Texte komponieren, von Klängen erzählen
Studien zu den Beziehungen von Literatur und Musik
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Herausgeberangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Die Soldaten: Jakob Michael Reinhold Lenz und Bernd Alois Zimmermann1Text eines Vortrags, gehalten im Hessischen Staatstheater Wiesbaden am 22. November 2015. Die Vortragsform wurde beibehalten; nur die notwendigsten Nachweise und Anmerkungen wurden ergänzt.
- Aschenputtel, Turandot …: Liebesmärchen und Musik
- Forever Young. Mit Bob Dylan auf dem Jakobsweg des Segnens
- Till Lindemanns düsterdeutsche Imaginationslandschaften
- Platon, The Star-Spangled Banner und die Hexe im Wald.: Über das rebellische Potential von Musik und Märchen
- Und die Feen lieben über alles die Musik. Vorkommen und Bedeutung der Musik in den Feenmärchen
- Rettung, Gefahr, Verzauberung – Musik und Tanz der Anderswelt in Märchen aus Irland, Schottland und Wales
- „Die halbe Nacht lang sang er so“ – Musik als Zaubermacht im Märchen. Reflexionen eines Märchenerzählers
- Musik im Jagdschloss von Antonin. Fürst Anton Radziwiłł und Chopin in den Romanen Elisa Radziwill. Die Jugendliebe Kaiser Wilhelms I. (1929) von Leo Hirsch und Tydzień w Antoninie [Eine Woche in Antonin] (1956) Gustaw Bojanowskis
- Musik – Leidenschaft, literarisches Thema und Strukturelement.: Willi Bredels Frühlingssonate
- Poetische Annäherungen an das Schubert-Genie. Zur Schubert-Weltsicht in Franz Schubert. Briefe. Tagebuchnotizen. Gedichte (1975) von Erich Valentin und Schubert (1992) von Peter Härtling
- Hartmut Langes Das Konzert und die Verdinglichung der Musik post mortem
- Zwischen Erinnerung und Aufbruch. Musik als handlungstragendes Element in Bettina Spoerris Roman Konzert für die Unerschrockenen (2013)
- „… ich bewege mich in der Musik, als füllte sie mich vollständig aus“.1Ortheil 2007, 263. Zur Musik und Musikerfigur im Roman Das Verlangen nach Liebe von Hanns-Josef Ortheil
- Zum Pop in der Popliteratur. Intermediale Bezüge von Literatur und Musik in Benjamin von Stuckrad-Barres Livealbum
- „Für immer wird The Cure die großartigste Band aller Zeiten für sie sein. […] Für immer und ewig“1Zorn, Claire: Klippenspringen. A.d. australischen Engl. v. Inge Wehrmann. Stuttgart 2016, 5. – Musik zwischen Erinnerung, Trauerbewältigung und Verstehen in Jugendromanen des 21. Jahrhunderts
- Autoren der Beiträge
Vorwort
Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines am Germanistischen Institut der Universität Warschau unter meiner Leitung durchgeführten Projekts zu den Beziehungen von Literatur und Musik als Fragestellung einer modernen, komparatistisch orientierten Forschung. Das Ziel dieses Vorhabens war es, das vielschichtige, facettenreiche und bis heute nach wie vor wissenschaftlich ergiebige Forschungsfeld der Beziehungen von Literatur und Musik exemplarisch zu beleuchten und in seinem thematischen wie methodologischen Reichtum einzufangen – jenes Phänomen, das – worauf Georg Reichert bereits vor vielen Jahren hingewiesen hat – seit alters her in der Kultur präsent ist (vgl. Reichert 1965, 143) und – was diverse ästhetische Erscheinungen des intermedialen Zeitalters, in dem wir leben, plausibel zeigen – allem Anschein nach nicht an Popularität und Attraktivität verliert. Da es das Anliegen der Projektteilnehmer (Małgorzata Filipowicz, Maciej Jędrzejewski und ich selbst) war, auf möglichst unterschiedliche Präsenz- und somit Rezeptionsoptionen der literarisch-musikalischen