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Italien-Polen: Kulturtransfer im europäischen Kontext

von Martin Henzelmann (Band-Herausgeber:in) Christoph Oliver Mayer (Band-Herausgeber:in) Gianluca Olcese (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 296 Seiten

Zusammenfassung

Die kulturgeschichtlichen Beziehungen zwischen Italien und Polen sind vielfältig und werden in ihren unterschiedlichsten Facetten als innereuropäischer Kulturtransfer gedeutet. Die hier versammelten Beiträge zeigen wechselseitige Beziehungen in der Geschichte, der Literatur, der Sprache und verschiedenen Bereichen von Wirtschaft (Bergbau, Porzellan) und Kultur (Kino, Küche, Architektur) auf. Es kommen dabei Expertinnen und Experten aus Italien, Polen und Deutschland zu Wort.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • Italienisch-polnischer Kulturtransfer: Eine Einführung (Christoph Oliver Mayer)
  • Von Italien nach Polen: Aneignung, Bricolage, Transfer
  • Jarosław Iwaszkiewicz e il mito di Re Ruggero II di Sicilia (Dario Prola)
  • Zamość, città ideale (Francesco Galofaro)
  • Formule iterative in una traduzione polacca di Amor de caritate, perché m’ài ssì feruto? di Jacopone da Todi (Magdalena Maria Kubas)
  • Sprachkontaktphänomene im Polnischen unter besonderer Beachtung des Italienischen (Martin Henzelmann)
  • PLIDA – ein Instrumentarium der Società Dante Alighieri für die Italienischlehre in Polen und andernorts (Silvia Giugni)
  • Von Polen nach Italien: Spuren, Traditionen, Bezugnahmen
  • Dall’argilla di Bolesławiec ad Argillà Italia (Marinella Lotti)
  • Arlecchino in Schlesien: ein Gespenst geht um in Europa (Gianluca Olcese)
  • Il canonico Augustyn Lipiński, i suoi viaggi in Italia e gli appunti manoscritti conservati presso la Biblioteca Jagellonica di Cracovia (Luca Palmarini)
  • Polen vs. Italien: Idole, Reibungsflächen, Konkurrenzen
  • Obraz Włocha w kinie polskim, obraz Polaka w kinie włoskim. Kilka przykładów (Adam Kruk)
  • La Polonia e i polacchi nell’opera di Oriana Fallaci (Ewa Tichoniuk-Wawrowicz)
  • Falsi amici italo-polacchi: analisi linguistico-culturale (Marek Dolatowski / Małgorzata Karczewska)
  • Włoskie treści kulturowe w powojennej polskiej satyrze czyli transfer kulturowy w kulturze masowej (Monika Gurgul)
  • Wer hat die Ravioli erfunden? (Paolo Aldo Rossi)
  • Gekreuzte Geschichte und europäische Dynamiken
  • Cavalieri erranti: la ricezione del Lancelot nella decorazione parietale fra Italia e Polonia (Sonia Maura Barillari)
  • Volterra, Halle, Bochnia und Wieliczka: ein Laboratorium der europäischen Industrialisierung? (Carmela Panarello)
  • Il teatro di Augusto III e la fortuna polacca del libretto metastasiano (Jadwiga Miszalska)
  • La corte di Augusto III di Sassonia tra Varsavia e Dresda e la Commedia dell’Arte (1733–1763) (Monika Surma-Gawłowska)
  • Italienisches Dörfchen und Sächsischer Garten (Boris Schwencke)
  • Anhang
  • AutorInnenverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Danksagung

Die im Oktober 2018 in Dresden durchgeführte Tagung zum Thema „Italien-Polen. Kulturtransfer im europäischen Kontext“ konnte durch die großzügige Unterstützung des Instituts für Romanistik und des Bereichs Geistes- und Sozialwissenschaften der Technischen Universität Dresden (aus Mitteln aus dem Zukunftskonzept der Technischen Universität Dresden, finanziert aus der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder) sowie der Società Dante Alighieri (Sede centrale, Rom) realisiert werden. Die vorliegende Publikation konnte dank der zusätzlichen Unterstützung der Società Dante Alighieri finanziert werden, wofür ein besonderer Dank Dottoressa Silvia Giugni gilt, ohne die dieses Projekt niemals umgesetzt hätte werden können.

