Wissen und Normen – Facetten professioneller Kompetenz von Deutschlehrkräften
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Wissen und Normen – Facetten professioneller Kompetenz von Deutschlehrkräften. Einleitung zum Tagungsband
- Lese- und Sprachförderung
- Was Lesedidaktiker sich wünschen (und was Lehrer tun): Lesedidaktische Vorstellungen professionellen Lehrerhandelns
- Zwischen Heraus- und Überforderung. Lehrpersonen implementieren und adaptieren Lesefördermaßnahmen
- Mit der diagnostischen Brille sehen! Ausgewählte empirische Befunde zu Lehrendenperspektiven auf die Diagnose von Lesekompetenz
- Grundschullehrkräfte in der vorschulischen Sprachförderung
- Interkulturelle Zugänge zu Homo faber? Thematisierung von Wertewelten und Alltagsnormen im Literaturunterricht: Ein Studienangebot
- Schreiben
- LehrerInnen lernen schreiben. Ergebnisse des Weiterbildungsprogramms „Literarisches Schreiben im Deutschunterricht“
- Normanforderungen und Normvorstellungen bei der Beurteilung von Schülertexten
- „Schreibunterricht aus meiner Sicht“ – Eine empirische Analyse zu Lehren und Lernen an der Sekundarstufe II in Österreich
- Richtig Schreiben
- Konzeptneutral und unterrichtsnah. Ein Instrument zur Erfassung des Professionswissens zu Orthographie und Orthographieerwerb
- „Hör mal genau hin <Tru – He>.“ – Wie verstehen und erklären angehende Lehrer/innen das silbeninitiale <h>?
- Ausblick
- Auf dem Weg zur Professionalisierung: Drei Stimmen im Kopf
- Autorinnen und Autoren
- Reihenübersicht
Die (empirische) Lehrerforschung hat in den vergangenen Jahren in der Deutschdidaktik ein deutlich gewachsenes Interesse erfahren. Konnte man um die Jahrtausendwende nur wenige fachdidaktische Arbeiten ausmachen, die sich dem Thema widmeten, so zeigt sich heute eine durchaus rege Auseinandersetzung mit Fragen der Professionalität von Deutschlehrkräften. Dies belegt neben einer wachsenden Zahl an Publikationen1 auch das große Interesse an den entsprechenden Sektionen der Symposien Deutschdidaktik in Bremen (2010), Augsburg (2012) und zuletzt in Basel (2014).
Der vorliegende Band vereinigt nun im Wesentlichen die Sektionsvorträge2 des Basler Symposions. Er hat einerseits das Ziel, einen Einblick in die jüngsten Entwicklungen der deutschdidaktischen LehrerInnenforschung zu geben und somit einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen der Professionalität von Deutschlehrkräften zu leisten. Wohl wissend, dass „sowohl in der Deutschdidaktik als auch in der (allgemeinpädagogischen) Lehrerforschung derzeit über die Ausrichtung der Forschungsansätze gestritten wird“3 und dass eine Auseinandersetzung mit eben diesen methodischen Grundsatzfragen weiterhin ein wichtiger Gegenstand deutschdidaktischer LehrerInnenforschung sein muss, verfolgt der Band jedoch noch ein weiteres Ziel: Er möchte den Blickwinkel auf einen in den Augen der Herausgeber bisher noch wenig beachteten Teilaspekt der Modellierung von LehrerInnenprofessionalität richten, der Frage nach der Entstehung, Beschreibung und der Reflexion von fachspezifischen Normen im und für den Deutschunterricht.