Symbiose in der gegenwärtigen Forschung abzuheben, haben wir uns entschieden, Forscher aus Deutschland (Bergen i.V., Berlin, Cloppenburg, Heidelberg, Münster, Oldenburg, Siegen), Polen (Poznań, Lublin, Warszawa, Wrocław) und der Schweiz (Gebenstorf, Zürich) zur Mitarbeit an dem Projekt einzuladen, die aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Korrespondenz der Künste blicken und somit voneinander divergierende Zugänge zu dieser Problematik anbieten. Diese Veröffentlichung dokumentiert ihre wissenschaftlichen Interessengebiete, ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
Zieht man die thematische Vielfalt der hier gesammelten Abhandlungen in Betracht, ergibt sich, dass sie hauptsächlich auf zwei Bereiche der literarisch-musikalischen Symbiose rekurrieren, die Steven Paul Scher als „Musik und Literatur“ und „Musik in der Literatur“ (Scher 1984, 14) einordnet, auch wenn sie sich nicht immer eindeutig positionieren und nicht ausschließlich einem der angeführten Hauptgebiete zuordnen lassen. Einige berühren nämlich auch Probleme, die Scher als „Einzelaspekte und Techniken der Wechselwirkung“ definiert, die sich unter keine der oben genannten Kategorien subsumieren lassen, z.B. „Musikerfiguren in der Dichtung“ oder beispielsweise „die Einwirkung der Musik auf […] einzelne, für Musik besonders aufgeschlossene Autoren“ (Scher 1984, 13–14).
Der Band wird mit Texten eröffnet, die auf den erstgenannten Hauptbereich der Wort-Ton-Synthesen in Form von Oper und Lied eingehen. Der Beitrag von Albert Gier ist die erste Studie in der vorliegenden Publikation, in deren Fokus ein literarischer Text, Die Soldaten von Jakob Michael Reinhold Lenz, steht, der zum Stoff der gleichnamigen Oper und somit zu deren Libretto wurde. Der Forscher führt in die Geschichte seiner Entstehung ein, verweist auf biographische Referenzen und nimmt somit Kontextualisierungen vor, um dann die „Komödie“ von Lenz zu untersuchen und auf ihre Opernadaptionen, insbesondere die mit der Musik von Bernd Alois Zimmermann (1965), zu sprechen zu kommen. Barbara ←7 | 8→Gobrecht rückt ausgewählte Liebesmärchen und ihre Opern- und Ballettbearbeitungen in den Fokus ihrer Untersuchung: La Cenerentola von Gioachino Rossini, Cinderella von Sergej Prokofjew und Turandot von Giacomo Puccini, indem sie Märchenprätexte mit Libretti und Partituren vergleicht und nach Bearbeitungsstrategien des Librettisten und des Komponisten fragt. Zwei weitere Beiträge widmen sich dem Lied: Harm-Peer Zimmermann erforscht den „benediktiv-reflexive[n] Horizont“ des 1974 veröffentlichten Songs Forever Young von Bob Dylan und deutet ihn als Segen, verstanden „als performative[r] Akt und als performance“. Im Zentrum der Studie stehen intertextuelle Referenzen auf die Bibel und die Thora, deren akribische Untersuchung die Beantwortung folgender Fragen zum Ziel hat: „Auf welche biblischen Hintergründe spielt Dylan an? Wie interpretiert er diese Hintergründe? Und was sagt er dabei über das Segnen?