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Literarisches Verstehen

Grundlagen und didaktische Perspektiven

von Johannes Odendahl (Autor:in)
Monographie 202 Seiten

Zusammenfassung

Was ist Verstehen? Wodurch ist speziell literarisches Lesen gekennzeichnet? Gibt es eine literarische Rezeptionskompetenz, die gezielt im Unterricht vermittelt und auch gemessen werden kann?
Mit Rückgriff auf neueste Positionen einer Embodied Cognition sowie auf Jakobsons literarische Semiotik wird in diesem Buch eine Modellskizze des (poetischen) Verstehens entworfen, die Momente des Affekts, der Körperlichkeit, des sprachlichen Zugriffs und einer ästhetischen Sicht auf die Welt integriert. Literarisches Verstehen kann demgemäß nicht geplant, standardisiert und evaluiert werden. Es ist, wie alles Verstehen, an Emotionen und individuelle Erfahrungen gebunden, eröffnet zudem aber Räume des Spiels, der entlastenden Ironie und der Freiheit, auf die schulische Bildung nie verzichten darf.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Verstehenskonzepte im aktuellen literaturdidaktischen Diskurs
  • 2.1 Zwischen Kompetenz und Kontakt: Blick in zwei Schulbücher
  • 2.2 Semiotische Ansätze
  • 2.2.1 Kognitionspsychologisch ausgerichtete Modelle
  • 2.2.2 Strukturalistisch ausgerichtete Modelle
  • 2.3 Pragmatistische Ansätze
  • 2.4 Nachtrag und Zwischenfazit
  • 3 Grundlegende Verstehenskonzeptionen I: Semiotische und repräsentationalistische Ansätze
  • 3.1 Einleitende Gedanken
  • 3.2 Verstehenskonzepte der klassischen Kognitionspsychologie
  • 3.2.1 Leseverstehensmodell nach Christmann und Richter
  • 3.2.2 Walter Kintsch: Verstehen als Rekonstruktion und Integration von Propositionen
  • 3.2.3 Johnson-Laird: Verstehen und Wahrnehmen als Modellkonstruktion
  • 3.3 Semiotische Zirkelstrukturen in Hermeneutik, Rezeptionsästhetik, (Post-)Strukturalismus und Systemtheorie
  • 3.3.1 Hermeneutik in der Tradition Schleiermachers
  • 3.3.2 Zur Rezeptionsästhetik: Isers Wirkungstheorie des Lesens
  • 3.3.3 Strukturalismus und Poststrukturalismus
  • 3.3.4 Konstruktivismus: Zur Systemtheorie
  • 3.4 Resümee und Überleitung: Wege aus einem repräsentationalistischen Verstehenskonzept
  • 4 Grundlegende Verstehenskonzeptionen II: Nicht-repräsentationalistische und pragmatistische Ansätze
  • 4.1 Platon: Verstehen als Wiedererinnerung und Wesensschau
  • 4.2 Schopenhauer: Begriffsverstehen auf der Basis anschaulicher Erkenntnis
  • 4.3 Pragmatismus: Handlungen und Wirkungen als Bedeutungsfundamente
  • 4.4 Pragmatik (Sprechakttheorie): Verstehen als Handlungsverstehen
  • 4.5 Phänomenologisches: Verstehen als Auffassung ganzheitlicher Strukturen
  • 4.6 Neuere Strömungen in Kognitionspsychologie, Neurowissenschaften und Psycholinguistik: Embodied/embedded/extended Cognition, Enaktivismus
  • 5 Zur Rolle von Affekt und Emotion für die Bedeutungsgenerierung
  • 5.1 Nach der Sichtung vorliegender Verstehenskonzeptionen: Bestandsaufnahme und Richtungsbestimmung
  • 5.2 Erfahrung ohne Subjekt? Fragen an Mark Johnsons Ansatz der ‚verkörperten‘ Bedeutung
  • 5.3 Ausweitung: Affekt und Emotion als Quellen der Bedeutungsbildung
  • 5.4 Neurophysiologische Evidenzen
  • 5.4.1 Ereigniskorrelierte Potenziale als Antworten auf ‚bedeutungsvolle‘ Reize
  • 5.4.2 Ereigniskorrelierte Potenziale beim Sprachverstehen
  • 5.4.3 Resümee und weiterführende Überlegungen
  • 6 Skizze eines Modells des (poetischen) Verstehens
  • 6.1 Von Johnson zu Jakobson
  • 6.2 Kurze Rekapitulation des Modells sprachgebundener Kompetenzen am Leitfaden von Jakobsons Semiotik
  • 6.3 Überlegungen zur Modifikation des Modells
  • 6.3.1 Grundlegendes
  • 6.3.2 Bestimmung des Verhältnisses der einzelnen Verstehensdomänen zueinander
  • 6.3.3 Pragmatischer und pragmatistischer Handlungsbegriff: Versuch einer Zusammenführung
  • 6.3.4 Hinzufügung einer affektiven Verstehensdisposition
  • 6.4 Modellskizze mit Erläuterungen, speziell zum poetischen Verstehen
  • 6.5 Knappe Nachbemerkungen zu Charakteristika literarischer Texte und literarischen Lesens
  • 7 Didaktische Implikationen
  • 7.1 Rekurs auf die Klieme-Expertise und auf Weinerts Kompetenzbegriff
  • 7.2 Bausteine des Verstehens? Zur Interdependenz von Affekt, Körperlichkeit und sprachlich-literarischem Lernen
  • 7.2.1 Handeln und Verstehen: Zum Verhältnis von pragmatischer und referentieller Verstehensdisposition
  • 7.2.2 Fühlen, Wollen und Verstehen: Für eine nötige Neubestimmung des Verhältnisses von Affekt und Kognition
  • 7.2.3 Literaturunterricht im Zeichen der Spaltung von Affekt und Sollerfüllung
  • 7.3 Literarische Verstehensfähigkeiten zwischen Verfügbarkeit und Erlernbarkeit
  • 7.3.1 Vorüberlegungen: Dispositionen, Kompetenzen, Wissensformen
  • 7.3.2 Verstehensdispositionen – Verstehenskompetenzen
  • 7.3.3 Literarische Rezeptionskompetenz: eine systematische Leerstelle
  • 7.3.4 Didaktische Folgerungen
  • 7.4 Literarisches Verstehen versus Probleme lösen
  • 8 Schluss und Ausblick: Plädoyer für eine Pädagogik des Kleinlauten
  • Literatur
  • Reihenübersicht