Es ist offensichtlich, dass DeutschlehrerInnen einer Fülle an teils sehr unterschiedlichen Normvorstellungen ausgesetzt sind, die von den verschiedenen Akteuren im Bildungssystem an sie herangetragen werden. So fordern beispielsweise Politiker oder (oftmals selbst ernannte) Elternvertreter die Vermittlung und ← 7 | 8 → Einhaltung „korrekter“ standardsprachlicher Normen, was sich sowohl in manch publikumswirksamer Äußerung in den Medien wie auch in der Gestaltung von Bildungsstandards und Lehrplänen niederschlägt. Nicht selten geraten dabei die Interessen von Politik, Eltern, (Erziehungs-) Wissenschaftlern und in der Praxis stehenden Lehrkräften in Konflikt. Schließlich müssen letztere, indem sie das Fach Deutsch unterrichten, sprachliche, literarische und kommunikative Normen vermitteln und deren Einhaltung – häufig in Form einer schlichten Ziffernnote – beurteilen. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Normen zählt folglich zu den Grundlagen des Lehrerhandelns. Es lohnt sich daher, den Fokus darauf zu richten, wie eigene oder externe Normvorstellungen das Wissen, die Überzeugungen und / oder das Handeln von DeutschlehrerInnen beeinflussen. Im Einzelnen stellen sich dabei u. a. folgende Fragen:
– Welche impliziten und expliziten Normen sind für professionelles Handeln von DeutschlehrerInnen handlungsleitend und wie werden sie vermittelt?
– Wo zeigen sich Spannungen zwischen verschiedenen Normansprüchen, z. B. zwischen Fachdiskussion, Öffentlichkeit und Praxis?
– Wie kann die Aus- und Weiterbildung Lehrpersonen darin unterstützen, normative Ansprüche zu reflektieren und eine professionelle Haltung dazu zu entwickeln?
– Welchen Normen unterliegt derzeit die LehrerInnenforschung in der Deutschdidaktik?
Die Fokussierung auf Normfragen kann dazu dienen, den Diskurs über professionelle Kompetenz von DeutschlehrerInnen fortzusetzen, um deren fachspezifische Ausprägungen noch schärfer zu modellieren. Da es sich um sehr grundsätzliche Fragen handelt, konnten im Rahmen der Basler Sektionsarbeit selbstverständlich keine endgültigen Antworten gefunden werden. Der Diskussionskontext hat sich aber als tragfähig und fruchtbar erwiesen, und mit der Publikation der Beiträge möchten wir einen Rahmen bieten, die Verständigung über Grundsatzfragen der deutschdidaktischen LehrerInnenforschung zu vertiefen. Um den Brückenschlag zwischen beiden Bereichen zu verdeutlichen, sollen im Folgenden einige Felder umrissen werden, denen sich Normfragen, wie sie auch in den einzelnen Beiträgen thematisiert werden, zuordnen lassen.
1 Die Modellierung „professionellen Wissens“
Die Frage, welche Normen für DeutschlehrerInnen handlungsleitend seien (s. o.), kann anhand eines Modells für die Struktur von Lehrerkompetenz ausdifferenziert werden, wobei wir uns auf grundsätzliche Überlegungen zur Professionalität ← 8 | 9 → von Lehrpersonen beziehen. Verbreitet ist das Modell nach Jürgen Baumert und Mareike Kunter, in welchem, um professionelle Handlungskompetenz genauer zu fassen, verschiedene domänenspezifische deklarative und prozedurale Wissensbereiche unterschieden werden und kognitive Aspekte ergänzt sind um Überzeugungen und Werthaltungen, motivationale Orientierung und selbstregulative Fähigkeiten (vgl. Baumert / Kunter 2011).4
Abbildung 1: Modifiziertes Modell professionellen Wissens auf der Basis von Baumert / Kunter 2011
Die in Abbildung 1 skizzierten Anteile von professioneller Kompetenz sind besonders relevant, wenn wir die Frage nach handlungsbestimmenden Normen und evtl. Normenkonflikten stellen, wohl wissend, dass sich das Modell in einigen Punkten hinterfragen lässt. So besteht das Problem, dass die Unterscheidung ← 9 | 10 → verschiedener Wissensbereiche die Vorstellung suggeriert, Lehrpersonen würden anhand ihres professionellen Wissens Situationen immer wieder neu analysieren, aus der Analyse Handlungsoptionen ableiten und diese wiederum prüfen, bevor sie sich entscheiden, im Unterricht einzelne Schritte umzusetzen. Im komplexen Alltag sind wir jedoch – nicht nur in der Schule, aber auch dort – unter Handlungsdruck, wir greifen auf eigene oder fremde Erfahrungen oder Ratschläge zurück. Professionelles Wissen wird auch Elemente aufweisen, die normativen Charakter haben im Sinn von allgemeinen Anweisungen („je mehr offener Unterricht, desto besser“) oder spezifischen „Wenn-dann-Hilfestellungen“. Dass das so ist, mag man bedauern. Wer sich seriös mit dem Professionswissen befasst, kommt aber nicht umhin, solche normativen Elemente als das zu nehmen, was sie sind, und sie nicht zu verdecken, sondern im Gegenteil zu differenzieren und explizit zu machen.