“. Jacek Aleksander Rzeszotnik geht dagegen auf die Liedproduktion Till Lindemanns und der Band Rammstein ein und steckt ihre thematischen Schwerpunkte im breiteren kulturellen Kontext ab: Sex und Gewalt, „problematische zwischenmenschliche Beziehungen“, Liebe, als porträtierten die Texte des Multitalents Lindemann den Menschen in seiner emotionalen Nacktheit, „so wie er durch seine ‚düsterdeutschen Imaginationslandschaften‘ wandert“. Die weiteren Beiträge konzentrieren sich auf die Anwesenheitsmöglichkeiten der Musik im literarischen Text bzw. die funktionellen Parallelitäten zwischen Musik und literarischem Text, beginnend mit der Volksliteratur und abschließend mit der Popliteratur, auch wenn sie nicht immer als rein literaturwissenschaftlich aufgefasst werden können und auch nicht wollen: Sie stellen ein breit gefächertes Spektrum von Musikmotiven vor, die anhand von Märchen, Erzählungen, Novellen und Romanen hinterfragt werden, und wenden unterschiedliche methodologische Ansätze an. So wird in vier Abhandlungen der Konnex zwischen Märchen und Musik aufgegriffen: Angelika B. Hirsch setzt sich mit dem positiven Potenzial auseinander, das aus der Konfrontation des Märchens wie der Musik mit der Wirklichkeit und damit „der ‚dunklen‘ Seite“ der menschlichen Existenz, abseits des Trivialen und Wunschträumerischen, resultiert, während sich die Autorinnen der zwei darauffolgenden Studien auf die Relevanz der Musik in Märchen mit Feenfiguren konzentrieren: Rosemarie Tüpker stellt zuerst die Ergebnisse ihrer umfassenden vergleichenden Forschungen zur „Bedeutung der Musik“ in 329 europäischen Volksmärchen dar und weist auf den markanten Zusammenhang zwischen Feen- und damit Anderswelt und Musik hin. Anschließend analysiert die Autorin das irische Märchen Der kleine Sackpfeiler, indem sie von der „psychologische[n] Deutung“ Gebrauch macht, die „einer intersubjektiven Untersuchungsmethode“ folgt. Sabine Lutkat untersucht in ihrer Studie neben irischen auch ausgewählte Erzählungen aus Schottland und Wales, um in ihnen die „Rolle des Tanzes und der Musik der Anderswelt“ zu bestimmen, denn: „Die Anderswelt der Märchen ist voller Tanz und Musik. Tanzen scheint geradezu eine der Lieblingsbeschäftigungen der Andersweltbewohner zu sein, und das ist ohne Musik nun einmal nicht denkbar“. Heinrich Dickerhoff betrachtet dagegen das Thema ‚Musik und Märchen‘ als Märchenerzähler, für den das Märchen und damit auch das Märchen mit Musikmotiven „einen Spiegel“ der ←8 | 9→„intersubjektive[n] Erfahrungen“ bedeutet. So lässt er in seinem Beitrag Erzählungen unterschiedlicher Kulturkreise Revue passieren: von den deutschen, russischen, irischen und englischen über die armenischen, chinesischen und karibischen bis hin zu den Eskimoerzählungen, um sie nach der Rolle der Musik zu befragen. In dieser erblickt er „‚Zauber‘, Lebensenergie, seelische Kraft“. Roman Dziergwa kommt den literarischen Porträts von zwei polnischen Komponisten, Antoni Henryk Radziwiłł und Fryderyk Chopin, auf die Spur, die er auf Grund von zwei Romanen, Elisa Radziwill. Die Jugendliebe Kaiser Wilhelms I. (1929) von Leo Hirsch und Tydzień w Antoninie (Eine Woche in Antonin, 1956) von Gustaw Bojanowski, rekonstruiert. Rüdiger Bernhardt nimmt Willi Bredels 1960 erschienene Novelle Frühlingssonate unter die Lupe, die er für „das überzeugendste Werk der deutschen Literatur über d[en] [Zeitraum von Anfang Mai bis zum Oktober 1945]“ hält. Der Forscher interpretiert die Musikbezüge des Textes vor dem biografischen Hintergrund und unter Berücksichtigung der Haupttendenzen in Bredels Schaffen. Małgorzata Filipowicz richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Schubert-Figur und unternimmt den Versuch, sie aufgrund der vergleichenden Analyse des Bandes Franz Schubert. Briefe. Tagebuchnotizen. Gedichte (1975) von Erich Valentin und der Romanbiografie Schubert (1992) von Peter Härtling wiederzugeben. Tomasz Małyszek setzt sich mit dem Konnex zwischen Tod und Musik in der