Unser Dank gilt zudem den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung sowie den Autorinnen und Autoren des vorliegenden Sammelbandes. Besonders bedanken möchten wir uns bei Giovanni Jarre, Christian Lorenz, Marian Krause und Marion Neumann für ihre Unterstützung in der Realisation der Tagung und des vorliegenden Bandes. Ausdrücklich und ganz herzlich möchten wir Eugen Kotte und Karl Braun für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Kulturwissenschaft(en) als interdisziplinäres Projekt danken.

Berlin/Hamburg/Wrocław im Oktober 2019
das Herausgeber-Team

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Christoph Oliver Mayer

Italienisch-polnischer Kulturtransfer:
Eine Einführung

Die vermeintliche Krise Europas ist vor allem eine Krise der Mehrsprachigkeit und der Multikulturalität. Waren die 1970er Jahre noch beseelt von einer Zusammenarbeit der westeuropäischen Staaten auf allen erdenklichen Ebenen (vgl. z.B. die Eurovision im Bereich der Telekommunikation) und konnten diese Allianzen später leichthin auch nach Osteuropa geöffnet werden (vgl. z.B. Europol für die Verbrechensbekämpfung, Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für das Sprachenlernen), so driftet im Zuge der Radikalisierung, der Euroskepsis und des Populismus aktuell gerade das gemeinsame Europa immer weiter auseinander, vermeintlich ausdifferenziert in West [pro Flüchtlinge, pro Liberalismus, pro Minderheitenrechte, pro Heterogenität] und Ost [gegen Flüchtlinge, gegen Freiheitsrechte, gegen Minderheitenrechte, gegen Heterogenität].1 Das zeigt sich sowohl auf den Ebenen bilateraler als auch multilateraler Beziehungen, wenn man etwa an die Diskussion über Flüchtlingskontingente, über den Klimaschutz oder über die LGBTIQ*-Rechte denkt. Der Blick auf das Gemeinsame weicht immer mehr dem Blick auf das Trennende. Die verbindende Historie und das gemeinsame kulturelle Gedächtnis werden oft zweckentfremdet und instrumentalisiert, wenn sie überhaupt noch evoziert werden können. Ein Blick in die Geschichtlichkeit von bilateralen Kulturkontakten zwischen West und Ost, in die transkulturelle Verwobenheit von solchen Beziehungssträngen und über die klassische Hochkultur hinaus, die als Bindeglied heute hinter medial vermittelte und digital überformte populärkulturelle Orientierungen allenthalben noch aufblitzt, sollte daher ein Beitrag sein, den innereuropäischen Dialog aufrechtzuerhalten und am übersichtlichen Beispiel zweier Staaten bzw. Kulturen die gemeinhin in hehren Worten beschworenen und nur selten konkretisierten Verbindungen aufzuzeigen.2