Außerdem können sich zwischen verschiedenen Komponenten im Modell Widersprüche ergeben, die sich beim Handeln als Normkonflikte äußern. Ausgeprägt dürften solche Konflikte sein zwischen (vortheoretischen und / oder tradierten) Überzeugungen und empirischen Befunden etwa über die Wirksamkeit bestimmter Fördermaßnahmen. Insbesondere die Ermittlung fachspezifischer Einstellungen zählt zu den derzeit am intensivsten bearbeiteten Feldern deutschdidaktischer LehrerInnenforschung, wobei Rückschlüsse auf das praktische Handeln schwierig zu ziehen sind. Dies wird in vielen Beiträgen des vorliegenden Bandes deutlich.
2 „Norm“ als Thema von Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik
Interessant ist es, nach der Rolle zu fragen, die das Thema „Norm“ im fachwissenschaftlichen und im fachdidaktischen Wissen spielt resp. welches Wissen über den Umgang mit dem Normen Lehrpersonen im Studium aufbauen – oder wie dieses Wissen für vielseitigen, aktuellen Sprachunterricht beschaffen sein müsste, denn mindestens die Linguistik mit ihrem stark deskriptiven Selbstverständnis verhält sich Normfragen gegenüber defensiv und grenzt sich klar ab von der (konservativen) Sprachkritik5.
Entsprechend selten wird dieser Aspekt der Sprachdidaktik explizit thematisiert. Eine Ausnahme ist die „Einführung in die Sprachdidaktik“ von Neuland / Peschel (2013), wo im Kapitel „ausgewählte Schwerpunkte“ das Thema ← 10 | 11 → „Norm und Wandel – ein Grundproblem der Sprachdidaktik“ behandelt wird. Als wünschbar wird Unterricht dargestellt, der Normen und Normierungen „reflektiert und kritisiert“, z. B. anhand von Gegenstandsfeldern wie orthographische Norm, Wandel der Anredeformen, Sprachpurismus oder political correctness.6 Ob für eine angemessene Behandlung dieser Themen in der Schule linguistische Erkenntnisse, wie sie im Studium vermittelt werden, eine ausreichende Basis bilden, ist zu hinterfragen – gerade eine Linguistik, die sich als deskriptive Wissenschaft versteht und Diskrepanzen zum vortheoretischen Normverständnis nicht anspricht, rüstet die angehenden Lehrpersonen schlecht aus für den Umgang mit Sprachnormen im Unterricht, sei es als Unterrichtsthema, wie von Neuland / Peschel (2013) postuliert, sei es beim Reagieren auf mündliche und schriftliche Texte von SchülerInnen.
Hilfreicher als ein „rein“ beschreibend linguistischer Zugang ist die explizite Unterscheidung zwischen deskriptiver und präskriptiver Sprachbetrachtung. Bredel (2007) diskutiert angelehnt an Coseriu den Unterschied zwischen System (was in einer Sprache möglich ist) und Norm (was in einer Sprache üblich ist)7 und betont, dass es wichtig sei, zwischen deskriptiver und präskriptiver Sprachbetrachtung zu unterscheiden.8 Mit dieser Unterscheidung wird transparent gemacht, dass Sprachbetrachtung auch in der Schule unterschiedliche Ziele verfolgen kann. Gerade gegenüber Lernenden, die erst dabei sind, sich die verschiedenen Normen von Sprache, Textsorten und Sprachgebrauch anzueignen, ist es zentral, dass präskriptive Elemente nicht ausgeblendet werden – aber es muss einer Lehrperson bewusst sein, dass umfassend verstandene Sprachbetrachtung beide Zugangsweisen umfasst. Laut Bredel ist dies häufig nicht der Fall, und Normen werden aufgrund subjektiver Theorien oft zu rigide vermittelt, was dann zu Unsicherheit oder problematischen Regelungen im „schulischen Brauchtum“ führen kann, z. B. wenn Lehrpersonen das Sprechen in „ganzen Sätzen“ einfordern.
