Lade Inhalt...

«Bandes dessinées» im Fremdsprachenunterricht Französisch

Annäherung an eine empirisch fundierte Teilbereichsdidaktik

von Nancy Morys (Autor:in)
©2018 Dissertation 384 Seiten

Zusammenfassung

«Bandes dessinées» (BD) und ihre didaktisch-methodischen Einsatzmöglichkeiten im Fremdsprachenunterricht Französisch sind bisher empirisch nicht erforscht. In dieser Studie wurden didaktische Veröffentlichungen, Lehrpläne, Lehrwerke sowie Erfahrungen von Lehrenden und Lernenden bei der BD-Arbeit anhand von qualitativen Forschungsmethoden untersucht und verglichen. Die komparatistisch gewonnenen Aussagen zu Zielen, Inhalten und Methoden der BD-Arbeit zeigen die vielfältigen Lernpotentiale von BD in unterschiedlichen Kompetenzbereichen, verdeutlichen jedoch auch grundlegende Widersprüche und Leerstellen in bisherigen Materialien, Publikationen und Lehrplänen. Die Ergebnisse bilden die Grundlage für eine empirisch fundierte BD-Didaktik und weisen konkrete Wege für die Unterrichtsentwicklung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • I. Einleitung
  • 1. Ausgangslage
  • 2. Gegenstand und Ziele der Forschungsarbeit
  • 3. Methodologischer Zugang und Forschungsfragestellungen
  • 4. Gliederung der Arbeit
  • II. Stand der Forschung und wissenschaftliche Grundlagen zur Gattung bande dessinée (BD)
  • 1. Begriffsbestimmung bande dessinée
  • 2. Rezeptionswandel und Stand der BD-Forschung
  • 3. Etablierung der Gattung BD als Unterrichtsgegenstand im Fremdsprachenunterricht Französisch
  • 4. Didaktischer Forschungs- und Reflexionsstand zum Einsatz von BD im Fremdsprachenunterricht Französisch
  • 5. Exkurs: BD-didaktischer Forschungsstand aus frankophoner Perspektive
  • 6. Zusammenfassung
  • III. Forschungsmethodik
  • 1. Problemstellung, Ziele des Forschungsprojekts und Forschungsfragen
  • 2. Forschungsmethodologische Grundlagen
  • 2.1 Erhebung der Didaktik-Perspektiven durch Triangulation
  • 2.2 Grundlagenforschung und qualitativer Zugang
  • 2.3 Empirisch fundierte und gegenstandsbezogene Theoriebildung
  • 2.4 Rekonstruktion von Perspektiven und Experten-/Erfahrungswissen
  • 2.5 Reflexion der eigenen Rolle im Forschungsprozess und zeitliche Organisation
  • 3. Methodik zur Analyse der präskriptiv-konzeptionellen Perspektiven des BD-Einsatzes
  • 3.1 Analyse von französischdidaktischen Veröffentlichungen
  • 3.2 Analyse von bildungspolitischen Dokumenten
  • 3.3 Analyse von Lehrwerkreihen
  • 4. Methodik zur Erhebung, Aufbereitung und Analyse der Lehr- und Lernperspektive
  • 4.1 Erhebungskontext: das Projekt Francomics
  • 4.2 Fragebogenstudie mit Französischlehrenden
  • 4.3 Leitfadengestützte Experteninterviews mit Französischlehrenden und Qualitative Inhaltsanalyse
  • 4.4 Fragebogenstudie mit Schülerinnen und Schülern
  • 4.5 Dokumentenanalyse von Klassenprodukten
  • 5. Methodik des Perspektivenvergleichs
  • 6. Maßnahmen zur Qualitätssicherung
  • IV. Analyseergebnisse I: Präskriptiv-konzeptionelle Perspektiven auf den Einsatz von bandes dessinées im Französischunterricht
  • 1. BD in didaktischen Veröffentlichungen für das Fach Französisch
  • 1.1 Begründungen für den Einsatz von BD
  • 1.2 BD-Auswahl und inhaltlich-thematische Schwerpunktsetzungen
  • 1.3 Ziele und Kompetenzförderung mit BD
  • 1.3.1 Ziele im Bereich der gattungsspezifischen Texterschließung
  • 1.3.2 Ziele im Bereich der Spracharbeit
  • 1.3.3 Ziele im Bereich des landeskundlichen bzw. (inter-)kulturellen Lernens
  • 1.4 Methoden, Aufgabenstellungen und Materialien für die BD-Arbeit
  • 1.5 Zusammenfassung
  • 2. BD in bildungspolitischen Dokumenten zum Fach Französisch
  • 2.1 Stellenwert von BD in Lehrplänen
  • 2.2 Funktionen von BD in Lehrplänen
  • 2.2.1 Textsortenvielfalt und Umgang mit authentischen Texten und Medien
  • 2.2.2 Förderung von Leseverstehen und Texterschließungsstrategien
  • 2.2.3 Förderung literarisch-ästhetischer Kompetenzen
  • 2.2.4 Interkulturelles und landeskundliches Lernen
  • 2.2.5 Mündliche, schriftliche und künstlerische Produktion
  • 2.3 Zusammenfassung
  • 3. BD in Französischlehrwerken