Novelle Das Konzert (1984) von Hartmut Lange auseinander, verweist auf intertextuelle wie kontextuelle Bezüge und verankert das Werk im umfassenden Rahmen des literarischen Œuvres von Lange. Im Zentrum der drei darauffolgenden Artikel stehen deutsche Gegenwartsromane: Małgorzata Dubrowska befasst sich mit dem Konzert für die Unerschrockenen (2013) von Bettina Spoerri und deutet die hier thematisierte Musik als „handlungstragendes Element“, das – textintern gesehen – für die Protagonistin ein Hilfsmittel zum Überleben bedeutet. Während Katarzyna Grzywka-Kolagos Analyse des Werkes Das Verlangen nach Liebe (2007) von Hanns-Josef Ortheil auf „die Charakteristik des Romanhelden mittels seiner Musikfaszination mit Berücksichtigung ihrer räumlichen Verankerung“ abzielt, geht Maciej Jędrzejewski der „facettenreiche[n] semantisch-funktionale[n] Bedeutung“ der Popmusik in der Popliteratur am Beispiel der Erzählung Livealbum (1999) von Benjamin von Stuckrad-Barre nach. Den Band schließt der Beitrag von Sabine Planka ab, in dem Musik in der modernen Kinder- und Jugendliteratur zum Gegenstand einer reflexiven Annäherung gemacht wird: Die Forscherin versucht hier, neues Licht auf die Präsenz von Musik in ausgewählten Jugendromanen des 21. Jahrhunderts zu werfen. Dem Forschungsüberblick folgen Interpretationen von: Michelle Falkoffs Playlist for the Dead (dt. 2016), Claire Zorns Klippenspringen (dt. 2016), Jason Reynolds’ Love oder meine schönsten Beerdigungen (dt. 2015), Anne Freytags Mein bester letzter Sommer (2016). In diesen Werken taucht die Musik in Korrelation mit dem Krankheits- und Todesmotiv auf und wird als ein in Zusammenhang mit Emotionen stehendes Phänomen begriffen, das vermag, „(subjektive) Erinnerungen (an eine Person) abzurufen“. Was die Form der Beiträge anbelangt, so kommen in ihnen zwei Möglichkeiten der Quellen- und Literaturangaben, also entweder als Fußnoten oder direkt im Text, zur Anwendung, was manch einem ←9 | 10→Leser als unverständlich und bei der Lektüre störend erscheinen mag. Wir haben uns jedoch dafür entschieden, um uns so weit wie möglich den individuellen Vorlieben der Autoren anzupassen.
An dieser Stelle möchte ich meine aufrichtigen Dankesworte aussprechen: Bedanken möchte ich mich bei meinen Mitarbeitern, Małgorzata Filipowicz und Maciej Jędrzejewski, für die Zeit, die sie für die Planung und die Durchführung dieses Projekts aufgebracht haben, und somit für ihre unersetzliche Hilfe bei den mühsamen redaktionellen Arbeiten. Besonders herzlich zu danken ist aber allen Autorinnen und Autoren, dass sie unsere Einladung zur Mitarbeit angenommen und uns ihre wertvollen Forschungsergebnisse zur Verfügung gestellt haben. Von Herzen danke ich für die kollegiale Zusammenarbeit und die aufschlussreichen Beiträge, die sich der Problematik der Beziehungen von Literatur und Musik mit der gebotenen thematischen und methodologischen Vielfalt nähern und zeigen – um auf die Worte Hanns-Josef Ortheils anzuspielen – dass es in der Tat bisweilen möglich ist, dass „die Welt Text und Klang, […] Erzählung und Komposition“ (Ortheil 2007, 212) wird.
Literatur
Ortheil, Hanns-Josef: Das Verlangen nach Liebe. München 2007.
Reichert, Georg: Literatur und Musik. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Sammler. Zweite Aufl. Neu bearbeitet und unter redaktioneller Mitarbeit von Klaus Kanzog sowie Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hg. v. Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Berlin 1965, 143–163.
