Gottschee revisited
Geschichtsnarrative und Identitätsmanagement im Cyberspace
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Gottschee revisited. Rückkehr in die Arena der Erinnerung.
- 1 Einleitung
- 1.1 Ausgangspunkte, Zugänge und Forschungsinteresse
- 1.2 Gottschee
- 1.2.1 Ein namenloses Urwaldlehen
- 1.2.2 Nach Amerika! Emigration und Radikalisierung
- 1.2.3 Verlassenes Land
- 1.2.3.1 Vom „Staatsvolk“ zur ethnischen Minderheit
- 1.2.3.2 Entspannung in der Königsdiktatur
- 1.2.3.3 Die Umsiedlung
- 1.2.3.4 Flucht und Vertreibung
- 1.2.4 Diaspora und die Konstruktion des Mythos’
- 1.3 Theoretische und methodische Grundlagen
- 1.3.1 „Wer braucht Identität?“
- 1.3.2 Representations
- 1.3.3 Gedächtnis
- 1.3.4 Performativität
- 1.3.5 Diskursanalyse als Methode zu Analyse kollektiver Identitäten
- 1.4 Das Internet als neue Rahmenbedingung für das Management kollektiver Identitäten
- 1.4.1 Kurze Geschichte des Internets
- 1.4.2 Das Supermedium. Medientheoretische Annäherungen an das Internet
- 1.4.2.1 Eine labyrinthisch verzweigte Literatur
- 1.4.2.2 Potenziale. Das Internet im Vergleich mit anderen Medien
- 1.4.3 Kollektive Gedächtnisbildungen und Identitätskonstruktionen im weltweiten Netz
- 2 Gottschee im weltweiten Netz
- 2.1 Zur Auswahl des Untersuchungskorpus
- 2.2 Gottscheer Websites
- 2.2.1 www.gottschee.at
- 2.2.2 www.gottscheerland.at
- 2.2.3 www.gottscheenewyork.org
- 2.2.4 www.gottschee.org
- 2.2.5 www.gottschee.com
- 2.2.6 www.eouv.com
- 2.2.7 www.alpineclub.ca
- 2.2.8 http://hwk.best.vwh.net/ – Kump/Staudacher Gottscheer Site
- 2.2.9 www.gottschee.de
- 2.2.10 www.gottscheer.net
- 2.2.11 Zusammenfassung: Die Funktionen der Websites
- 2.3 Texte als Repräsentationen der Gottscheer Identitäten im weltweiten Netz
- 2.3.1 Überblick über das vorhandene Material
- 2.3.2 Darstellungen der Gottscheer Geschichte
- 2.3.2.1 Der amerikanische Zugang I – nachträglich gerechtfertigte Emigration?
- 2.3.2.2 Der amerikanische Zugang II – Selbsterzählung als Klubgeschichte
- 2.3.2.3 Kurzeinführung: „Gottschee – Unvergessene Heimat“
- 2.3.2.4 Die Darstellung des Altsiedlervereins
- 2.3.3 Die Websites als „virtuelle Bibliotheken“
- 2.3.3.1 Digitalisierte Bücher
- 2.3.3.2 Quellentexte
- 2.3.3.3 Zeitungen. Alt und neu
- 2.3.4 Zusammenfassung
- 2.4 Von Trachten, Dörfern und Festen. Bilder einer Idylle?
- 2.4.1 Überblick über das vorhandene Material
- 2.4.2 Bilder auf den amerikanischen Websites. Oder: Vorgestern auf dem Gottscheer Volksfest
- 2.4.3 Bilder aus Gottschee: Repräsentationen des „Mythos Dorf“
- 2.4.4 Tabubruch online: Hakenkreuze in Gottschee
- 2.4.5 Bewegte Bilder
- 2.4.6 Zusammenfassung
- 2.5 Vuatar inshar. Die Sprachen der Websites
- 2.5.1 Sprachenverwendung auf den Websites
- 2.5.2 Erscheinungsformen des Gottscheerischen im weltweiten Netz
- 2.5.2.1 A distinct German dialect: „go-TSHEAH-bah-rish“ erinnern.