  • 3.1 Auswahl von BD-Ausschnitten in den untersuchten Lehrwerken
  • 3.2 Didaktische Aufbereitung der BD-Ausschnitte in den Lehrwerken
  • 3.3 BD in Oberstufen-Lehrwerken
  • 3.4 Entwicklungen in neuen Lehrwerkreihen für die Sekundarstufe I
  • 3.5 Zusammenfassung
  • V. Analyseergebnisse II: Lehr- und Lernperspektive auf den Einsatz von bandes dessinées im Französischunterricht
  • 1. Die Perspektive von Lehrenden auf BD
  • 1.1 Vorerfahrungen der Lehrenden mit BD (Ergebnisse aus den Fragebögen)
  • 1.2 Erfahrungen der Lehrenden im Projekt Francomics (Ergebnisse aus den Experteninterviews)
  • 1.2.1 Unterrichtsorganisation und Lernprozesse
  • 1.2.2 Motivationale und affektive Faktoren
  • 1.2.3 Bildgestützte Leseprozesse
  • 1.2.4 Literarisch-ästhetische Arbeit
  • 1.2.5 Spracharbeit
  • 1.2.6 Interkulturelles Lern- und Erfahrungspotential
  • 1.3 Zusammenfassung
  • 2. Die Perspektive von Schülerinnen und Schülern auf BD
  • 2.1 Individuelle Sichtweisen, Einstellungen und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler (Ergebnisse aus der Fragebogenstudie)
  • 2.1.1 Vorerfahrungen und Lesegewohnheiten
  • 2.1.2 Sichtweisen auf die Projekt-BD
  • 2.1.3 Lese- und Lernerfahrungen während des Projekts
  • 2.2 Lernergebnisse und Sichtweisen der Schülerinnen und Schüler in den Klassenprodukten
  • 2.2.1 Lernergebnisse und Sichtweisen auf der Ebene der BD-Handlung
  • 2.2.2 Lernergebnisse und Sichtweisen auf der literarischen Ebene
  • 2.2.3 Lernergebnisse und Sichtweisen auf der visuell-ästhetischen Ebene
  • 2.2.4 Lernergebnisse und Sichtweisen auf der sprachlichen Ebene
  • 2.3 Zusammenfassung
  • VI. Zusammenfassung, Vergleich und Interpretation der Analyseergebnisse
  • 1. Didaktische Potentiale von BD und gattungsspezifische Möglichkeiten der Kompetenzförderung
  • 1.1 Lese-Seh-Verstehen
  • 1.2 Visuell-ästhetische Bildung
  • 1.3 Literarisches Lernen
  • 1.4 Kulturelles und landeskundliches Lernen
  • 1.5 BD-spezifische Spracharbeit
  • 2. Annahmen und Gattungsvorstellungen als BD-didaktische Herausforderung
  • 2.1 Angenommene Vertrautheit von Schülerinnen und Schülern mit BD
  • 2.2 Angenommener Unterhaltungswert und Motivationsfaktor von BD
  • 2.3 Divergierende Bewertung des Bildungsgehalts von BD
  • 2.4 Divergierende Bewertung eines altersspezifischen BD-Einsatzes
  • 2.5 BD als Unterrichtsgegenstand versus BD als Medium
  • 2.6 Divergierende Bewertung der Komplexität von BD
  • 3. Zusammenfassung
  • VII. Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen für eine empirisch fundierte Teilbereichsdidaktik zur Gattung bande dessinée
  • 1. Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen auf didaktisch-methodischer Ebene
  • 1.1 Reflexion von Gattungsvorstellungen
  • 1.2 BD-Auswahl
  • 1.3 Didaktisierung von BD-Ganzschriften
  • 1.4 „Ganzheitliche“ Unterrichtsarbeit mit BD
  • 1.5 Arbeit mit der Bildebene
  • 1.6 BD als Kulturgut und Bildungsinhalt
  • 1.7 Unterrichtsmethodik
  • 2. Schlussfolgerungen auf forschungsmethodologischer Ebene
  • 2.1 Einfluss des Forschungsdesigns auf Geltungsbereich und Reichweite der Ergebnisse
  • 2.1.1 Einfluss der Projektbedingungen von Francomics auf die Unterrichtsarbeit und die Forschungsergebnisse
  • 2.1.2 Qualitativer Forschungsansatz
  • 2.1.3 Triangulation von Daten, Perspektiven und Methoden
  • 2.1.4 Auswahl der Erhebungs- und Analysemethoden
  • 2.1.5 Zum Verhältnis von Theorie und Empirie bei der empirisch begründeten Theoriebildung
  • 2.2 Bewertung der Forschungsergebnisse und der zu generierenden Teilbereichsdidaktik
  • 2.3 Mögliche Folgestudien und weiterführende Forschungsfragestellungen
  • VIII. Literatur- und Quellenverzeichnis
  • 1. Literatur
  • 2. Quellenverzeichnis der analysierten Lehrpläne
  • 3. Quellenverzeichnis der analysierten Lehrwerke
  • IX. Anhang
  • 1. Abbildungsverzeichnis
  • 2. Tabellenverzeichnis
  • 3. Anschreiben zur Lehrerbefragung
  • 4. Fragebogen für Französischlehrkräfte im Projekt „Francomics“
  • 5. Leitfaden für die qualitativen Experteninterviews mit Französischlehrenden
  • 6. Schülerfragebogen zum Projekt „Francomics“
  • 7. Danksagung
  • Reihenübersicht