Scher, Steven Paul: Einleitung. Literatur und Musik – Entwicklung und Stand der Forschung. In: Steven Paul Scher (Hg.): Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin 1984, 9–25.
Albert Gier
Die Soldaten: Jakob Michael Reinhold Lenz und Bernd Alois Zimmermann1
Abstract: Der Beitrag charakterisiert zunächst Die Soldaten von J.M.R. Lenz als antiklassizistisches Drama, dessen Dramaturgie vom Einfluss Shakespeares geprägt ist. Der Komponist Zimmermann fand bei Lenz seine eigenen Vorstellungen vom Wesen der Zeit („Kugelgestalt der Zeit“) und ihrer Überwindung wieder. Das wird vor allem an der zweiten, großen Simultanszene demonstriert.
Bernd Alois Zimmermanns Oper Die Soldaten – eines der bedeutendsten und komplexesten Werke für das Musiktheater, die im 20. Jahrhundert entstanden sind – basiert auf dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz. Der Dichter Lenz war ein problematischer Charakter, dem es nie gelang, seinen Platz in der Welt zu finden (vgl. Damm 1992; Kraft 2015). Der 1751 in Livland Geborene brach 1771 sein Theologie-Studium in Königsberg ab und ging nach Straßburg, wo er u.a. Johann Wolfgang Goethe kennenlernte, der sein Schicksal werden sollte: Der gerade einmal zweiundzwanzigjährige Goethe, der dann 1773 Götz von Berlichingen, 1774 Die Leiden des jungen Werthers veröffentlichte, war eine der Leitfiguren des Sturm und Drang, einer Avantgarde- und Protestbewegung gegen die deutsche Aufklärung, deren Vernünftigkeit den jungen Literaten ein wenig platt und prosaisch erschien. Lenz hat Goethe bewundert und intensiv um seine Freundschaft geworben, ihn aber zugleich als literarischen und persönlichen Rivalen betrachtet2 (vgl. Ebersbach 1994). Er versuchte sogar, Nachfolger des Freundes bei Friederike Brion, der Pfarrerstochter aus Sesenheim (oder besser: Sessenheim) zu werden: 1772, ein Jahr, nachdem Goethe seine Beziehung zu Friederike beendet und Straßburg verlassen hatte, warb Lenz intensiv, aber erfolglos um das Mädchen. Dieser Episode verdankt er übrigens seinen vielleicht ersten Auftritt auf der Musiktheater-Bühne: In Franz Lehárs „Singspiel“ Friederike von 1928 unternehmen ←11 | 12→die Studenten Goethe und Lenz (entgegen der historischen Wahrheit) gemeinsam einen Ausflug nach Sesenheim und machen beide der Pfarrerstochter den Hof. Leider hat der sehr tüchtige und erfahrene Librettist Fritz Löhner-Beda gemeinsam mit Ludwig Herzer für einmal ein arg verkitschtes Libretto geschrieben (vgl. Schwarberg 2000, 44–53).
Nachdem Goethe Minister in Weimar geworden war, bemühte sich auch Lenz um eine Anstellung am Hof Herzog Karl Augusts. Im November 1776 kam es jedoch aus bis heute ungeklärten Gründen zu einem dauerhaften Zerwürfnis der Freunde, und Goethe ließ Lenz aus Weimar ausweisen. In den folgenden Jahren litt dieser immer wieder unter psychotischen Schüben, so auch 1778 während eines Aufenthalts im Elsass bei seinem Freund, dem Pfarrer Oberlin. Dessen Aufzeichnungen über diese Zeit inspirierten später Georg Büchner zu seiner Erzählung Lenz, die Vorlage für eines der eindrucksvollsten und bis heute meistgespielten Bühnenwerke von Wolfgang Rihm, der 1978 uraufgeführten Kammeroper Jakob Lenz, wurde (vgl. Schmidt 1993). Seit 1780 lebte Lenz in Rußland; in Moskau und St. Petersburg bemühte er sich vergeblich um eine dauerhafte Anstellung; den Kontakt zur Literaturszene in Deutschland hatte er fast vollständig verloren. In der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1792 fand man ihn tot auf einer Straße in Moskau.
