wissensentwicklung einen immer höheren Stellenwert erlangt. Aus unterschiedlichsten Perspektiven wurden dabei begriffliche und methodische Vorschläge unterbreitet, die dazu führten, dass der Begriff der Kartographie zu einer Art Leitmetapher im interdisziplinären Diskurs werden konnte. In der Diskussion kartographischer Fragen der Schaffung und Repräsentation von Raum und Raumkonstitution, der Glaubwürdigkeit dargestellten Wissens und kultureller sowie machtpolitischer Selbstvergewisserung31, wurden je nach Disziplin unterschiedliche Beschreibungen desjenigen Mediums vorgenommen, welches landläufig als Karte bekannt ist. Die Vielfalt der Perspektiven auf den Begriff und das damit verbundene Medium spiegelt sich entsprechend in der Anzahl möglicher Definitionen wieder. Verschiedene strukturelle Modelle haben den kartographischen Prozess als Wissenschaft, akademische Disziplin, mediale Technologie oder grundlegenden menschlichen Impuls beschrieben. Auch das „map artefact“ selbst, ein Begriff der International Cartographic Association (ICA), unterliegt verschiedenen Bedeutungszuschreibungen und kann unter anderem als graphisches Modell, Repräsentationsmedium, Sprache, Kommunikationskanal, Dekoration oder Wissensarchiv verstanden werden.32 Eine aus dem Jahre 1973 stammende Definition der ICA beschreibt Karten als „A representation, normally to scale and on a flat medium, of a selection of material or abstract features on, or in relation to, the surface of the earth or of a celestial body.“33 Diese ältere Definition wird noch heute oft und unnötigerweise zitiert, obwohl sie innerhalb der Organisation längst nur noch als Arbeitsbegriff verwendet wird und sich auch die ICA darüber bewusst ist, dass die Ausweitung der Anwendungsbereiche der Begriffe von Karte’ und Kartographie in den vergangenen Jahrzehnten (ähnlich übrigens jener der Begriffe Theater und Theatralität) zu multiplen neuen Definitionen geführt hat. Die ICA gibt in ihrer aktuellen Forschungsagenda zehn Definitionen für in ihrer Gremienarbeit genutzte Begriffe, darunter „Geovisualization“ , „Map production“ , „Cartography Theory“ ← 24 | 25 → und „History of Cartography“34. ‚Map‘ gehört bezeichnenderweise nicht dazu. Eine allgemeingültige, umfassende Definition für alle denkbaren Kontexte lässt sich nicht mehr geben.

J. H. Andrews hat 1996 eine sinnvolle historische Kontextuierung dieser Problematik vorgenommen. Anstatt zu fragen, was eine Karte ist, hat er 321 Definitionen aus den Jahren 1694–1996 zusammengetragen, um der Frage nachzugehen, was eine Karte war.35 Er liefert mehr als 300 unterschiedliche Perspektiven auf das Problem, welches kaum zu lösen ist. Einzig verbindlicher Allgemeinplatz der meisten Definitionen ist, dass es sich bei Karten um Formen visueller Repräsentation handelt.36 Einer aufgrund dieser Schwierigkeiten getroffenen Aussage, dass sich der Begriff der Karte überhaupt nicht definieren lasse37, oder dass es solch einer Definition auch überhaupt nicht bedürfe38, schließe ich mich jedoch nicht an. Auch wenn eine allgemeingültige Definition angesichts der jüngsten Ausweitung der Disziplin und des Diskurses schwierig ist, so erfordert jeder Beitrag zur Debatte zumindest eine Arbeitsdefinition, um zum einen überhaupt einordnen zu können, worauf sich der jeweilige Autor bezieht. Zum anderen markieren Definitionen Disziplingrenzen und somit das, womit sich ein wissenschaftlicher Diskurs auseinandersetzt. In anderen Worten: Begriffsbestimmungen, -spezifizierungen und -eingrenzungen bestimmen zu einem Großteil mit, was forschungswürdig (und damit heutzutage auch förderungswürdig) ist. Für diese Arbeit wird daher mit der Definition Harleys und Woodwards gearbeitet, welche sich auf Karten als visuelle Repräsentationsmedien bezieht, dabei aber nicht-geologische kartographische Formen nicht ausschließt: „Maps are graphic representations that facilitate a spatial understanding of things, concepts, conditions, processes, or even events in the human world.“39