← 10 | 11 →

I.   Einleitung

1.   Ausgangslage

Der Französischunterricht in Deutschland befindet sich seit einigen Jahren in einer Krise (vgl. Caspari 2008, Leupold 2002a). Das Fach wird, auch aufgrund der Konkurrenz des Spanischen, von immer weniger Schülerinnen und Schülern gewählt bzw. in der gymnasialen Oberstufe abgewählt. Laut Leupold zeigten

[n]icht allein der Blick hinter die Klassentür, sondern gerade auch die Entwicklung der Schülerzahlen […], dass das Fach insgesamt – regional und vor Ort unterschiedlich stark ausgeprägt – Probleme hat, Schüler […] für das Erlernen der französischen Sprache zu interessieren. (Leupold 2002a: 17)

Untersuchungen zufolge sind die häufigsten Gründe für die Abwahl des Faches am Ende der Sekundarstufe I und für die beständig abnehmende Schülermotivation „die schlechten Zensuren, der hohe Schwierigkeitsgrad des Faches und Kritik an der Unterrichtsgestaltung“ (Caspari 2008: 22, vgl. auch Bittner 2003, Wernsing 2000). Es ist anzunehmen, dass die Unterrichtsgestaltung des Französischunterrichts häufig „traditionell“ bleibt, einer starken Fixierung auf das Lehrwerk unterliegt sowie auf schriftsprachliche Fertigkeitsbereiche ohne kommunikative Ausrichtung reduziert bleibt (vgl. z.B. Tesch 2010).

Wie es jedoch tatsächlich hinter den Klassenzimmertüren aussieht, ist bislang wenig erforscht. Es gibt aktuell nur verhältnismäßig wenige Forschungsarbeiten, welche die Unterrichtsrealität, den „Ist-Zustand“ des Fachs Französisch und fremdsprachliche Lehr-Lern-Prozesse empirisch beleuchten. In den letzten Jahrzehnten waren in der deutschsprachigen Französischdidaktik überwiegend theoretisch-konzeptionelle Arbeiten verbreitet, auch wenn sich seit der empirischen Wende ein Wandel im Wissenschaftsverständnis der Disziplin abzeichnet (vgl. Bonnet 2012: 286, Caspari 2011: 42, Hallet/Königs 2010b: 11, Reusser 2008: 222). Leupold merkt an, dass konzeptionelle und normativ orientierte didaktische Entwürfe „von Praktikern zu Recht oder zu Unrecht als zu theoretisch und praxisfern empfunden“ würden (Leupold 2002a: 27). Er kritisiert, dass „Forschungsbeiträge in Fachzeitschriften und auf Tagungen, die in bewusster Abstraktion oder (un)bewusster Unkenntnis der Unterrichtsrealität fachdidaktische Erkenntnisse präsentieren, nicht geeignet sind, die Aufmerksamkeit und das Interesse der Unterrichtenden auf sich zu ziehen“ (ebd.: 42). Bisher liegen zumindest für den Französischunterricht keine Erkenntnisse darüber vor, wie theoretisch-konzeptionelle Vorschläge in der schulischen Unterrichtspraxis aufgegriffen und umgesetzt werden. ← 11 | 12 →