- 2.5.2.2 Auditives Erinnern auf www.gottschee.com
- 2.5.3 Alte Reden in neuem Format: Audiofiles auf den Websites
- 2.5.4 Zusammenfassung
- 2.6 Plurale Identität. Diskussionen in den Gästebüchern.
- 2.6.1 Überblick über das vorhandene Material
- 2.6.2 Plauderzimmer online: Die Kump/Staudacher Gottscheer Site
- 2.6.3 Ein „sauberes“ Gästebuch
- 2.6.4 „Arena der Erinnerung“: Kommunikation auf www.gottschee.de
- 2.6.4.1 Feedback im Gästebuch
- 2.6.4.2 „Sie sollten sich schämen…“ – Diskussionen im Forum
- 2.6.4.3 Destabilisierung des offiziellen Narrativs
- 2.6.4.4 Von einem „Halbgottscheer“ und seinen „lügnerischen Behauptungen“
- 2.6.5 Zusammenfassung
- 2.7 Umkämpfte Erinnerung – auf http://www.wikipedia.org
- 2.7.1 Exkurs Wikipedia: Geschichtsnarrative im Web 2.0
- 2.7.2 „Gottschee“ und die „Gottscheer“ in der deutschsprachigen Wikipedia
- 2.7.2.1 Auseinandersetzungen um den Eintrag „Gottschee“
- 2.7.2.2 „Kočevje“ fünf Jahre nach seinem Onlinegehen
- 2.7.2.3 Der Eintrag „Gottscheer“ als Versuch einer Korrektur
- 2.7.3 Das Thema „Gottschee“ in der slowenischen, englischen und deutschsprachigen Wikipedia: Eine synchrone Annäherung
- 2.7.3.1 „Gottschee“ in der englischsprachigen Wikipedia
- 2.7.3.2 Der Eintrag in der slowenischsprachigen Wikipedia
- 2.7.4 Zusammenfassung. Die Wikipedia-Einträge im Vergleich
- 3 Conclusio
- 3.1 Die Ergebnisse im Überblick
- 3.2 Gottscheer Identitätskonstruktionen im Spiegel der Websites
- 3.3 Resümee
- 4 Literatur
- Anhang
Gottschee revisited. Rückkehr in die Arena der Erinnerung.
„Herr über Erinnern und Vergessen zu werden, ist eine der großen Bestrebungen von Klassen, Gruppen und Individuen, die historische Gesellschaften beherrschten oder beherrschen.“1 Eben diesen, von Jacques LeGoff so treffend beschriebenen Bestrebungen und Praktiken auf den Grund zu gehen, war von Beginn der Recherchen an die Leitlinie der Forschungsarbeit, die den Inhalt des vorliegenden Bandes bestimmte. Den eigentlichen Anstoß dafür gab eine zeitgeschichtliche Lehrveranstaltung im Sommersemester 2004 an der Karl-Franzens-Universität Graz. Die mit dieser Lehrveranstaltung verbundene Exkursion in die Gottschee/Kocevska, die dort durchgeführten Feldforschungen sowie die dadurch motivierte Diplomarbeit2 drehten sich immer wieder um die Fragen, die LeGoff so präzise in der zitierten Passage festgehalten hat: Was liegt hinter dieser glatten, ebenso schlüssigen wie traurigen Vertreibungsgeschichte, die einem sofort entgegentritt, wenn man sich mit der Geschichte der Gottscheer Deutschen befasst? Warum wird seit 1945 von den offiziellen Vertretungen der Gottscheer so großer Wert darauf gelegt, sich selbst als „Opfer der großen Weltpolitik“ darzustellen? Weshalb werden von diesem Master-Narrativ abweichende Erzählungen so vehement unterbunden und ihre Erzähler angegriffen, beleidigt und diffamiert? Zuletzt, und wieder mit LeGoff: Warum war es für die Gottscheer Vertretungen so wichtig, Herr über diese Erzählung zu sein und dieses Monopol nicht aus der Hand zu geben? Aus diesen Fragen heraus entstand der vorliegende Text, der in der Hoffnung verfasst wurde, zumindest einige Antwort auf diese Fragen zu finden.