Goethe scheint dem früheren Freund den Streit von 1776 zeitlebens nachgetragen zu haben; noch in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit – als sie entstand, war Lenz schon mehr als 20 Jahre tot – äußert er sich ziemlich missgünstig über ihn (vgl. Hill 1994; Wilson 2017): „Klein, aber nett von Gestalt, ein allerliebstes Köpfchen, dessen zierlicher Form niedliche etwas abgestumpfte Züge vollkommen entsprachen; blaue Augen, blonde Haare, kurz ein Persönchen, wie mir unter nordischen Jünglingen von Zeit zu Zeit eins begegnet ist; einen sanften, gleichsam vorsichtigen Schritt, eine angenehme, nicht ganz fließende Sprache, und ein Betragen, das zwischen Zurückhaltung und Schüchternheit sich bewegend, einem jungen Manne gar wohl anstand. Kleinere Gedichte, besonders seine eigenen, las er sehr gut vor, und schrieb eine fließende Hand. Für seine Sinnesart wüßte ich nur das englische Wort whimsical, welches, wie das Wörterbuch ausweis’t [sic], gar manche Seltsamkeiten in Einem Begriff zusammenfaßt. […] Aus wahrhafter Tiefe, aus unerschöpflicher Productivität ging sein Talent hervor, in welchem Zartheit, Beweglichkeit und Spitzfindigkeit mit einander wetteiferten, das aber, bei aller seiner Schönheit, durchaus kränkelte, und gerade diese Talente sind am schwersten zu beurtheilen. Man konnte in seinen Arbeiten große Züge nicht verkennen; eine liebliche Zärtlichkeit schleicht sich durch zwischen den albernsten und barockesten Fratzen, die man selbst einem so gründlichen und anspruchslosen Humor, einer wahrhaft komischen Gabe kaum verzeihen kann. Seine Tage waren aus lauter Nichts zusammengesetzt, dem er durch seine Rührigkeit eine Bedeutung zu geben wußte, und er konnte um so mehr viele Stunden verschlendern, als die Zeit, die er zum Lesen anwendete, ihm bei einem glücklichen Gedächtniß immer viel Frucht brachte, und seine originelle Denkweise mit mannichfaltigem Stoff bereicherte“ (Goethe 1890, 76, 247–248).
←12 | 13→Mit anderen Worten: ein verkrachtes Genie, talentiert, aber nicht hinreichend zielstrebig, geschmackssicher und selbstkritisch. Auch Lenzens Charakter scheint nicht über jeden Zweifel erhaben: Goethe insinuiert, dass er ihn plagiiert, und sich obendrein undankbar gezeigt habe: An seinen Anmerkungen über das Theater „war es mir einigermaßen auffallend, daß er in einem lakonischen Vorberichte sich dahin äußerte, als sei der Inhalt dieses Aufsatzes, der mit Heftigkeit gegen das regelmäßige Theater gerichtet war, schon vor einigen Jahren, als Vorlesung, einer Gesellschaft von Literaturfreunden bekannt geworden, zu der Zeit also, wo Götz [Götz von Berlichingen, das Musterbeispiel eines Dramas, das sich vom Zwang der klassizistischen Regelpoetik befreit] noch nicht geschrieben gewesen. In Lenzens Straßburger Verhältnissen scheint ein literarischer Cirkel den ich nicht kennen sollte, etwas problematisch3; allein ich ließ es hingehen, und verschaffte ihm zu dieser wie zu seinen übrigen Schriften bald Verleger, ohne auch nur im mindesten zu ahnen, daß er mich zum vorzüglichsten Gegenstande seines imaginären Hasses, und zum Ziel einer abenteuerlichen und grillenhaften Verfolgung ausersehn hatte“ (Goethe 1890, 251).