Für die vorliegende Arbeit ist es darüber hinaus nötig, den Begriff der Himmelskarte in seiner hier erfolgten Anwendung zu umreißen. In der kartographischen ← 25 | 26 → und kartographiehistorischen Forschung ist bis heute umstritten, ob und gegebenenfalls inwiefern Himmelskarten überhaupt Karten sind.40 Der grundsätzliche Einwand entstammt dabei dem Verständnis, dass Karten (geographisch ausgerichtete) Orientierungshilfen für durch den Menschen zugängliche Räume sind. Der Aspekt der Vermessung und der kartographischen Darstellungsentsprechungen in Form von Gradnetzen, Koordinatensystemen, Maßstabsangaben und einheitlicher Kartenausrichtung gelten zudem als Beginn echter kartographischer Arbeit, ein Argument, welches Denis Wood zu der pointiert zugespitzten Aussage „There were no maps before 1500“41 bringt. Dieser mathematische Aspekt ist vor allem in frühen himmelskartographischen Werken nicht zu finden. Erst seit Mitte des 16. Jahrhunderts, vor allem durch Alessandro Piccolominis De le Stelle Fisse (1540) und Giovanni Paolo Galluccis Theatrum Mundi, et Temporis (1588), werden die genannten Kriterien erfüllt. Auch die bis Ende des 18. Jahrhunderts übliche Kombination der Darstellung von Sternpositionen einerseits und der Abbildung figurativer Konstellationsfiguren andererseits schürt Zweifel, ob es sich bei manchen der Quellen nicht einfach ‚nur‘ um Bilder handele. In Anwendung der Definition von Harley/ Woodward sind jedoch selbst diese fraglichen Werke Karten, da sie räumliche Beziehungen darstellen, nämlich jene der Sterne im jeweiligen Sternbild. Vor diesem Hintergrund des hier ausschlaggebenden Arguments der graphischen Repräsentation räumlicher Beziehungen sind Himmelskarten Karten. In Anlehnung an Harley/ Woodward sowie Kanas wird der Begriff der Himmelskarte als Arbeitsbegriff für die vorliegende Arbeit wie folgt definiert:

Eine Himmelskarte ist eine graphische Repräsentation von Himmelskörpern (Sterne, Planeten, Kometen), welche deren Lage im Raum, deren räumliche Struktur oder die relative Lage mehrerer dieser Körper zueinander in jeweiliger historischer Ausprägung darstellt. Bezüglich des Darstellungsgegenstands lässt sich zudem unterscheiden nach Konstellationskarten (allegorische Darstellungen klassischer und später neuer Kon­stellationen), kosmologischen Überblickskarten (diagrammatische Darstellungen eines oder mehrerer Sonnensysteme), und spezifischen Ereigniskarten (Karten datierbarer, außergewöhnlicher extraterrestrischer Phänomene wie beispielsweise einer Kometensichtung oder einer Sonnenfinsternis). ← 26 | 27 →

Himmelskartographische Werke werden zudem immer als eine Darstellung der Vereinigung mindestens dreier Ausprägungen von Raum verstanden. Sie erfassen einen kartographierten Raum (den Himmelsraum), sind selbst in ihrer konkreten Medialität kartographierender Raum (das Kartenblatt), und sind zudem Bestandteil der Bildung von Wissensräumen. In der Frühen Neuzeit ist jeder der genannten drei Räume der Himmelskartographie grundlegenden Veränderungen unterworfen. Entsprechend lassen sich frühneuzeitliche Himmelskarten als eine spezifische Art des Umgangs mit diesen auf multiplen Ebenen amorphen und instabilen Formen von Raum lesen.