Die mangelnde empirische Ausrichtung der (Fremdsprachen-)Didaktik und die damit einhergehende Theorie-Praxis-Problematik werden in der Literatur u.a. mit der Wissenschaftstradition der Fachdidaktiken bzw. der Allgemeinen Didaktik erklärt: Bohl und Kleinknecht (2009: 145) sehen die Theorie-Praxis-Problematik u.a. im Wissenschaftsverständnis der (Allgemeinen) Didaktik als angewandter Wissenschaft begründet, die als „Theorie des Unterrichts und als Ausbildungswissenschaft im Rahmen der Lehrerbildung“ eine „Doppelfunktion“ innehabe (Bohl/Kleinknecht 2009: 148):

Der wissenschaftliche Anspruch ist dabei einerseits, die Bedingungen und Faktoren unterrichtlichen Denkens und Handelns zu beschreiben, zu analysieren und zu bewerten, andererseits erarbeitet die Didaktik auch Vor- und Ratschläge, um Unterricht zu planen, durchzuführen und zu reflektieren […]. (Bohl/Kleinknecht 2009: 148)

In der geisteswissenschaftlichen Tradition der Erziehungswissenschaft habe man laut Reusser „dem Verständnis von Didaktik als normativ geprägter Reflexion von Bildungsinhalten und Lehrplanentscheidungen Priorität eingeräumt gegenüber einem Verständnis, das sich auf die Analyse von Methoden, Formen, Lehr-Lern- und Steuerungsprozessen des Unterrichts bezieht“ (Reusser 2008: 219 f.). Didaktische Modelle wie z.B. die Bildungstheoretische Didaktik (Klafki 1958), die Lerntheoretische Didaktik (Heimann/Otto/Schulz 1965)1 oder der Kommunikative Ansatz (Winkel 1997) hätten „über lange Zeit eine Monopolstellung“ eingenommen (Reusser 2008: 220).

Auch für die Fachdidaktiken begründen Prediger/Link (2012) das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis mit der Wissenschaftstradition der Disziplinen. Sie sehen dabei die deskriptive Grundlagenforschung und die praxisnahe Entwicklungsarbeit als unverbunden nebeneinanderstehende Pole eines Spektrums wissenschaftlicher Zugänge „mit unterschiedlich starker empirischer und theoretischer Absicherung“:

Während das eine Ende des Spektrums schwerpunktmäßig auf das Analysieren und Verstehen von Lehr-Lern-Prozessen und ihren Bedingungskonstellationen ausgerichtet ist, steht am anderen Ende des Spektrums das Gestalten und Verändern von Lehr-Lern-Prozessen im Vordergrund […]. Beide Pole stehen oft unverbunden nebeneinander, obwohl sie eigentlich verbunden werden sollten […]. (Prediger/Link 2012: 29, Hervorhebungen im Original) ← 12 | 13 →

Auch die Fremdsprachendidaktik wird von Decke-Cornill/Küster (2010: 3 f.) als „analytische“, „normative“ und „operative Disziplin“ gleichermaßen definiert, wobei die Autoren insbesondere für die normativen Bestandteile der Disziplin die Frage nach der Wissenschaftlichkeit aufwerfen:

Didaktik ist aber auch eine normative Disziplin. Sie fragt nicht nur: Was geschieht in Schule und Unterricht und wie lässt sich das erklären?, sondern sie fragt auch: Was sollte in der Schule und im Unterricht geschehen? Obwohl dieser Dimension des Sollens gelegentlich die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wird, weil nicht faktisch, positiv, objektiv bewiesen werden kann, dass etwas so oder so gemacht werden soll, ist sie doch wichtiger Bestandteil der Didaktik, wie im Übrigen auch anderer Wissenschaften, etwa Jura oder Medizin. Wissenschaftlichkeit kann Didaktik auf dieser Ebene aber nur beanspruchen, wenn die Grundlagen des Sollens, also die normativen Setzungen, offen gelegt und begründet werden, sich also nicht in Behauptungen und Vorschriften erschöpfen. (Decke-Cornill/Küster 2010: 3 f., Hervorhebung im Original)

Offen bleibt bei Decke-Cornill/Küster an dieser Stelle allerdings, auf welche Weise „die Grundlagen des Sollens, also die normativen Setzungen, offen gelegt und begründet werden“ können und wie die normativen Bereiche der Fremdsprachendidaktik wissenschaftlich fundiert werden können. Es stellt sich also nicht nur die Frage, wie didaktische Erkenntnisse erfolgreich in der Unterrichtspraxis implementiert werden können, sondern v.a. auch, wie fachdidaktische Theoriebildung realisiert werden kann, um gleichermaßen theoretisch fundiert und praxistauglich zu sein.

Insbesondere im allgemeindidaktischen Diskurs wird der Mangel an empirischen Erkenntnissen über Lehr-Lern-Prozesse deutlich kritisiert. Der „Bedeutungsabbau“ der Disziplin wird „auf den fast völligen Verzicht auf eigene empirisch-analytische Untersuchungen des didaktischen Geschehens“ zurückgeführt (Peterßen 2012: 713). Allgemeindidaktische Theorien, Modelle und Konzepte zeichneten sich durch eine „geringe empirische Fundierung bzw. Rückkopplung“ aus, die Didaktik habe es „verpasst, ihre Erkenntnisse systematisch aus der Unterrichtswirklichkeit zu entwickeln und/oder sie einer Realitätsprüfung zu unterziehen“ (Bohl/Kleinknecht 2009: 145). Um „Ansatzpunkte für eine empirisch-didaktische Theoriebildung“ auszuloten, plädieren Bohl/Kleinknecht daher „für eine angemessene Verbindung von Allgemeiner Didaktik und empirischer Unterrichtsforschung sowie eine ausgeprägtere eigenständige empirische Forschungsleistung“ (ebd.: 145 f.).

In den fachdidaktischen Disziplinen habe sich im Vergleich zur Allgemeinen Didaktik bereits ein Wandel vollzogen. Viele Fachdidaktiken seien „in ihrem Selbstverständnis erstarkt“, orientierten sich „immer weniger an traditionellen Didaktikmodellen“, sondern suchten „den Anschluss an die empirische Bildungs- und Lernforschung“ (Reusser 2008: 222). In der Fremdsprachendidaktik spiegle ← 13 | 14 → sich diese Entwicklung u.a. in der Verwendung des Begriffs „Fremdsprachenforschung“ (Bonnet 2012: 286) bzw. „Fremdsprachenlehr- und -lernforschung“2 wider. Diese befinde „sich auf dem Weg von einer vornehmlich normativen und deutlich philologisch-geisteswissenschaftlich geprägten zu einer immer stärker empirisch arbeitenden Disziplin“ (Bonnet 2012: 286):

Bis in die 1970er Jahre kann die Fremdsprachendidaktik als eine überwiegend aus der Praxis erwachsene Rezeptologie verstanden werden. Einsichten in fremdsprachliches Lehren und Lernen basierten zu erheblichen Anteilen auf begründbarem und durchaus plausiblem Erfahrungswissen, das jedoch wenig oder gar nicht empirisch basiert war. (Hallet/Königs 2010b: 11)
Während in der deutschsprachigen Fachdidaktik lange Zeit neben historischen vor allem theoretisch-konzeptionelle Arbeiten dominierten, kommt spätestens seit den 1970er Jahren der Erforschung der Praxis des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen eine ständig wachsende Bedeutung zu. (Caspari 2011: 42)