Als die Thesen und Inhalte des vorliegenden Bandes3 im November 2009 im Rahmen des „Kärntner Volksgruppenkongresses“4 erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt wurden, ließ sich interessanterweise beobachten, wie ←9 | 10→in der darauffolgenden Diskussion ebenjene Thesen und Inhalte verifiziert wurden. Unmittelbar nach Ende des Vortrags erhob sich ein rüstiger, älterer Herr und lieferte ein mehrminütiges Co-Referat ab, indem er diejenigen Passagen des eben vorgetragenen Textes als Unwahrheiten oder bestenfalls Interpretationen geißelte und – wie er meinte – in ein rechtes Licht rückte. Ebenjene Mythen, die Minuten zuvor als kunstvolle Geschichtskonstruktionen präsentiert und dekonstruiert worden waren, wurden stante pede neuerlich erzählt. Gewissermaßen als möglichst rasche Überlagerung des eben Gehörten wurde das dominante Gottscheer-Narrativ, in dem die deutschsprachige Bevölkerung als passives Opfer der „großen Weltpolitik“ dargestellt wird, wieder ausgebreitet.5
Nach diesem, vom Publikum etwas irritiert aufgenommenen Statement, gab es weitere Wortmeldungen. Ein weiterer Herr älteren Semesters meldete sich zu Wort und bedankte sich explizit dafür, dass nun endlich Teile der Geschichte erzählt werden würden, die so lange nicht erzählt werden konnten. Konkret sprach er die Geschichte jener deutschsprachigen Gottscheer an, die 1941 nicht umgesiedelt waren und sich nach der Gründung der Republik Slowenien offen mit Vergangenheit und Brauchtum ihrer Volksgruppe im Rahmen des „Gottscheer Altsiedlervereins“ beschäftigten. Es folgten weitere Wortmeldungen, die ähnlichen Charakter hatten, die sich für die vertiefte, wissenschaftliche Bearbeitung der Thematik interessierten und ebenfalls unterstrichen, wie wichtig es sei, auch jene Perspektiven auf die Gottscheer Geschichte zu eröffnen, die in den „offiziellen Texten“ keinen Platz hatten, weil sie diesen eben einigen, entscheidenden Facetten widersprachen.
Die beschriebene Situation faszinierte: Der Kampf um die Erinnerung, die Debatte um die „richtige Version“ der Gottscheer Geschichte, die jahrzehntelang gar nicht oder nur unter der Oberfläche geführt werden konnte, sich in den frühen 2000er-Jahren ins Internet verlagert und dort einen „Ort“ gefunden hatte, an dem konkurrierende und ambivalente Erzählung nebeneinander stehen konnten und verhandelt werden konnten, manifestierte sich „plötzlich“ physisch im Konzerthaus in Klagenfurt und wurde auch nach dem Ende des Vortragsblocks weitergeführt. Dass derartige Fragen nur schwer allgemein- oder letztgültig beantwortet und im Grunde nur immer wieder neu verhandelt werden können, war auch in den auf die Klagenfurter Begebenheit folgenden Vorträgen und Diskussionen spürbar. Die Geschichten werden weiter diskutiert, immer wieder ←10 | 11→werden Fragen nach der Verantwortung für das Geschehene gestellt, aber auch Fragen nach der eigenen Herkunft, nach der Familiengeschichte und den Wurzeln familiärer Tradition bleiben virulent.