Doch in der Definition des Begriffs Karte liegt nicht die einzige begriffsrelevante Schwierigkeit des Themenfeldes. Im Problem der Zuschreibung einzelner Werke zu ihren Autoren liegt eine fachspezifische Herausforderung der sprachlichen Handhabung. Nachdem ein Arbeitsbegriff für ‚Karte‘ vorliegt, stellt sich die Frage nach dem ‚Kartographen‘. Wer ist der Kartograph? Eine Besonderheit des Forschungsgegenstands liegt in der Beteiligung mehrerer Personen an der Erstellung des kartographischen Produkts. Weder sind in der historischen Überlieferung der Quellen immer alle entsprechenden Namen bekannt, noch wurde ein einheitliches System der Urheber-Zuschreibung genutzt oder entwickelt. Dieses Problem wurde in der bisherigen Forschung noch nicht reflektiert, dabei zeigen bereits drei kurze Beispiele die Signifikanz und Relevanz dieser uneinheitlichen Benennungsstrategien auf: Die von Albrecht Dürer angefertigten Planisphären Imagines coeli Septentrionales und Imagines coeli Meridionales (1515) werden in der Forschung als Karten Dürers geführt, ebenso wie die Harmonia Macrocosmica (1660/61) als Werk Andreas Cellarius’ gilt und der 1729 veröffentlichte Atlas Coelestis üblicherweise als der Himmelsatlas von John Flamsteed beschrieben wird. Die vermeintliche Gleichheit in der Eindeutigkeit der Autorenschaft von ‚Dürers Karten‘, ‚Cellarius’ Karten‘ und ‚Flamsteeds Karten‘ ist irreführend. Die Karten Dürers beruhen auf fremden astronomischen Daten, welche Dürer kartographisch als Holzschnitt gestaltet hat. Er war, wenn man so will, der am Entstehungsprozess beteiligte Künstler. Flamsteed hingegen war Astronom, dessen Datenmaterial die Grundlage für den unter seinem Namen pu­blizierten Atlas bildete. Im Gegensatz zu Dürer überprüfte er die darin enthaltenen Kartenblätter zwar, war an der konkreten künstlerischen Gestaltung jedoch nicht beteiligt. Die Rolle Cellarius’ in der Entstehungsgeschichte der Harmonia Macrocosmica entsprach hingegen der eines heutigen Verlegers oder Produzenten. Weder lieferte er die astronomischen Daten, noch gestaltete er die Karten selbst. Seine Rolle war die des Auftraggebers und Initiators, welcher die entsprechenden Spezialisten in einem Team zusammenbrachte und alle Fäden in der Hand hielt. In allen drei Fällen wird von den Karten einer bestimmten Person gesprochen, doch wer von den dreien ist Kartograph? Der Künstler? Der Astronom? Der Verleger? Wessen Karten sind es? Die unzulängliche Vergleichbarkeit der Beiträge erlaubt keine Subsumierung unter dem amorphen und uneinheitlich genutzten Begriff des Kartographen. Gleichzeitig wird die individuelle Leistung anderer Beteiligter nicht ausreichend anerkannt, wenn das Gemeinschaftswerk Himmelskarte unter nur einem Namen, welcher dann nicht einheitlich einer bestimmten Rolle zugeordnet ist, überliefert ← 27 | 28 → und diskutiert wird. Die vorliegende Arbeit kann dieses Problem der fehlenden methodischen Reflexion in der kartographiehistorischen Forschung vorerst nicht lösen, wohl aber darauf verweisen. Aus vorläufigem Mangel an Alternativen folgt diese Arbeit der üblichen Zuordnung, jedoch nicht ohne entsprechende Verweise auf die Rolle der jeweiligen Person. Die Verwendung des Begriffs des Kartographen erfolgt unter entsprechendem Vorbehalt und wertfrei.