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1 Einleitung

Es muss zu den produktiven Folgen des sogenannten PISA-Schocks gerechnet werden, dass er die Frage nach dem literarischen Verstehen in den Mittelpunkt der literaturdidaktischen Theoriebildung gerückt hat. Waren es in den 80er- und 90er-Jahren noch vor allem methodische Neuansätze gewesen, die den fachlichen Diskurs geprägt hatten, verlagerte sich zu Beginn des neuen Jahrtausends der Fokus schlagartig von den Lernwegen auf die Lernergebnisse. Während der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht sich bevorzugt auf relativistische Verstehenskonzepte wie Rezeptionsästhetik, Poststrukturalismus oder auch Konstruktivismus berufen und die bunte Individualität der Rezeptionszugänge und -ergebnisse hervorgehoben hatte, wurde mit einem Mal ein Set distinkter und operationalisierbarer Fertigkeiten des literarischen Verstehens gesucht. Vor dem Hintergrund ernüchternder Ergebnisse im Bereich einer informatorischen Lesekompetenz galt es nun nicht allein, den bisher unhinterfragt hohen Stellenwert literarischen Lernens im Deutschunterricht weiterhin zu legitimieren, sondern auch, literarische Rezeptionskompetenzen selbst präziser auszuweisen.

Wenn die Kompetenzorientierung so die Frage nach dem literarischen Verstehen auf die Tagesordnung gesetzt hat, heißt das freilich nicht, dass sie auch zu einem geistigen Klima beigetragen hätte, welches der vorbehaltlosen Beschäftigung mit dieser Frage sonderlich günstig wäre. Im Gegenteil: Von der Literaturdidaktik wurde die zügige Antwort in einer bereits vorgegebenen Richtung erwartet. Sie sollte, so die bildungsadministrative Anforderung, auf theoretischer wie empirischer Grundlage präzise angeben, welche einzelnen literaturbezogenen Verstehensfähigkeiten in welchen Alters- und Lerngruppen über welche Zeiträume hinweg auf welche Weise zu vermitteln und überprüfen sind. Dass literarisches Verstehen überhaupt ein Phänomen sei, das in Teilkompetenzen parzelliert, planmäßig vermittelt, kumulativ aufgebaut und objektiv evaluiert werden kann, wurde dabei gleich schon vorausgesetzt, und zwar aus fachfremder Perspektive. Explizit formuliert findet sich diese von außen an die Disziplin herangetragene Anforderung in der Klieme-Expertise Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards in Deutschland:

Bildungsstandards […] legen fest, welche Kompetenzen die Kinder oder Jugendlichen bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe mindestens erworben haben sollen. Die Kompetenzen werden so konkret beschrieben, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und prinzipiell mit Hilfe von Testverfahren erfasst werden können. Der Darstellung von ← 9 | 10 → Kompetenzen, die innerhalb eines Lernbereiches oder Faches aufgebaut werden, ihrer Teildimensionen und Niveaustufen, kommt in diesem Konzept ein entscheidender Platz zu. (Klieme et al. 2003, 9; Hervorh. i. O.)

Neben entschiedener Kritik an einem solchen Vorhaben, schulisches Lernen maßgeblich – und sogar im Bereich ästhetischer Erfahrung – an einem standardisierten, messbaren Output zu orientieren (vgl. Spinner 2005 oder Wintersteiner 2011), wurde vonseiten der Literaturdidaktik schon bald die Sorge artikuliert, dass das literarische Lernen in einer kompetenzorientierten Schule ihren hergebrachten Stellenwert einbüßen könnte (vgl. etwa Kammler 2006, Spinner 2008a), und dass es daher dringend geraten sei, auch im schwierigen Bereich der literarischen Rezeption Kompetenzmodelle im geforderten Sinne vorzulegen. Entsprechend äußerte sich etwa Volker Frederking:

Ohne der knappen Zusammenschau didaktischer Entwürfe von literarischen Verstehenskompetenzen seit der ersten PISA-Studie vorgreifen zu wollen, die im folgenden Kapitel unternommen werden soll, lässt sich doch sagen, dass Frederkings Postulat bis heute nicht entsprochen werden konnte. Es existiert kein konsensfähiges, in der Forschungsgemeinschaft allgemein anerkanntes Modell „zum Aufbau bzw. zur Vertiefung literarischer Rezeptionskompetenzen“, und wenn mittlerweile dennoch „Standards für die spezifisch literarischen Bereiche“ (a.a.O.) benannt wurden, so passten sich diese eher in bildungspolitische Anforderungen ein als in einen breit akzeptierten Theorierahmen.

Dass auch fünfzehn Jahre nach der Klieme-Expertise kein umfassendes Modell literarischen Verstehens vorliegt, hängt wohl nicht nur mit der tendenziös gefassten Aufgabenstellung, sondern vor allem mit der erheblichen Schwierigkeit des Vorhabens selbst zusammen. Verglichen mit der individuellen Rezeption literarischer Texte scheint das informatorische Leseverstehen ein vergleichsweise leicht zu modellierender und zu überprüfender kognitiver Vorgang zu sein. Ob jemand einen pragmatischen Text verstanden hat, zeigt sich in der Regel daran, dass der pragmatische Zweck des Texts im besonderen Fall erreicht wurde; dass ← 10 | 11 → also ein Leser1 sich über einen Sachverhalt in der Weise informieren konnte, dass er seine neuen Kenntnisse wiedergeben und anwenden kann, oder dass eine Leserin sich in die Lage versetzt sieht, eine im Text erläuterte Handlung erfolgreich ausführen zu können.

Worin liegt aber der pragmatische Zweck eines Texts wie dieses weitbekannten Vierzeilers Joseph von Eichendorffs mit dem Titel Wünschelrute (Eichendorff, Werke, 103)? ← 11 | 12 →