Fast zehn Jahre nach dem Klagenfurter Volksgruppenkongress 2009 hat die Debatte ein neues Forum gefunden. Die Facebookgruppe „Gottschee“ hat im Januar 2019 über 2000 Mitglieder, eine zweite Gruppe mit dem Titel „Gottschee Genealogy“ weist knapp die Hälfte an Mitglieder auf. Hier werden heute Themenlagen verhandelt, die von Kochrezepten über Familienstammbäume bis hin zu ebenjenen Debatten über die Gottscheer Geschichte reichen, die in der vorliegenden Studie vor mehr als einem Jahrzehnt untersucht wurden. Der Kern dieser Debatten ist auch heute noch derselbe. Noch immer geht es im Kern um die Frage, ob die Umsiedlung eine erzwungene war, oder sich doch innerhalb eines gewissen Handlungsspielraumes der einzelnen Akteurinnen und Akteure abspielte. Ebenso werden auch heute noch Fragen zur Kollaboration mit den Nationalsozialisten verhandelt und auch heute wird dort die Frage gestellt, ob es „eine, zutreffende, gültige“ Gottscheer Geschichte überhaupt geben kann. Diese beiden, überaus aktiven Facebookgruppen sind keine Seltenheit, unter den Suchbegriffen „Sudetendeutsche“ oder „Siebenbürger Sachsen“ lassen sich beispielsweise ganz ähnliche Gruppen finden, in denen Ähnliches diskutiert wird. In den Sozialen Medien finden sich unzählige dieser „Arenen der Erinnerung“, wo kollektive Identitäten verhandelt und erzeugt werden. Sie umfassen Diskussionsforen („Walls“), beeindruckend umfangreiche Bildarchive und werden von „Admins“ geleitet, die neue Mitglieder aufnehmen können und auch die Inhalte der Seite beeinflussen können.6
Diskussionsplattformen wie die beschriebenen Gruppen in Facebook, die weltweite Teilnehmerinnen und Teilnehmer verbinden – im Fall der Gottscheer sind sie neben die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Websites getreten, und haben sie in einigen Fällen auch ersetzt. Drei7 der damals untersuchten Websites sind heute nicht mehr online verfügbar, eine weitere hat einen umfassenden Relaunch erfahren. Damit ist eine Thematik erreicht, die bereits in der ←11 | 12→Abfassung der Dissertation diskutiert wurde.8 Die Fluidität des untersuchten Mediums bringt es unweigerlich mit sich, dass seine Inhalte instabil sind. Was 2009 analysiert werden konnte, ist 2019 online teilweise nicht mehr sichtbar. Die kulturellen Artefakte der Identitätskonstruktion, als welche die Gottscheer Website in der vorliegenden Arbeit behandelt werden, sind heute aus dem weltweiten Netz „verschwunden“, ihre Spuren9 sind nur mehr in gedruckter Form, in der hier vorliegenden Druckfassung zu finden. Dies ist ein Grund, warum die der Forschungsarbeit nun nach so langer Zeit auch in Buchform veröffentlicht wird. Während es bisher als sinnvoll erschien, eine Arbeit über Identitätskonstruktion im virtuellen Raum auch in ebendiesem zu belassen, mag das „Verschwinden“ der Websites als Fingerzeig gelten, das Forschungswerk nun auch analog, in Papierform vorzulegen.
Ein weiterer Grund für die nun erfolgende Publikation hängt ebenfalls mit der fortschreitenden Zeit zusammen. Oft wurde das seit den 1980er-Jahren ansteigende und nicht abreißende Interesse am Nationalsozialismus und der Erinnerung daran mit dem „Verschwinden“ der Erlebnisgeneration verbunden. Die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses werden sukzessive ins kulturelle Gedächtnis überführt, wie es Jan und Aleida Assmann beschreiben würden. Für die Gottscheer gilt dasselbe. Die in der Gottschee/Kocevska geborenen Deutschsprachigen werden immer weniger – diejenigen, welche die Gottscheer Vergangenheit „nur“ als ins Familiengedächtnis inkorporierte Erzählungen kennengelernt haben, werden immer älter und geben diese Erzählung aus ihrer Perspektive und im Kontext ihrer Erinnerungen wiederum weiter. Diesem permanenten Vermittlungsprozess eine zusätzliche Grundlage zu verleihen und ihm somit eine weitere, wissenschaftlich erarbeitete Perspektive hinzufügen, war eine weitere Triebfeder der nun erfolgten Publikation der Studie.