Forschungsstand

Die Schwierigkeiten der Begriffsfindung der unterschiedlichen Disziplinen sowie die methodische Vielfalt, welche dieser Arbeit zugrunde liegt, spiegeln sich wider in der inhaltlichen Breite relevanter Forschungsliteratur. Insbesondere zwei Bereiche sind von Bedeutung: Einerseits die in den vergangenen Jahren entstandenen Untersuchungen (mit oft theaterwissenschaftlichem Hintergrund) zum Problemfeld der Wissensperformanz in der Frühen Neuzeit, andererseits die vorliegenden Studien zum Thema frühneuzeitlicher Kartographie. Diesbezüglich muss im Augenblick zum großen Teil auf Studien zu landkartographischen Fragen zurückgegriffen werden. Gerade zum speziellen Zusammenspiel zwischen nunmehr verändertem Darstellungsgegenstand der Himmelskarten in der Frühen Neuzeit und der von der landkartographischen Forschung bereits ausführlich bearbeiteten Kartographischen Wende als Beginn des sogenannten Goldenen Zeitalters der Kartographie liegen noch keine Arbeiten vor. Dabei erfolgt im Zuge des Spatial Turn der Geschichtswissenschaften bzw. des Topographical Turn der Kulturwissenschaften seit einigen Jahren eine erneute Hinwendung zum Raum als grundlegend konstituierendes Element menschlicher Wissens- und Kulturpraxis42. Auch im Zuge dieser Entwicklung wurde zu Fragen der neuzeitlichen Kartographie in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend geforscht, wobei die Landkartographie im Mittelpunkt des Interesses stand (Barber/ Harwood/ Baynton-Williams/ Monmonier/ Schneider/ Black/ Brotton/ Edson/ Dipper)43. Auch die Auseinandersetzungen mit metaphori ← 28 | 29 → schen Karten in der Literatur (Stockhammer/ Conley/ Klein/ Peters/ Gillies)44, der Bildende Kunst (Alpers/ Hedinger/ Büttner/ Berg/ Bianchi)45 oder im Bereich von Bewegung und Tanz (Brandstetter/ Behnke)46 wurden im Hinblick auf Praktiken und Verfahren der Landkartographie erstellt. Dieter Blume47 und Sara Schechner48 wiederum verweisen auf den Einfluss astronomischer Darstellungen auf populärwissenschaftliche Denkmodelle im Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit, setzen sich aber nicht explizit mit Karten auseinander. Andere Untersuchungen haben ← 29 | 30 → Kartographie als Denkmodell benannt und die Bedeutung des kartographischen Blicks als ganz spezielle Perspektive auf die Welt herausarbeiten können (Buci-Glucksman/ Hieber)49, beziehen sich in ihren Argumentationen und Vergleichen jedoch allein auf die Landkartographie. Als Standardwerke der Neuausrichtung kartographiehistorischer Forschung, auch unter Einbeziehung der bisher gegenüber der Landkartographie vernachlässigten Teilbereiche historischer Kartenproduktion sind die Arbeiten John Brian Harleys und David Woodwards50 zu nennen. Das von den beiden initiierte, seit 1987 erscheinende, jedoch noch nicht abgeschlossene Großprojekt History of Cartography bringt erstmals kartographiehistorisch forschende Vertreter unterschiedlicher Disziplinen zusammen und ist dadurch im Begriff, Methodik und Gegenstand der Disziplin erweiternd und entscheidend zu verändern. Harleys grundlegend neue Deutung von Karten als soziale Konstrukte mit subversiven Mechanismen der politischen, militärischen, ökonomischen oder religiösen Machtausübung und -anwendung bildete darüber hinaus die Grundlage für viele Arbeiten der thematisch erweiterten Mapping-Forschung der vergangenen zwei Jahrzehnte.