Dass Lenz während des ganzen 19. Jahrhunderts kaum Beachtung fand, dürfte zum Teil mit Goethes abschätzigen Bemerkungen zusammenhängen; andererseits teilt er das Schicksal späterer Dramatiker wie Christian Dietrich Grabbe oder Georg Büchner (in dessen Dramen der Einfluss Lenzens unübersehbar ist): Sie alle setzten sich bewusst über die Konventionen des zeitgenössischen Theaters hinweg; deshalb galten ihre Dramen lange als unaufführbar, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als literarische Strömungen wie Naturalismus und Expressionismus den Weg zu einer neuen Theaterästhetik gewiesen hatten, eroberten Lenz wie Büchner die deutschen Bühnen.
In den 1770er Jahren, die seine produktivste Zeit waren, verfasste Lenz mehr als ein halbes Dutzend Theaterstücke; keines davon hat er jemals auf einer Bühne sehen können. Die beiden bis heute bekanntesten, Der Hofmeister und Die Soldaten, behandeln das gleiche Thema: die Verführung eines naiven jungen Mädchens, einmal durch einen Hauslehrer (Der Hofmeister), das andere Mal durch einen adligen Offizier, den das militärische Reglement zur Ehelosigkeit verpflichtet und der deshalb eine galante Beziehung zu einer Bürgerstochter anknüpft.
Zu diesem zweiten Stück, den Soldaten (Lenz 1992, 173–236), wurde Lenz durch eigene Erfahrungen angeregt: Er war als Reisebegleiter der Barone Ernst Nikolaus und Friedrich Georg von Kleist nach Straßburg gelangt – man hätte „einen Mentor nicht leicht unglücklicher wählen können“ (Goethe 1890, 248), schrieb der nachträgerische Goethe – und blieb bis 1774 als Diener bei den beiden angehenden Offizieren. Der ältere der Brüder Kleist begann in Straßburg eine Liebschaft mit Cleophe Fibich, der Tochter eines Juweliers; im Oktober 1773 kam es zu einem ←13 | 14→förmlichen, von einem Notar beglaubigten Eheversprechen (abgedruckt u.a. in: Die Soldaten 1987, 68–69). Der Baron verpflichtete sich darin, nach Kurland zu reisen, um die Zustimmung seiner Eltern zur Heirat zu erlangen (die freilich nicht unbedingt erforderlich war, denn er war großjährig). Sollte er seine Braut nicht binnen fünfzehn Monaten ehelichen, hatte er dem Brautvater 14.000 Livres – eine beträchtliche Summe – als Entschädigung zu zahlen; ebenso viel stand dem Baron zu, wenn Fibich von der Vereinbarung zurückträte. Kleist reiste in der Tat nach Kurland, kehrte aber nie mehr nach Straßburg zurück. Lenz, der ein bemerkenswertes Talent hatte, sich hoffnungslos zu verlieben, bemühte sich zeitweise selbst um Cleophe Fibich, die auf ihren Verlobten wartete, aber offenbar ähnlich wie Lenzens Marie auch die Gesellschaft anderer Männer suchte (vgl. Lenzens Tagebuch4, in: Die Soldaten 1987, 49–67).
Der Dichter nennt dieses zweite Stück Die Soldaten, aber die Hauptfigur ist ebenjene Marie, die hübsche Tochter des „Galanteriehändlers“ (wie es im Personenverzeichnis heißt) Wesener aus Lille. Obwohl Marie dem Tuchhändler Stolzius aus Armentières „schon so gut als halb versprochen“ ist (II [Akt] 3 [Szene], Lenz 1992, 196), lässt sie sich vom Baron Desportes den Hof machen. Ihr Vater sieht das zunächst nicht gern, weil er um ihren guten Ruf fürchtet; er ändert seine Meinung, wenn seine Tochter ihm ein Gedicht zeigt, das der Offizier für sie geschrieben hat: Der erste Vers „Du höchster Gegenstand von meinen reinen Trieben“ gilt Wesener, der schon Hochzeitsglocken läuten hört, als Beweis für die ehrbaren Absichten des Barons (I 6, Lenz 1992, 186–187).