Weiters ist es auch das nicht abebbende Interesse an der Geschichte der Gottschee/Kocevska und seiner ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner, das die vorliegende Veröffentlichung motiviert. 2011 publizierten Joachim Hösler und Mitja Ferenc gemeinsam den Band „Spurensuche in der Gottschee. Deutschsprachige Siedler in Slowenien“10. 2013 entstand am Institut für Geschichte der Universität Graz mit dem Titel „Die kleine Region der Gottschee von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre. Eine Darstellung mit ←12 | 13→Berücksichtigung lebensgeschichtlicher Interviews“11 von Miha Praznik eine weitere Diplomarbeit zum Thema Gottschee/Kocevska unter der Betreuung von Ass.-Prof. Dr. Eduard Staudinger. Weitere zwei Jahre später gab Jakob Grollitsch im Rahmen der Reihe „Europa erlesen“ den Band „Gottschee“12 heraus. Im Jahr 2016 verfasste eine Grazer Schülerin ihre Vorwissenschaftliche Arbeit mit dem Titel „Gottschee ade! Die Umsiedlung der Gottscheer ab 1941.“13 Zudem gibt es die Gottschee/Kocevska betreffend immer wieder Anfragen am Institut für Geschichte der Universität Graz. Das Thema ist also nach wie vor in Verhandlung, was einen zusätzlichen Grund darstellt, den vorliegenden Band nun zu publizieren.
Außerdem hat sich auch das Netz weiterentwickelt, wie weiter oben in Bezug auf die Facebookgruppe „Gottschee“ angesprochen wurde. Das Web 2.0, das 2009 noch in den Kinderschuhen steckte, ist heute zu einer mächtigen Herausforderung für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse avanciert. Wurde 2009 noch bewundernd analysiert, wie Barack Obama sich die Sozialen Netzwerke im Zuge seiner Kampagne zunutze gemacht hatte, um ins Weiße Haus einzuziehen, zählen ebendiese Netzwerke zehn Jahre später zum „Hauptschlachtfeld“ diverser Wahlkämpfe, das nicht selten auch im Zentrum gezielter antidemokratischer Hackerattacken steht. Stand Facebook 2009 noch als einigermaßen singuläres Phänomen zur Debatte, sind heute unzählige weitere Netzwerke an seine Seite getreten, die das Netz einerseits persönlicher, diskursiver und dynamischer machten, es aber andererseits auch noch stärker in Richtung der radikalen Kommerzialisierung lenkten. Aber nicht nur Geld, sondern auch Politik und – wie oben bereits beschrieben – auch Geschichte wird mit und in den Sozialen Netzwerken gemacht. Diese spannenden, virtuellen Formen von Geschichtskonstruktion zu untersuchen, war 2009 ein methodisches Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit, die auch ein Beispiel dafür abgeben kann, wie die Diskursanalyse als Methode im virtuellen Raum eingesetzt werden kann. Auch das mag als weitere Motivation für die nun erfolgende Publikation dienen.