Dabei betont Bredel, dass die praktischen Anforderungen des (schulischen) Sprachhandelns einen gewissen Handlungsdruck bedeuten, so dass die Norm gegenüber dem System großes Gewicht hat. Dies lässt sich u. a. illustrieren mit ← 11 | 12 → Orthographie, die (traditionell) weniger als schlüssiges System denn als gegenüber der „eigentlichen“ Sprache sekundäres Normsystem vermittelt wird, oder mit Normen der Schriftlichkeit, die zwar funktional sind für Distanzkommunikation, jedoch oft falsch verallgemeinert werden.9 Dass Handlungsdruck eher zu Normensetzung als zu Systemreflexion führt, spiegelt sich auch darin, dass die Aufmerksamkeit beim sprachlichen Handeln erst dann auf die Sprache gelenkt wird, wenn Probleme oder Unsicherheiten auftreten. Solche „handlungspraktische“ Sprachreflexion (Paul 1999) unterscheidet sich grundsätzlich von der handlungsentlasteten Sprachreflexion, wie sie für die Sprachwissenschaft typisch ist.10
Folgt man den Befunden von Paul (1999), sind die Ziele des Sprachunterrichts, der Aufbau der Schriftkompetenz einerseits und er Aufbau der Kompetenz zum „reflexiven Sprachgebrauch“ andererseits, nur durch die Aktivierung beider Formen der Sprachbetrachtungsformen (sic!), der handlungspraktischen und der handlungsentlasteten zu erreichen, die sich jeweils in ihren Terminologien und in ihren Verfahrensweisen unterschieden.11
Zu untersuchen wäre nun, wie weit sich Lehrpersonen solcher Unterscheidungen bewusst sind und wie klar sie Konflikte zwischen vortheoretischen Annahmen über Sprache resp. sprachliches Handeln und professionellem Wissen reflektieren – und natürlich auch, wo in der Ausbildung oder in der Weiterbildung solche Reflexionsprozesse unterstützt werden. Anlässe bieten sich durchaus, insbesondere da ein Lehramtsstudium nicht denkbar ist ohne differenzierte Formen normgeprägten sprachlichen Handelns, z. B. beim wissenschaftlichen Schreiben, Präsentieren, Verfassen von Unterrichtsplanungen und Reflexionsberichten oder beim (Peer)Feedback zum Auftreten und zum unterrichtlichen Handeln etc. Es ist aber in den Curricula genauer zu verorten, wo solche berufsspezifische Normenreflexion stattfinden kann und wer dafür die Verantwortung übernimmt, da entsprechende Fragestellungen oft gerade an Schnittstellen zwischen verschiedenen Ausbildungsgefäßen entstehen, so z. B. zwischen einem linguistischen Angebot zum Sprachwandel und Rückmeldungen zum eigenen Sprachgebrauch in der Unterrichtspraxis, zwischen der fachdidaktischen Auseinandersetzung zum Begleiten von Schreibprozessen bei SchülerInnen und dem eigenen Ringen um eine Seminararbeit, zwischen traditionellen „Aufsatzkorrekturen“ für die Praxisklasse und der fachlichen Information über Lernersprachen etc. etc.12 ← 12 | 13 →
3 Umgang mit Normen empirischer Forschung
In den Beiträgen des Bandes, die auf empirischen Arbeiten aus den Bereichen der Lese-, Sprach- und Literaturdidaktik basieren, stehen jeweils verschiedene Facetten des professionellen Wissens im Fokus, so z. B. Diagnosefähigkeit im Bereich des Lesens, Normvorstellungen über das Schreiben von SchülerInnen oder Fachwissen im Bereich der Orthographie. Solche Fragestellungen sind aus (mindestens) zwei Gründen interessant: einerseits wird der Blick nicht nur auf SchülerInnen und ihre Leistungen, sondern vermehrt auf Lehrerprofessionalität, speziell das Wissen und Bewusstsein von Lehrpersonen für verschiedene Normbereiche, gerichtet. Andererseits können auch explizit deskriptiv angelegte Studien Ausgangspunkt für die kritische Reflexion von impliziten Normen im Umfeld von Forschung, Lehrerbildung und Deutschdidaktik sein. Dazu äußert sich differenziert der Erziehungswissenschafter Oser (2015), der als Co-Autor einige Resultate der Schweizer TEDS-M-Länderstudie13 kommentiert, um „die von den Autorinnen und Autoren in den Beiträgen offengelegten bzw. in den empirischen Analysen vorkommenden Normativitäten zu akzentuieren und ihre Notwendigkeit zu begründen“14:
Lehrpersonenbildungsinstitutionen und -programme arbeiten mit Erwartungen, die oft nicht explizit werden. Es sind z. B. unausgesprochene Anforderungen bezüglich des Engagements, die die Lehrerinnen- und Lehrerbildung an ihre Studierenden stellt und die gegenüber diesen Studierenden transparent gemacht werden sollten. Auch sind etwa unter dem Aspekt der Handlungsorientierung konstruktivistische Einstellungen ubiquitär. Aber dies dispensiert nicht von einer deutlich ausgesprochenen und begründeten Erwünschtheit bzw. Wünschbarkeit. Die verborgene Präskriptivität muss offengelegt werden. Weiter wird z. B. erwartet, dass auch Lehramtsstudierende ein Basiswissen in den Fachwissenschaften erwerben; auch dieser ‚Wunsch‘ muss transparent gemacht werden. Denn Erwartungen fließen in die empirischen Analysen (…) ein. Unser Anspruch ist nicht, sie zum Verschwinden zu bringen, sondern sie sichtbar zu machen und sie in den Hypothesen der Forschungsarbeiten offenkundig werden zu lassen.15 ← 13 | 14 →
Dies soll hier an einem Beispiel verdeutlicht werden, welches auch für die Ausbildung von DeutschlehrerInnen relevant ist. Die Ergebnisse einer Teilstudie zur Studien- und Berufswahlmotivation von Lehramtsstudierenden im Fach Mathematik (Affolter / Hollenstein / Brühwiler 2015) lassen sich so zusammenfassen, dass drei Profile16 sichtbar werden. Oser zeigt nun, dass jedes Profil an einem Ideal gemessen wird:
Die Autorinnen und der Autor dieses Beitrags machen darauf aufmerksam, dass alles an einem Ideal, das diese drei Profile transzendiert, gemessen werden müsse. Dieses Ideal bestehe aus einer Kombination von intrinsisch-pädagogischer, praxisorientierter, wissens- (oder gar wissenschafts)orientierter und vermittlungsengagierter Motivation. Und da die Erziehungswissenschaft, auch die empirische, mit der intentionalen Veränderung des Menschen zu tun hat, müssen solche normativen Setzungen, wenn sie begründet werden, je neu transparent gemacht werden. Wertende Aussagen stehen immer in Relation zu gesellschaftlichen oder pädagogischen oder human-moralischen Desideraten. Das Vertreten ihrer Wichtigkeit im Zusammenhang mit Evidenz ist keine Schande.17
Und weiter, sehr grundsätzlich:
Der Prozess des Umgangs mit Daten setzt ein Verstehen des gewollten und gesollten Ausbildungszustandes voraus. Dieser ist trotz der situativen und persönlichkeitsspezifischen Einflüsse mindestens als zu erreichendes Zwischenziel zu formulieren und zu begründen. Wer sagt, was besser ist, hat ein Begründungsproblem und vor allem auch ‚schmutzige‘ Hände. (…). Wer im Bereich der Bildungsforschung die Dinge beschreibt, wie sie sind, muss zumindest darlegen, warum diese Fragestellung interessiert. Wer sich an einem Large-Scale-Assessement beteiligt, will wissen, wo er im Vergleich zu anderen steht. Dabei ist der Wunsch, weit oben zu rangieren, die unmittelbarste aller pädagogischen Normen. Sie zu verheimlichen wäre eine empirische ‚Todsünde‘. Man kann es auch so formulieren: Empirische Neutralität gibt es nur während der Verarbeitung und der Darstellung der Daten. Resultate hingegen sind immer in Beziehung zu einer Verbesserung von Zuständen zu setzen. Man muss sie interpretieren.18