Italien und Polen, die im Weiteren hier anvisiert werden, haben nun auch heute mehr gemeinsam als polnische Haushaltshelferinnen in Italien (eine große Zahl, nämlich ca. 70.000 der insgesamt etwa 96.000 polnischen Staatsbürger im ←9 | 10→Land sind tatsächlich Frauen3) und Pizzerien oder Eisdielen in Polen.4 Auch müssen dafür nicht unbedingt aktuelle Annäherungsversuche von politisch Rechts bemüht werden, die von einer „polnisch-italienischen Achse“ sprechen.5 Die Geschichte der personalen Verflechtungen reicht weit zurück, mindestens jedoch bis zu Bona Sforzas Inthronisierung als polnische Königin (1518).6 Und diese gemeinsame Verbindung kulminierte sicherlich prominent in der Person von Papst Johannes Paul II., dessen polnische Herkunft als Distinktionsvehikel par excellence diente („der polnische Papst“) und den Katholizismus, aber ebenso die Widerständigkeit Polens gegen den Kommunismus untermauerte.7 Freiheitskämpfe des späten 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts sind ohnehin Orte romanisch-slavischer Gleichschritte;8 am hier zu betrachtenden Beispiel Italien-Polen zeigt sich dies jedoch durch die gegenseitigen Referenzen in den jeweiligen Nationalhymnen ganz besonders ausgeprägt und schlichtweg institutionalisiert. Ein Sammelband über die Historie und Gegenwart des Kulturtransfers muss sich also um die neuralgische Zeit um 1800 verorten und wird einerseits Exempel vor dieser Zeit, aus der Epoche der europäischen Hofkultur und ihrer Vernetzungen, und andererseits solche aus der Zeit danach, in der die Nationalstaatsbildung, das Erbe der Weltkriege und der Ost-West-Konflikt ihre trennenden Spuren hinterlassen, diesbezüglich perspektivieren müssen. Somit hätten wir es mit einer Phase einer besonderen Verdichtung im Kulturtransfer zu tun, während die Vor- und Nachgeschichte vor dieser Folie ebenso lesbar wird, wie sie genauso im Sinne eines transkulturellen Denkens einfach bestimmte Fäden herausgreift und betont, ohne die durch die Globalisierung unbestreitbare Existenz von Transkulturalität in Frage zu stellen.9

Wenn Jean-Jacques Rousseau seine politischen Entwürfe und sein in Du Contrat Social ou Principes du Droit Politique (1762) dargelegtes Ideal des ←10 | 11→Gesellschaftsvertrags just an Polen und Korsika, letzteres damals alles andere als eine französische Insel, sondern unbestritten Teil des italienischen Sprach- und Kulturraums, ausprobieren wollte, so rücken das historische Italien und Polen durchaus nahe zusammen. Die beiden von Rousseau entworfenen Verfassungspläne, der Plan de Gouvernement für Korsika (1763)10 und seine Gedanken über die Verfassung Polens (1772)11 verweisen auf Gemeinsamkeiten, wie sie für das 18. Jahrhundert andernfalls überraschen. Pasquale Paoli, der Freiheitskämpfer Korsikas und als solcher ein liberaler Independist avant la lettre, hatte Rousseau als Instanz der französischen Aufklärung und ihrer Freiheitswerte um Hilfe gerufen, wahrscheinlich deshalb, weil Rousseau im Contrat Social Korsika vermeintlich lobt,12 wenn er es als einziges europäisches Land bezeichnet, das seiner Art der Legislatur zu entsprechen scheint.13 In den Considérations sur le gouvernement de Pologne et sur sa Réformation projetée nimmt Rousseau bereits einiges vorweg, was in die frühe Verfassung Polens von 1791 einfließt. Korsika, das ←11 | 12→schon 1755 auf der Consulta von Corte eine Verfassung bekommen hatte und im Zuge der darin kulminierenden Unabhängigkeitsbestrebungen für Genua nicht mehr attraktiv genug erschien und so im Nachgang an Frankreich verkauft wurde, war überdies das erste Land, in dem (wenn auch womöglich versehentlich) das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, da die Verfassung das Wahlrecht für alle ab 25 Jahren, ohne Geschlechtsbeschränkung festschrieb, Korsika es aber 1764 dann de facto auf wenige mächtige Clanchefs einschränkte und so zu einer Oligarchie zurückkehrte.

In Italien (wenn auch ‚nur‘ in Korsika) und in Polen, dessen Verfassung von 1791 mitunter von den Zeitgenossen als modernste Europas gerühmt wurde,14 wird also erstmals das Wahlrecht zumindest ausgedehnt, die Volkssouveränität durchgesetzt und dergestalt eine allgemeine Rechtsgleichheit eingeführt. Angesichts des Katholizismus als de facto Nationalreligion bestand zudem sogar Religionsfreiheit. Die Mitwirkenden an der Umsetzung der polnischen Verfassung wurden folgerichtig in Polen als Freiheitshelden kanonisiert, was das bekannte Bild des Krakauer Historienmalers Jan Matejko (1838–1893) mit dem Titel Die Verfassung vom 3. Mai 1791 (vgl. Abb. 1) feiert:

Abb. 1: Jan Matejko: Die Verfassung vom 3. Mai 1791, Polnisches Nationalmuseum, Quelle: Wikimedia Commons