Die wachsende Bedeutung der Erforschung der Praxis lässt sich in der gestiegenen Anzahl empirischer Studien in einzelnen Bereichen der Fremdsprachendidaktik ablesen. In den letzten Jahren sind – v.a. in Form von Dissertationen oder Habilitationen – zahlreiche und relevante Forschungsarbeiten erschienen.3 Dennoch lässt sich für viele Teilbereiche der Fremdsprachen- bzw. Französischdidaktik – so auch für den Teilbereich der BD-Didaktik – nach wie vor ein Mangel an empirischer Fundierung feststellen. Wie in Kapitel II.4 gezeigt werden wird, sind die didaktischen Veröffentlichungen zum Einsatz von BD im Fremdsprachenunterricht Französisch, die bisher in Form von Zeitschriftenbeiträgen, Lehrerhandreichungen oder Kapiteln in Handbüchern und Fachdidaktiken erschienen sind, primär normativer bzw. theoretisch-konzeptioneller4 Natur. Derzeit gibt es in der fachdidaktischen Forschung keinen empirisch gesicherten Forschungsstand ← 14 | 15 → zum BD-Einsatz in Form von Studien, welche beispielsweise die Unterrichtserfahrungen von Lehrenden und Lernenden oder ihre subjektiven Sichtweisen auf die Gattung berücksichtigen.

Diese Forschungslücken können – neben den oben von Caspari (2008) erwähnten Herausforderungen des Fachs – als eine weitere Ursache für die verzögerte Modernisierung des Französischunterrichts angesehen werden. Es ist davon auszugehen, dass normative und rein konzeptionell gehaltene Ansätze, welche die Erfahrungen und Sichtweisen von Lehrenden und Lernenden nicht ausreichend einbeziehen, in der Praxis nicht unmittelbar umsetzbar sind. Forschungsarbeiten hingegen, welche den „Ist-Zustand“ der Unterrichtspraxis, „good-practice“-Modelle oder die subjektiven Sichtweisen der an Unterricht beteiligten Akteure erheben, können die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis verringern und zu einer Weiterentwicklung erfolgreicher Praxismodelle beitragen:

Eine fundierte Entwicklungsarbeit kommt dabei nicht ohne Forschung aus, denn sie basiert auf einer stetig weiter auszudifferenzierenden Theorie und auf stets auszuweitenden empirischen Erkenntnissen über die initiierten Lehr-Lern-Prozesse. (Prediger/Link 2012: 29)

Der vorliegenden Forschungsarbeit liegt die Annahme zugrunde, dass erfolgreiche Praxisarbeit der fachdidaktischen Theorieentwicklung vorausgeht. Leupold bezeichnet „Kollegen, die in der Praxis mit hohem persönlichen Engagement die französische Sprache sowie die Kultur Frankreichs und der frankophonen Länder erfolgreich zum motivierenden Thema des Unterrichts machen“, als „Quelle für Innovationsprozesse“ (Leupold 2002a: 26 f.). Seiner Ansicht nach haben „markante Veränderungen in der Unterrichtspraxis“ ihren Ursprung in der Unterrichtspraxis selbst und seien „nicht primär als Folge fachdidaktischer Erörterungen anzusehen“ (ebd.). Die Erfahrungen von Lehrenden in der Unterrichtspraxis seien zugleich „eine wichtige Rückmeldung, aus der neue Forschungsanliegen hervorgehen können“ (ebd.). Ein „Dialog zwischen Praxis und Wissenschaft“ erweise sich deshalb für die Entwicklung innovativer Konzepte als „unverzichtbar“ (ebd.). Empirische Forschung ermögliche es insofern stärker als rein theoretisch-konzeptionelle Ansätze, Fragestellungen aus der Praxis aufzugreifen und Forschungsergebnisse für die Praxisentwicklung nutzbar zu machen:

Empirische Unterrichtsforschung ist also Forschung aus der Praxis und für die Praxis, indem Impulse, Probleme und Fragestellungen der Praxis aufgegriffen werden und Forschungsergebnisse neben dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn auch immer die ← 15 | 16 → Aufgabe haben, als Impulse in die Praxis zurückzufließen. (Riemer 2010: 359, Hervorhebungen im Original)

Die am Unterricht beteiligten Akteure – v.a. Lehrende und Lernende, aber auch LehrerfortbilderInnen oder VerfasserInnen von bildungspolitischen Dokumenten und Lernmaterialien – verfügen dabei über Experten- und Erfahrungswissen, subjektive Sichtweisen und Einstellungen sowie Alltagstheorien zu den jeweiligen Unterrichtsgegenständen, -zielen und -verfahren, welche für die fachdidaktische Theoriebildung genutzt werden können. Die Perspektiven und subjektiven Sichtweisen5 insbesondere von Lehrenden und Lernenden sind in der qualitativen Forschung seit den 1970er Jahre ins Zentrum des didaktischen Interesses gerückt (vgl. Doff/Klippel 2007: 222), da sie in besonderer Weise Aufschluss über unterrichtliche Lehr- und Lernprozesse geben und „zu einer auf Empirie basierenden vorsichtigen Veränderung der bestehenden Praxis des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen genutzt werden“ können (Schmelter 1999: 3). Anliegen der vorliegenden Forschungsarbeit ist es, diese subjektiven Sichtweisen für eine praxisorientierte, gegenstandsbezogene und datengeleitete Theoriebildung im Teilbereich der BD-Didaktik zu nutzen.