Speziell himmelskartographische Forschungsfragen fanden jedoch auch im allgemeinen Interesse der Mapping-Thematik bislang weniger Resonanz und Interesse. Jahrzehntelang war das Werk Basil Browns51 maßgeblich für einen ersten Überblick zu frühneuzeitlicher Himmelskartographie, bis Deborah Warner52 schließlich einen in seinem Umfang bis jetzt konkurrenzlosen Band zur Erschließung des Felds frühneuzeitlicher Himmelskarten veröffentlichte. Während Warners Leistung in der Katalogisierung und detailreichen Erfassung relevanter Werke liegt, stellt Nick Kanas53 in seinem 2007 erschienenen Buch vor allem die historische Entwicklung kartographischer Werke des sogenannten Goldenen Zeitalters der Himmelskartographie sowie deren Position innerhalb der sich neu formierenden frühneuzeitlichen Astronomie dar. Die Publikationen Warners und Kanas’ sind als Standardwerke Ausgangspunkt der Material- bzw. Quellenerschließung. Als Übersichtswerke sammelnd-abbildender Art liegen ← 30 | 31 → außerdem die Arbeiten Snyders, Johnstons, Stotts und Ashworth’ vor.54 Die vorhandenen himmelskartographischen Studien wurden bislang entweder unter wissenschaftsgeschichtlich-astronomischen (Brown/ de Vorkin/ Kopal/ Snyder/ Warner/ Whitfield)55 oder kunsthistorisch-ästhetischen (Mendillo/ van Gent/ Friedmann)56 Aspekten erstellt. Insbesondere Fragen der Konstruktion und Performanz von Raum und Wissen wurden bisher von der Forschung nicht aufgegriffen; eine Betrachtung mit speziell theaterwissenschaftlichem Hintergrund liegt ebenfalls noch nicht vor. Gerade diese verspricht aber in den genannten Zusammenhängen zum Theatrum als speziellen Wissensraum einer Übergangszeit ganz neue Erkenntnisse. Zum diesbezüglich thematisch angrenzenden Themenbereich der Performanz von Wissen in der Frühen Neuzeit und speziell der Rolle des Theatrum-Begriffs in diesem Zusammenhang liegen umfangreiche Arbeiten aus den letzten Jahren vor. Insbesondere in Form von interdisziplinären Sammelbänden wurde auf das enge Zusammenspiel von Raumkonstitution und Wissensproduktion- bzw. -evidenz verwiesen (Reichert/ Rheinberger/ Maresch u. a.).57 Disziplinübergreifend konnte zudem belegt werden, dass eine Performanz von Wissen existiert und dementsprechend die Begriffe des Theaters und der Inszenierung als wesentliche Kategorien in entsprechenden Untersuchungen herangezogen werden müssen (Blair/ Rheinberger/ Schramm/ Quecke/ Matussek/ Baars/ Laurel).58 Thematisch eng verwandt sind jüngere Arbeiten zu ← 31 | 32 → frühneuzeitlichen Formen der Wissenskompilation und -ordnung und damit verbundenen Abbildungsverfahren, welche sich genau jenem Zusammenhang zwischen neuen Wissensdaten und deren Darstellungsformen widmen, den die vorliegende Arbeit in einem spezifischen Kontext ebenfalls in den Fokus nimmt (Bahlmann u. a./ Barasch/ Breidbach/ Brendecke/ Detel u. a./ Burke/ Büttner/ Stammen u. a./ Schierbaum/ Kamper/ Koch u. a./ Oy-Marra/ Raulff/ Röttger/ Siegert/ Zedelmaier).59 Spezifische Studien zu Begriff, Nutzung und Funktion ← 32 | 33 → des Theatrums haben dessen signifikante Bedeutung während epistemologischer Übergangszeiten im Zuge der Formierung neuzeitlicher Wissenschaften aufzeigen können (u. a. Friedrich/ Laube/ Weber/ Schock/ West/ Blair).60 Durch die Verankerung der in diesen Studien aufgeworfenen Fragestellungen und Thesen zur Performanz frühneuzeitlicher Disziplinen am konkreten Wissensfeld Himmelskartographie leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Verknüpfung bereits erfolgter Forschungsleistungen innerhalb der hier aufgezeigten Themengebiete. Der Untersuchungsverlauf spiegelt dabei die Vielfalt der methodischen Angriffspunkte und die Breite der Literatur, durch welche sich das Thema von verschiedenen Seiten eingrenzen lässt, wider.