Die Verführung eines Mädchens aus dem Bürgertum durch einen Aristokraten ist ein Lieblingsthema von Literatur und Theater im 18. Jahrhundert – man denke nur an die Romane Samuel Richardsons, an Lessings Trauerspiele Miss Sara Sampson und Emilia Galotti oder an die Gefährlichen Liebschaften von Choderlos de Laclos. Wie beim alten Wesener mag das Unglück nicht selten durch Missverständnisse verursacht sein: Im Bürgertum meint man, was man sagt; die Sprache der höfischen Galanterie, die die Aristokraten selbstverständlich beherrschen, ist Marie und ihrem Vater nicht vertraut. Eine adlige Dame würde die Liebesschwüre des Barons als relativ unverbindliches erotisches Geplänkel erkennen; die Weseners nehmen sie wörtlich, mit verhängnisvollen Folgen.
Übrigens erscheinen Vater und Tochter durchaus berechnend, beide lockt die Aussicht auf einen gesellschaftlichen Aufstieg. Als eine Art Rückversicherung, falls mit Desportes etwas schiefgehen sollte, empfiehlt Wesener Marie, „den Stolzius nicht so gleich ab[zu]schrecken“ (I 6, Lenz 1992, 187). Das Mädchen findet den Baron, der sie ins Theater führt und ihr Geschenke macht, sicher unterhaltsamer als den etwas hölzern wirkenden Tuchhändler, aber auch sie denkt vor allem an die ←14 | 15→Zukunft: „Stolzius – ich lieb dich ja noch – aber wenn ich nun mein Glück besser machen kann […]“ (Lenz 1992, 187–188).
Der vertraute Umgang mit Desportes bringt Marie ins Gerede und treibt Stolzius zur Verzweiflung. Nach einiger Zeit wird dem Baron, der natürlich nie daran gedacht hat, mit einer nicht standesgemäßen Partnerin die Ehe einzugehen, das Verhältnis lästig, und er macht sich davon. Wesener, der ihn immer noch als künftigen Schwiegersohn betrachtet, bezahlt die hohen Schulden, die Desportes hinterlassen hat, und gefährdet dadurch seine eigene Existenz (III 3, Lenz 1992, 202–206).
Die verlassene Marie bandelt mit einem Offizierskameraden ihres Verehrers namens Mary an (III 6, Lenz 1992, 208–210). Der ist aufrichtig in sie verliebt und wäre auch bereit, sie zu heiraten, obwohl er dann wegen des Eheverbots für Soldaten wohl den Dienst quittieren müsste (woraus man zweifellos schließen soll, dass Desportes sie noch nicht verführt hat, denn wenn Mary sie nicht für ein „honettes Mädchen“ hielte, käme sie für ihn als Ehefrau kaum infrage). Weil aber Marie auch mit einem jungen Grafen flirtet (zunächst nur, um Mary eifersüchtig zu machen), verliert der Offizier das Interesse an ihr (vgl. V 3, Lenz 1992, 229–230). Dabei bombardiert sie Desportes, der sich unterdessen bei seinen Eltern in Philippeville aufhält, immer noch mit Briefen – sehr zu seinem Missvergnügen, denn wenn sein Vater einen davon abfinge und so von dieser Liebschaft erführe, wäre der Teufel los. Schließlich will Marie gar zu Desportes nach Philippeville kommen; er beschließt daraufhin, sie seinem Jäger auszuliefern, der sie verführen oder vergewaltigen und damit mundtot machen soll (V, 3, Lenz 1992, 229–230), aber wenn man Marie glauben darf, hat sie sich davor gerade noch retten können (V 5, erste Fassung, Lenz 1992, 235).
Details
- Seiten
- 312
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631765166
- ISBN (ePUB)
- 9783631765173
- ISBN (MOBI)
- 9783631765180
- ISBN (Hardcover)
- 9783631765197
- DOI
- 10.3726/b14547
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Februar)
- Schlagworte
- Korrespondenz der Künste Literatur-Musik-Beziehungen Wort-Ton-Verhältnis Komparatistik Vergleichende Literaturwissenschaft
- Erschienen
- Berlin, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2019. 312 S., 1 s/w Abb.