Solche Überlegungen muss sich auch eine Deutschdidaktik zu Herzen nehmen, die ihre Aussagen je länger je mehr empirisch abstützt. Eine geeignete Form sind selbstreflexive Kommentare, wie oben am Bsp. von Oser (2015) oder wie jeweils ← 14 | 15 → am Ende ganzer Kapitel mit mehreren Beiträgen im „Handbuch der Lehrerforschung“ (Terhart et al. 2011). Wohl nicht zufällig sind diese Kommentare im Hinblick auf die Diskussion von Normproblemen ergiebiger als die jeweiligen Beiträge des Handbuchs.19
Dass für Fragen der Ausbildung und des Handelns von Lehrpersonen verbreitet auf das bereits erwähnte Modell von Professionalität im Experten-Paradigma zurückgegriffen wird, ist nicht unbestritten. Alternativ dazu steht ein strukturtheoretisches Modell, das stärker die Persönlichkeit der Lehrperson akzentuiert. Der Streit (Baumert / Kunter 2006, Helsper 2007, genauer dargestellt in Tillmann 2011)20 betrifft die „Richtigkeit der grundlegenden theoretischen Prämissen“21. Wenn sich die Deutschdidaktik (mit guten Gründen) auf bestimmte erziehungswissenschaftliche Modelle abstützt, sollte sie dies im Wissen um entsprechende Diskussionen tun. Hierzu gehört auch, dass die Unterscheidung verschiedener Wissenstypen (auf der Basis von Shulman) analytisch hilfreich, empirisch jedoch nicht geklärt ist.22 Dies zeigen u. a. auch die Resultate der TEDS-LT-Studie, z. B. zum fachlichen und fachdidaktischen Wissen von Deutsch-Lehramtsstudierenden (Bremerich-Vos et al. 2011) und zum pädagogischen Wissen in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch, wo konzeptionelle Überschneidungen zwischen fachdidaktischem und pädagogischem Wissen manifest werden.23 Auch die in diesem Kontext verbreiteten Verhältnisbestimmungen zur Trennung oder Verbindungen von „Wissen“ und „Können“ haben ihre Tücken: Neuweg bezeichnet sie als „präskriptiv-deskriptiv doppeldeutig. Sie beinhalten nicht nur psychologisch-theoretische Annahmen über die Beziehung zwischen Denken und Handeln, Wissen und Können, sondern setzen diese Konstrukte auch in ideale, durch Aus- und Fortbildung teils erst herzustellende Beziehungen“.24 ← 15 | 16 →
4 Bezugsnormen – Überlegungen zur disziplinären Verortung der Deutschdidaktik
Normativen Charakter hat auch die Frage, an welchen Disziplinen sich die Deutschdidaktik orientiert. War lange Zeit die Germanistik die wichtigste Bezugswissenschaft, öffnet sich heute ein viel breiteres Spektrum. Die Reflexion darüber und entsprechend transparente Zuordnungen sind nicht immer einfach, was sich auch in den Beiträgen unseres Bandes spiegelt. In ihrer Gesamtheit vertiefen sie jedoch die Auseinandersetzung mit fachlich geprägter professioneller Kompetenz und damit auch mit dem disziplinären Verständnis von forschungsgestützter Fachdidaktik als „eingreifende Kulturwissenschaft“.
Details
- Seiten
- 267
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783653060096
- ISBN (MOBI)
- 9783653957198
- ISBN (ePUB)
- 9783653957204
- ISBN (Hardcover)
- 9783631668269
- DOI
- 10.3726/978-3-653-06009-6
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (Mai)
- Schlagworte
- Lehrerprofessionalität Deutschdidaktik Normen Deutschunterricht
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 267 S., 10 Tab., 22 Graf.