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Zu den 37 auf diesem Bild auszumachenden Personen,15 die nicht alle genau zu identifizieren sind, gehört auch, eher im Hintergrund und verdeckt, an der Wand stehend, aber die Hände in die Höhe reißend und sich damit doch vordrängend, ein Italiener: Scipione Piàttoli. Dieser gilt als Co-Autor der polnischen Verfassung, ist jedoch im kollektiven Gedächtnis hinter dem im kulturellen Gedächtnis als prominenten Ahnherrn verankerten Stanisław Małachowski mittlerweile verblasst. Aus Modena kommend war der junge Priester (geb. 1749 in Florenz) an den Hof nach Polen-Litauen gelangt, hatte dort erheblich für die Verbreitung der aufklärerischen Ideen gesorgt und sich als Befürworter der konstitutionellen Monarchie in die Politik des Landes eingebracht. Seine Korrespondenz mit Filippo Mazzèi oder Girolamo Lucchesini und sein Kontakt zum Hof von Turin garantierten eine anhaltende Verbindung zur italienischen Aufklärung. Seine diplomatischen Missionen führten ihn nach ganz Europa, wo er stets mit polnischen Emigranten Kontakt hielt. Als vermeintliche Vorlage für Lew Tolstois abbé Morio in Krieg und Frieden ist er bis heute dennoch verewigt.16

1792 war Piàttoli als ein kultureller Mittler par excellence nach Dresden (eben zu polnischen Emigranten) geschickt worden, das als Ort des italienisch-polnischen Kulturtransfers eine wichtige Rolle einnahm. Nachdem im 18. Jahrhundert die sächsischen Kurfürsten ihr Machtstreben durch die polnische Krone realisiert hatten, flossen die Bemühungen um die italianità des sächsischen Hofes mit den Repräsentationsvorstellungen in Warschau zusammen und bildeten eine eigene Form der Hofhaltung heraus. Am dritten Ort, also in der sächsischen Metropole, gingen Traditionslinien der italienischen Hofkunst und der polnischen Dynastie in eine neue Form der Herrschaftsrepräsentation über. Am eindruckvollsten demonstriert dies die Reiterstatue am Dresdner Neustädter Markt, der sogenannte Goldene Reiter, der August den Starken in römisch-cäsarische Motivtraditionen einreiht, aber ihn doch ganz entsprechend den dynastischen Gepflogenheiten der polnischen Herrscherhäuser, auf einem Lipizzaner sitzend und auch tatsächlich nach Polen (in nordöstlicher Himmelsrichtung) gewandt, präsentiert (Abb. 2).17 Steht Italien hier Pate für die rinascimental-barocke Hofkultur und garantiert eine adäquate Repräsentation auf Augenhöhe mit den europäischen Monarchen, so wird Polen zum Sinnbild und Verkörperung ←13 | 14→der aktuellen und zukünftigen Ansprüche des sächsischen Herrscherhauses nach weltpolitischer Geltung, wofür die Vermengung von Eigentradition mit etablierten Prestigemodi eine Voraussetzung darstellte.18