Zuletzt sei nochmals die Fluidität des untersuchten Mediums als sein Hauptmerkmal angesprochen. Täglich entstehen neue Websites, das Netz wächst ebenso stetig wie auch der damit verbundene Datenberg. Gleichzeitig werden ←13 | 14→permanent Postings gelöscht, Onlineinhalte verändert oder eben, wie oben beschrieben, vom Netz genommen. Der so oft gepriesene, einfache und schnelle Zugriff auf online gespeicherte Inhalte ist auch mit der ständig präsenten Gefahr der Datenunsicherheit verbunden, die auch aus so banalen Gründen wie technischen Fehlern resultieren kann. Was für die Sicherung von Ideen in Bibliotheken gelten kann, dass man sie nämlich physisch an diesen Orten der Gelehrsamkeit sammelt, kann auch für die Sicherung von Forschungsergebnissen in Buchform gelten: der physisch vorhandene Band kann unter Umständen ein weit längere Lebensdauer haben als eine Datei auf einer Festplatte oder einem Server.
Für die vorliegende Publikation gilt, dass ihre Inhalte auch zehn Jahre nach dem erfolgreichen Abschluss der Dissertation nichts an Aktualität14 eingebüßt haben. Die Ausverhandlung von Geschichte im Allgemeinen und jener der Gottscheer im Speziellen ist stets ein unabgeschlossener Prozess, der von jeder neuen Generation aufs Neue in Angriff genommen werden muss. Auf die Gottschee/Kocevska bezogen, hat er sich in die Sozialen Netzwerke verlagert, die neben konventionelle Websites getreten sind. Da dabei nach wie vor unterschiedlichste diskursive Strategien aufeinanderprallen und ineinanderfließen, ist die gewählte Methode der Diskursanalyse nach wie vor, ein probates Mittel, sich dem „Kampf um die Erinnerung“ anzunähern. Zudem ist das Interesse nachrückender Generationen für die Vergangenheit ihrer Groß- und Urgroßeltern auch 2019 noch ungebrochen, was durch die genannten (vor)wissenschaftlichen Forschungstätigkeiten belegt wird. Somit ist die nun stattfindende Publikation der Dissertation „Gottschee global. Geschichtsnarrative und Identitätsmanagement im Cyberspace“ aus unterschiedlichen Gründen motiviert und mag als weiterer Teil eines Puzzles gelten, aus dem sich die Arena der Erinnerungen an die Geschichte der Gottschee/Kocevska zusammensetzt.
1 LeGoff, Jacques: Geschichte und Gedächtnis. S. 85.
2 Marschnig, Georg: Flucht in den Mythos: Gottscheer Geschichtsinterpretationen der Jahre 1941 bis 1945. Unveröffentlichte Diplomarbeit, 2006.
3 Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2009 als Dissertation an der Universität Wien und mit „Sehr gut“ bewertet.
4 Die jährlich durchgeführte Veranstaltung fand im Jahr 2009 am 10. und 11. November im Konzerthaus Klagenfurt unter Beteiligung von so renommierten Persönlichkeiten wie dem damaligen Bundespräsidenten Dr. Heinz Fischer und Dr. Paul Lendvai zum Thema „Sind wir alle Europäer oder ist noch Platz für Volksgruppen?“ statt.
5 Im Sinne dieses Statements wurde einige Monate später auch die gesamte Forschungsarbeit in einer Ausgabe der „Gottscheer Zeitung“ „besprochen.“ Vgl. „Gottscheer Zeitung“, Jg. 107 (94), Januar 2010, S. 12.
6 Eine erste, vom Verfasser betreute wissenschaftliche Annäherung aus geschichtsdidaktischer Perspektive an eine derartige Seite wurde 2017 an der Universität Graz vollzogen, in der die Gruppe „Zeitreise Fohnsdorf“ hinsichtlich ihrer identitätsstiftenden Funktion untersucht wurde. Vgl. Hartner, Georg: Geschichtsbewusstsein via Facebook – Die „Zeitreise Fohnsdorf“ als Beispiel für kollektives historisches Lernen. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Graz, 2017.