Will dieser Text informieren? Etwas erklären? Zu einer Handlung anleiten? Etwas zeigen? Am ehesten vielleicht Letzteres; aber was ist es, worauf der Text verweist? Sicher ließe sich dazu einiges sagen, und zwar nun allerdings wiederum so viel, dass es als Maßstab eines angemessenen Verständnisses nicht mehr zu handhaben wäre. Die Frage nach dem pragmatischen Zweck des Gedichts bleibt also auf kennzeichnende Weise offen und unerschöpflich. Und nicht weniger ungeklärt ist die Frage, wie der Text bei verschiedenen Rezipienten ankommt, was er mit diesen macht und was diese mit ihm machen. Das betrifft nicht nur verschiedene Wege und Ergebnisse der kognitiven Verarbeitung, sondern auch unterschiedliche Resonanzen affektiver Art von Gefallen und Sich-angesprochen-Fühlen bis zu Gleichgültigkeit, Unverständnis und Ablehnung. Und wer könnte sagen, welche affektive Reaktion auf den Text nun die erwartbare und plausible sei? Wenn aber schon angesichts eines knappen Vierzeilers die Frage nach einem angemessenen Verstehen schlichtweg nicht zu beantworten ist: Woher sollen dann erst Maßstäbe für eine literarische Rezeptionskompetenz schlechthin mit ihren Teildomänen und Niveaustufen kommen, die sich anhand geeigneter Aufgaben objektiv und reliabel überprüfen lässt?

Das Beispiel zeigt nicht allein, wie anspruchsvoll die durch die Kompetenz- und Outputorientierung wieder angestoßene Frage nach dem literarischen Verstehen erscheint; sondern auch, wie ungemein reizvoll und produktiv sie ist. Denn es ist ja nicht so, dass die hier knapp angerissenen Aspekte des Verstehens wie Mehrdeutigkeit, vielschichtige Intentionalität der Aussage und affektive Grundierung der Auffassung nur der literarischen Kommunikation vorbehalten wären. All dies kennzeichnet zwischenmenschliche Interaktion insgesamt und ist zu berücksichtigen, wenn über die Rezeption von Aussagen und (Sprech-)Handlungen nachgedacht werden soll. So führt die Beschäftigung mit dem literarischen Verstehen zur weitergehenden Frage nach dem Verstehen sprachlicher Äußerungen überhaupt; ja, zur Frage nach dem Verstehen als einer anthropogenen Grunddisposition schlechthin.

Um Erkenntnisse über die Eigenart eines literarischen Rezeptionsmodus gewinnen zu können, muss also die hermeneutische Frage nach dem Verstehen in aller Grundsätzlichkeit gestellt werden. Nur wenn darüber etwas mehr Klarheit herrscht, kann ein möglicher Sonderbereich literarischer Kommunikation in den Blick genommen werden. Völlig offen muss dabei zunächst bleiben, ob ← 12 | 13 → der Forderung aus der Klieme-Expertise schließlich wird entsprochen werden können; ob es also tatsächlich möglich ist, ein Kompetenzmodell literaturbezogener Verstehensfähigkeiten vorzulegen, welches in Teildomänen zergliedert, in Niveaustufen hierarchisiert und durch geeignete Aufgaben operationalisiert werden kann. Schon der kurze Blick auf das Eichendorff-Gedicht legt die Vermutung nahe, dass das Ergebnis negativ ausfallen dürfte. Eine grundlegende Untersuchung der Frage nach dem Verstehen und, auf dieser Basis, nach dem literarischen Verstehen ist aber dennoch keineswegs ein müßiges Unterfangen. Sie kann vielmehr helfen, überzogene und sachfremde Ansprüche an das literarische Lernen begründet abzuweisen und zugleich dessen Besonderheit und einzigartiges Potenzial für Schule und Erziehung herauszustellen. Einem solchen Versuch widmet sich die vorliegende Arbeit.2

Details

Seiten
202
ISBN (PDF)
9783631759912
ISBN (ePUB)
9783631759929
ISBN (MOBI)
9783631759936
ISBN (Hardcover)
9783631756300
DOI
10.3726/b14297
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Literarische Kompetenz Ästhetisches Verstehen Ästhetische Bildung Literarisches Lernen Hermeneutik Literaturdidaktik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 201 S., 7 s/w Abb.
Produktsicherheit
Peter Lang Group AG

Biographische Angaben

Johannes Odendahl (Autor:in)

Johannes Odendahl ist Universitätsprofessor für Didaktik des Unterrichtsfachs Deutsch an der Universität Innsbruck. Sein besonderes Forschungsinteresse gilt dem ästhetischen Verstehen, speziell auch bei der intermedialen Begegnung von Musik und Literatur.

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