Abb. 2: „Goldener Reiter“ am Neustädter Markt Dresden, Foto: Christian Lorenz

War die Hinrichtung nach Italien und die Ausweitung nach Polen ein geographisch naheliegendes wie historisch okasionelles Spezifikum des Dresdner Hofes, so entsprang die Zusammenarbeit der italienischen und polnischen Freiheitskämpfer im 19. Jahrhundert einem gemeinsamen Bedürfnis, aber auch einer personellen Union. Polnische Gemeinden hatten sich in Italien schon im 16. Jahrhundert, vornehmlich in Rom, gegründet; polnische Intellektuelle wie Nikolaus Kopernikus (egtl. Niklas Koppernigk, poln. Mikołaj Kopernik), Jan Sobieski oder Jan Zamoyski, letzterer Rektor der Universität Padua, waren nicht nur auf Bildungsreise nach Italien gelangt, sondern durch ihr Wirken dort sehr ←14 | 15→präsent. Der Pole Karol Paszkowski (1872–1940) wird mit dem Caffè Concerto in Florenz Ende des 19. Jahrhunderts sogar einen bedeutenden Treffpunkt von Literaten gründen.19 Eindeutigeres Ergebnis eines Kulturtransfers, und wieder angesiedelt in dieser Sattelzeit der bilateralen kulturellen Beziehungen, sind jedoch die Nationalhymnen beider Länder: Die polnische Nationalhymne, 1797 in Italien komponiert, fordert explizit die exilierten polnischen Freiheitskämpfer zur Rückkehr aus Italien nach Polen auf: „Marsch, marsch, Dąbrowski, von Italien nach Polen“; während in der dritten (oft auch: fünften) Strophe der italienischen Hymne von Goffredo Mameli (1847) das blutige Schicksal beider Länder in einer Schicksalsgemeinschaft miteinander parallelisiert wird: „Il sangue d’Italia, il sangue polacco“.20

Die italienische Hymne rekurriert auf den gemeinsamen Feind Österreich, der beiden jungen Nationen, genauso wie die den Polen drohenden Russen als Fremdherrscher als Hindernis im Weg zur Einigung steht. Die polnische Teilung wird hiermit explizit in Erinnerung gerufen und das gemeinsame vergangene Schicksal angeklagt, aber auch die zu erwartende Erlösung in freudiger Voraussicht besungen. In der polnischen Hymne, die heute direkt nach ihrem Freiheitskämpfer Dąbrowski Mazurek Dąbrowskiego genannt wird, aber ursprünglich den Titel „Lied der polnischen Legionen in Italien“ (Pieśń Legionów Polskich we Włoszech) trug, liegt vermutlich auch der (ansonsten nicht direkt eingängige) Ursprung des Bezugs von Mameli auf die Polen. Der Text von Józef Wybicki wurde zum Vorbild für weitere slavische Hymnen (als Lied der Slaven bzw. in Jugoslawien) und ist heute noch, wenn auch mit einigen Änderungen, polnische Nationalhymne.21 Dąbrowski wird aufgefordert, Italien zu verlassen und mit seinen dort versammelten und Napoleon dienenden Legionen nach Polen zu ziehen, um die Knechtschaft zu beenden. Ursprünglich in der Hoffnung, Frankreich würde Polen nach der Zerschlagung wieder auf die politische Landkarte bringen, einte diese Ausrichtung hin zu Napoleon viele polnische und italienische Freiheitskämpfer.

Der Aufklärer Rousseau, der Dresdner Hof und auch das Frankreich Napoleons sind dabei schon Fingerzeige darauf und dorthin, wo Kulturtransfer nicht einfach bilateral oder eindimensional im Dialog verstanden werden kann. Mittlerinstanzen und stetige Verwerfungen, komplexe transkulturelle statt nur rein ←15 | 16→bilaterale interkulturelle Bewegungen weist schon die hier nur angedeutete Historie auf. Gekreuzte Geschichten22 als Beweise für diese natürliche Komplexität lassen sich unzählige finden, darunter ebenso die des Gemäldes, das den Umschlag dieses Bandes ziert: Dosso Dossis Jupiter, Merkur und Tugend (1523/4; Öl auf Leinwand),23 das heute zur Sammlung Lanckoroński auf dem Wawel gehört, also in Krakau zu sehen ist. Wie kommt bzw. kam das Gemälde des italienischen Malers, das auch ab und an unter dem Titel Der Weltenmaler Zeus, Giove pittore di farfalle, Mercurio e la Virtù oder Jupiter, Merkur und Virgo vermerkt ist, jedoch nach Polen?