7 Es handelt sich um www.gottscheer.net, www.gottscheenewyork.com sowie http://hwk.best.vwh.net/
8 Vgl. Kapitel 1.4, S. 104f.
9 Vgl. ebda.
10 Ferenc, Mitja; Hösler, Joachim [Hrsg.]: Spurensuche in der Gottschee. Deutschsprachige Siedler in Slowenien.
11 Praznik, Miha: Die kleine Region der Gottschee von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre. Eine Darstellung mit Berücksichtigung lebensgeschichtlicher Interviews. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Graz, 2013.
12 Grollitsch, Jakob [Hg.]: Europa erlesen. Gottschee. Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2015.
13 Schmidt, Noa Seraphina: Gottschee ade! Die Umsiedlung der Gottscheer ab 1941. Vorwissenschaftliche Arbeit, 2016.
14 Um die Ergebnisse und Inhalte nicht ex post zu verfälschen oder zu irritieren, wurde auch darauf verzichtet, die angegebenen Zugriffsdaten auf die verhandelten Websites zu aktualisieren.
1 Einleitung
Was nicht aufhört, weh zu tun,
bleibt im Gedächtnis.
Friedrich Nietzsche15
1.1 Ausgangspunkte, Zugänge und Forschungsinteresse
Wer die Gottschee und seine ehemaligen Bewohner kennt, wird sich fragen, was diese gleichermaßen entlegene wie beeindruckende Region oder die traditionsbewussten Gottscheer mit dem Internet verbinden sollte. Wie passt eine Gemeinschaft, die sich schon über ihren Namen, der sich auf keiner aktuellen Landkarte mehr finden lässt, als etwas stark Vergangenheitsbezogenes definiert, mit dem Modemedium schlechthin zusammen? Welche Bedeutung kann der Cyberspace für die Gottscheer Gemeinschaft haben und wofür kann er ihr dienen? Das dürften nur einige der Fragen sein, die sich dem GottscheeKundigen stellen werden, wenn er sich mit der Überschrift „Geschichtsnarrative und Identitätsmanagement im Cyberspace“ konfrontiert sieht oder das weltweite Netz als Ort einer Gottscheer Erinnerungskultur präsentiert bekommt.
Tatsächlich besteht zwischen der Gottscheer Gemeinschaft und dem Cyberspace, also dem „weltweit vernetzten Datenraum“16, nicht nur ein mehr oder weniger lebendiges Verhältnis, es lassen sich auch Gemeinsamkeiten in der Struktur der beiden Phänomene selbst erkennen. Das „Leitmedium Internet“17 kann als Verbindung unzähliger Rechner gesehen werden, die – unabhängig von ihrem jeweiligen Standort – zum „Netz“ werden. Von nahezu jedem Ort der Welt wird am Ausbau des Netzes gearbeitet, von überall erhält es neuen Input ←15 | 16→und wird somit ständig erweitert. Gleichzeitig gewährleistet das Netz über das E-Mail-Service und andere Programme die Möglichkeit, mit Menschen rund um den Globus in Kontakt zu treten beziehungsweise diesen in weiterer Folge auch zu pflegen. Nicht zuletzt dadurch ähnelt das World Wide Web der „Gottscheer Community“, die sich ebenso über den Globus erstreckt und Bereicherungen oder Weiterentwicklungen aus unzähligen Ecken der Welt erhält. Die Existenz dieser „Gottscheer Community“ ermöglicht es Amerikanern mit Gottscheer Wurzeln mit österreichischen Gottscheern, Australien-Gottscheern mit Deutschen etc. in Kontakt zu stehen.