2.   Gegenstand und Ziele der Forschungsarbeit

Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Forschungsarbeit ist die Gattung BD als Unterrichtsgegenstand im schulischen Fremdsprachenunterricht Französisch und ihre didaktisch-methodischen Einsatzmöglichkeiten. Exemplarisch an diesem Gegenstand sollen in dieser Arbeit Grundlagen einer empirisch fundierten „Teilbereichsdidaktik“ (Leupold 2002a: 42, vgl. Kapitel III.1) generiert werden.

Die Entscheidung für die Gattung BD kann zunächst mit ihrer besonderen Stellung in frankophonen Ländern begründet werden. Ihre kulturelle Bedeutung, ihre spezifischen frankophonen Ausprägungen und ihre besonderen visuellen, ästhetischen, literarischen, sprachlichen und inhaltlichen Gattungseigenschaften scheinen sie für den Französischunterricht – auch im Vergleich zu anderen authentischen Gattungen bzw. Textsorten – zu prädestinieren. In der Tat lässt sich ← 16 | 17 → nachweisen, dass sich die Gattung, welche seit den 1970er Jahren einen Rezeptionswandel von der „Schundliteratur“ zur neuvième art durchlaufen hat (Kapitel II.2), seit Mitte der 1990er Jahre als Unterrichtsgegenstand im Französischunterricht etablieren konnte (Kapitel II.3). BD spielen in didaktischen Veröffentlichungen, Unterrichtsvorschlägen und Lehrerhandreichungen, in bildungspolitischen Dokumenten sowie in Lehrwerken und Materialangeboten kommerzieller Schulbuchverlage eine bedeutende Rolle (Kapitel II.3, II.4, IV), was den Schluss nahelegt, dass sie im Französischunterricht regelmäßig und mit unterschiedlichen Zielsetzungen zum Einsatz kommen. Doch welche Rolle die Gattung im schulischen Französischunterricht tatsächlich spielt, bleibt unklar.

Der didaktisch-methodische Einsatz der Gattung BD als Unterrichtsgegenstand im Französischunterricht ist bisher empirisch nicht erforscht. Zwar lassen sich in didaktischen Veröffentlichungen seit den 1970er Jahren (vgl. z.B. Barrera-Vidal 1973), verstärkt seit Mitte der 1990er Jahre (vgl. u.a. Boiron 1996, Kohl 2005a, Lange 2014, Vignaud 2009a) konzeptionell ausgerichtete Unterrichtsvorschläge und didaktische Reflexionen für den Französischunterricht finden (Kapitel II.3, II.4). Offen bleibt jedoch, inwieweit die vorhandenen Vorschläge der konzeptionellen Didaktik von den Lehrenden aufgegriffen werden, welche Ziele Lehrende mit dem Einsatz der Gattung verbinden, welchen Einfluss BD auf die (Sprach-)Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern haben und welche Erfahrungen Lehrende und Lernende bei der BD-Arbeit machen.

Ein Blick auf die Forschungslage verdeutlicht, dass v.a. in der literaturwissenschaftlichen Forschung zum Thema BD bzw. Comic grundlegende Arbeiten geleistet wurden, die für fremdsprachendidaktische Studien eine Basis darstellen (vgl. u.a. Filippini 2005, Groensteen 1999, Hein 2002, LaCroix 1992, Masson 1985, McCloud 2001, Paillarse 1989, Kapitel II.2). Aus fremdsprachendidaktischer Perspektive stellen BD dagegen ein weitgehend unerforschtes Gebiet dar.