Die vorliegende Arbeit gliedert sich grundsätzlich in zwei größere Abschnitte, welche zum einen historische Entstehungsbedingungen und zum anderen spezifischen Ausdrucksformen frühneuzeitlicher Himmelskarten in einem theatralen ← 33 | 34 → Kontext untersuchen. Das auf diese einleitenden Bemerkungen folgende Kapitel 2 widmet sich der wissenschaftshistorischen Kontextuierung des Quellenmaterials durch Erläuterung der Veränderungen des astronomischen Himmels und deren Bedeutung für dessen Wahrnehmung und kartographische Darstellbarkeit. Zweifel an Wahrheitsgehalt und wissenschaftlicher Nutzbarkeit von Praktiken menschlicher Wahrnehmung, hervorgerufen durch die Etablierung optischer Instrumente nicht nur in der wissenschaftlichen Beobachtung, sondern auch als gesellschaftlicher Diskussionsgegenstand, führen darüber hinaus zu einer grundsätzlich fragenden, zweifelnden Haltung gegenüber dem als neu wahrgenommenen Himmelsraum. Der sich auch aus dieser Situation kristallisierende, wahrgenommene Widerspruch zwischen Beobachtungsraum und Berechnungsraum, zwischen Himmel in seiner Erscheinung und Himmel in seinen mathematischen Charakteristika markiert eine grundlegende Wende in der Kartographiegeschichte. Die rasante Zunahme an Wissensbeständen, die explosionsartige, raumgreifende Erweiterung des Himmels wird als Krisenerfahrung wahrgenommen. Der Himmelsraum wird zunehmend kartographisch undarstellbar und es kommt zum Auseinanderfallen von Himmelskartographie und ihrem Darstellungsgegenstand. Zu diesem Zeitpunkt der Kartographiegeschichte tritt das Paradox auf, dass die größere Genauig­keit astronomischer Daten und Berechnungen sowie das gestiegene Wissen über Form und Struktur des Universums die kartographische Erfassung dieses Raums erschweren, anstatt diese zu erleichtern. Wissenszuwachs geht einher mit verminderter Darstellbarkeit.

In Kapitel 3 wird frühneuzeitliche Himmelskartographie als Inszenierungspraxis in einer mit theatralen Momenten und Mechanismen durchdrungenen Gesellschaft von kulturwissenschaftlich-performativer Seite aus kontextualisiert. Zum einen wird exemplarischen Praktiken des Handelns, Betrachtens und Darstellens in der Inszenierung der himmelskartographischen Publikationen selbst nachgespürt. Dies stellt die entsprechenden Karten in einen theatralen Kontext. Zum anderen wird die Beziehung zwischen dem frühneuzeitlichen metaphorisch genutzten Begriff und Ordnungsmodell des Theatrums und frühneuzeitlichen Himmelskarten untersucht. Diese stehen nicht nur historisch bedingt grundsätzlich im Zusammenhang mit der Theatrum-Kultur der Frühen Neuzeit, sondern können in der Art und Weise, wie sie in der historisch genrespezifischen Krisensituation Himmelswissen darstellen, generieren und verwalten, als ideale mediale Verkörperungen der Theatri-Idee verstanden werden. Unter dem Begriff des Theatrums lassen sich in einem Verhandlungsraum theatraler Freiheiten astronomischer Himmelsraum und kartographischer Darstellungsraum für einen begrenzten historischen Rahmen noch zusammenführen. Himmelskartographische Publikationen werden zur theatral geprägten Vermittlungsebene für sich zunächst scheinbar ausschließende epistemologische und kulturelle Strömungen. Kartographisches Himmelswissen wird so zum Darstellungswissen und Himmelskarten sind als Theatri systematisierender Ordnungsraum und flexibler Darstellungsraum zugleich. ← 34 | 35 →

Details

Seiten
410
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (PDF)
9783653058468
ISBN (MOBI)
9783653968934
ISBN (ePUB)
9783653968941
ISBN (Hardcover)
9783631661956
DOI
10.3726/978-3-653-05846-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Kartographie Kartographiegeschichte Himmelskarten Theatrum Wissenschaftsgeschichte Astronomie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 410 S., 4 farb. Abb., 18 s/w Abb.

Biographische Angaben

Juliane Howitz (Autor:in)

Juliane Howitz absolvierte ein Studium der Theaterwissenschaft und Literaturwissenschaften an der Freien Universität Berlin und der University of Toronto, welches sie mit der Promotion abschloss. Sie veröffentlicht zu Themen der Kartographiegeschichte, interdisziplinären Theaterwissenschaft sowie frühneuzeitlicher Theatrum-Kultur.

Zurück

Titel: HimmelsKartenWissen