Die Gottscheer wurden bereits zum weltweiten Netz, als die modernen Massenmedien noch in den Kinderschuhen steckten. Mit dem um 1860 beginnenden und nicht mehr versiegenden Emigrationsstrom in die Vereinigten Staaten und nach Kanada entstanden bereits vor dem Ersten Weltkrieg unzählige „Gottscheer-Kolonien“ in New York, Cleveland, Kitchener oder Toronto. Ein Netz, das seinen Mittelpunkt zu diesem Zeitpunkt noch im slowenischen Kočevje hatte, begann sich zu entspannen. Das Jahr 1918 mit dem Zerfall der Donaumonarchie und dem Entstehen des jugoslawischen Vielvölkerstaates brachten einen neuen Emigrationsimpuls mit sich: Viele Gottscheer, die zuvor noch vom Studium in Österreich und Deutschland in ihre Heimat zurückgekehrt waren, blieben immer öfter dort und die sich entwickelnde Weltmacht USA stellte nach wie vor das Ziel vieler Gottscheer Träume dar und nach dem Entstehen des neuen „Staates der Serben, Kroaten und Slowenen“ verließen viele deutschsprachige Beamte die Gottschee/Kočevska. Immer mehr Punkte auf der Weltkarte wurden durch das Gottscheer Netz zusammengehalten, der Zweite Weltkrieg, die Umsiedlung und die anschließende Flucht aus dem „Dreieck von Breziče/Rann“ ließ die Zahl dieser Punkte 1945 erneut stark ansteigen.
1945 verlor das Netz der deutschsprachigen Gottscheer allerdings seinen physischen Mittelpunkt. Die Gottschee/Kočevksa lag nun im sozialistischen Jugoslawien und wurde von nun an als „verloren“ gesehen. Das „Gottschee ist nicht mehr“18 wird zwar erst Jahrzehnte später in einer Festschrift formuliert, wird aber bereits zu Kriegsende als solches wahrgenommen. Die „alte Heimat“ scheint verschwunden, untergegangen im Strom des Schicksals, überlagert von neuen Entwicklungen, versunken im Fortschreiten der Geschichte – je nach Diktion.
Und genau an dieser Diktion wird nach 1945 gefeilt und gearbeitet. Und gestritten. Nachdem sich die deutschsprachigen Gottscheer vom Schock der ←16 | 17→Umsiedlung und dem Trauma der anschließenden Flucht langsam erholt hatten, begannen sie damit, Vereinigungen aufzubauen, beziehungsweise Vereine, die schon vor dem Krieg bestanden hatten, wiederzubeleben. Hilfsvereine wurden dies- und jenseits des Atlantiks ins Leben gerufen, um den verstreuten ehemaligen Landsleuten unter die Arme zu greifen. Krieg und Emigration hatten sie über den ganzen Globus verstreut, doch egal wo sich eine Gottscheer Gemeinde bildete, wurde die Tradition hochgehalten, das Gottscheerische gesprochen, die alten Feste gefeiert und das heimatliche Essen gekocht. Landsmannschaften organisierten Heimatabende und Tanzveranstaltungen, auf Gottscheer Bällen wurden und werden Misswahlen abgehalten. Zehn Jahre nach dem Krieg wurde die „Gottscheer Zeitung“ wieder gegründet und sollte als einigendes Band, als Kommunikationsmittel und nicht zuletzt als Geschichtsbuch dienen. Die Zeitung, die recht bald eine beachtliche Auflage erreichte, wurde nicht nur in Österreich gelesen, wo sie seither erscheint, sondern auch in Amerika und Australien. Sie war das „Zentralorgan“ par excellence und hatte selbstverständlich das Meinungsmonopol inne. Neben Heiratsanzeigen und Parten, Legenden aus der Gottschee/Kočevska und Berichten über das Leben in den „neuen Heimaten“ wurde auch Politik gemacht. Entschädigungen für das verlorene Eigentum waren zu erkämpfen und dafür wurde die Geschichte bemüht.
Details
- Seiten
- 316
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631787540
- ISBN (ePUB)
- 9783631787557
- ISBN (MOBI)
- 9783631787564
- ISBN (Hardcover)
- 9783631787533
- DOI
- 10.3726/b15527
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Juli)
- Schlagworte
- Gedächtnis Erinnerungskultur Identität Diskursanalyse Gottscheer Narrativität
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 316 S., 3 s/w Abb.