Ziel der vorliegenden Studie soll es deshalb sein, die bisher erschienenen Veröffentlichungen zum BD-Einsatz im Französischunterricht sowie die vorhandenen Vorstellungen, Theorien und Praktiken unterschiedlicher Akteure der Unterrichtspraxis in einer Art „Inventur“ bzw. Bestandsaufnahme zu erheben, zu systematisieren und zu einer empirisch fundierten Teilbereichsdidaktik auszubauen. Durch die Rekonstruktion und den Vergleich der unterschiedlichen Perspektiven der intendierenden, reflektierenden und praktizierenden Didaktik (vgl. Demantowsky 2004: 125 f., Kapitel III.1) auf den BD-Einsatz sollen Gemeinsamkeiten, gegenseitige Ergänzungen oder Bestätigungen, Unterschiede, Leerstellen und Widersprüche herausgearbeitet werden, um hieraus datengeleitet didaktische Schlussfolgerungen für den Einsatz von BD im Fremdsprachenunterricht Französisch ziehen zu können. ← 17 | 18 →

Über diese Zielsetzung auf didaktisch-methodischer Ebene hinaus soll das in dieser Arbeit erprobte Forschungsdesign bei der Generierung der empirisch fundierten Teilbereichsdidaktik auf forschungsmethodologischer Ebene reflektiert und für Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine qualitativ-empirisch fundierte Theoriebildung im Bereich der Fremdsprachendidaktik genutzt werden (Kapitel III.1).

3.   Methodologischer Zugang und Forschungsfragestellungen

Die Generierung der BD-Teilbereichsdidaktik erfolgt in dieser Arbeit empirisch fundiert und gegenstandsbezogen anhand eines qualitativen Forschungszugangs. Es sollen die Perspektiven, Sichtweisen und Erfahrungen der am Lehr-Lern- Prozess beteiligten Akteure erhoben, analysiert, miteinander verglichen und systematisiert werden.

Zu den Perspektiven und Faktoren, welche den Einsatz von BD im Unterricht bestimmen und die reflektierende, intendierende und praktizierende Didaktik umfassen (Kapitel III.1), gehören didaktische Veröffentlichungen zum BD-Einsatz, bildungspolitische Dokumente, Lehrwerkreihen (Kapitel III.3) sowie die Perspektiven von Lehrenden und Lernenden, welche im Kontext des Fremdsprachenprojekts Francomics erhoben wurden (Kapitel III.4, Abbildung 2).

Die fünf genannten Perspektiven auf den Unterrichtsgegenstand BD werden mit unterschiedlichen qualitativen Methoden (Fragebogen- und Interviewstudien, qualitative Inhaltsanalysen, Dokumentenanalysen) erhoben, zunächst einzeln analysiert (Kapitel IV, V) und miteinander verglichen (Kapitel VI). Ziel des Perspektivenvergleichs ist es, zu einer Verschränkung und Verdichtung der Forschungsergebnisse zu gelangen und die spezifischen Einsatzmöglichkeiten der Gattung BD multiperspektivisch zu erforschen (Kapitel III.5).

Die Datenanalyse wird von folgenden übergeordneten Forschungsfragestellungen geleitet, welche in den einzelnen Kapiteln zur Forschungsmethodik (Kapitel III.3, III.4) um weitere Analysefragestellungen ausdifferenziert werden:

Welche subjektiven Sichtweisen, Vorstellungen und Annahmen zu Zielen, Inhalten und Methoden des BD-Einsatzes im Französischunterricht lassen sich in den unterschiedlichen Perspektiven ausmachen?

Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Leerstellen und Widersprüche in den Sichtweisen auf den Untersuchungsgegenstand sind durch den Vergleich der unterschiedlichen Perspektiven erkennbar?

Welche allgemeinen Aussagen lassen sich durch den Vergleich der Perspektiven im Hinblick auf eine BD-Didaktik gewinnen? ← 18 | 19 →

4.   Gliederung der Arbeit

Details

Seiten
384
Erscheinungsjahr
2018
ISBN (PDF)
9783631754542
ISBN (ePUB)
9783631754559
ISBN (MOBI)
9783631754566
ISBN (Hardcover)
9783631743690
DOI
10.3726/b13973
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Comic Graphic novel qualitative Studie Fremdsprachenlehr- und Lernforschung Fachdidaktische Theoriebildung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 384 S., 6 farb. Abb., 1 s/w Abb., 4 Tab., 1 Graf.

Biographische Angaben

Nancy Morys (Autor:in)

Zurück

Titel: «Bandes dessinées» im Fremdsprachenunterricht Französisch