Eigentlich würde das Bild nämlich in Österreich hängen, denn es wurde erst 2000 nach Krakau wieder verliehen, zumal es ursprünglich aus der Sammlung Lanckoroński stammt, die kurz davor als Schenkung an den polnischen Staat gefallen war. Das entsprechende Bild war aber nach 1939 Teil der Raubkunst geworden und als solche wurde es damals dem polnischen Besitzer, Dr. Anton Graf Lanckoroński, entzogen und beschlagnahmt. Im November 1951 soll das Gemälde dann dem Kunsthistorischen Museum Wien ganz offiziell vom Besitzer übereignet worden zu sein.24 Ursprünglich wird das Gemälde von Dosso Dossi, seines Zeichens Hofmaler am Hofe von Ferrara, um 1524 entstanden sein, im Auftrag des Este-Fürsten Alfonso I. Dass es von dort bereits im 17. Jahrhundert in die venezianische Villa von Ludovico Widmann gelangte, ist wohl dem Aussterben der ferrarerischen Este-Linie geschuldet sowie einem Bilderverkauf, von dem auch später die Dresdner Gemäldegalerie erheblich zehrte.25 Mitte des 19. Jahrhunderts ist Dossis Jupiter, Merkur und Tugend wohl immer noch in Italien, im Hause des Malers Michelangelo Barbini, und wird dann von einem Wiener Kunstsammler, Daniel Penther, gekauft, bevor es von dort wiederum in die polnische Sammlung von Karol Lanckoroński Eingang gefunden hatte.

Angesichts dieser vielgeschichtigen ‚Reise‘, die dieses italienische Bild zwischen Ferrara, Österreich und Polen (und dann erneut nach Österreich und ←16 | 17→wieder nach Polen) hinter sich hat, offenbart sich auch hier eine gekreuzte Geschichte, die europäische Kunstgeschichte in all ihren Dimensionen offeriert. Italien und Polen sind damit, hier im übertragenen Sinn, zwei Protagonisten in der europäischen Geschichte, gerade auch weil die Bildbotschaft und die Provenienzgeschichte zwei ganz unterschiedliche Interessensmotive anbieten.26 Diese unterschiedlichen Fokalisierungen finden sich in nahezu allen Beiträgen dieses Sammelbandes, der dank der disziplinären Bandbreite der Autorinnen und Autoren italienische wie polnische Blickwinkel bietet und die jeweiligen Exempel als Bereicherung eines innereuropäischen Diskurses des Miteinander lesen und gerade auch, aber nicht nur einem deutschen Fachpublikum vorstellen möchte.

Eventuelle Zusammenhänge als Ergebnisse von Kulturtransfer, vielleicht aber manchmal auch nur Gemeinsamkeiten im Sinne eines gemeinsamen transkulturellen Partizipierens an kulturellen Entwicklungen finden sich in zahlreichen Beiträgen. Zuvorderst gilt dies für die auf Mythen und Legenden rekurrierenden Beiträgen von Gianluca Olcese (zur Figur des Arlecchino), Dario Prola (zum Mythos um Roger II. von Sizilien) und Paolo Aldo Rossi (zu den Ravioli). Genauso aber für die kulturhistorischen Beiträge wie die von Marinella Lotti (zur Keramik) und Carmela Panarello (zum Bergbau). Linguistischen Fragestellungen gehen die Aufsätze von Martin Henzelmann und Małgorzata Karczewska / Marek Dolatowski nach, wenn sie sich für Interferenzen und Lehnwörter interessieren, bereichert um den Beitrag von Silvia Giugni, der das Sprachzertifikat PLIDA vorstellt. Das Beispiel Dresden eruieren Boris Schwencke (hinsichtlich der Gartenanlagen), Monika Surma-Gawłowska (bezüglich der Commedia dell’arte) und Jadwiga Miszalska (zur Oper). Literaturhistorisch an den Antipoden setzen einerseits Sonia Maura Barillari (zur Artus-Epik) und Magdalena Maria Kubas (zu Jacopone da Todi), andererseits Ewa Tichoniuk-Wawrowicz (zu Oriana Fallaci) und Adam Kruk (zum Film) an. Schließlich werden uns noch Beispiel für klassische Vermittlungen im Sinne von Reisen (im Beitrag von Luca Palmarini) oder durch Rezeption (bei Monika Gurgul) präsentiert. Die Präsentation der Beiträge erfolgt losgelöst von einer Bewertung der Arten des Kulturtransfers und möchte auch durch die Dreisprachigkeit das Miteinander in einem ←17 | 18→mehrsprachigen Europa fördern, zeigen die unterschiedlichen Artikel auch verschiedene Arten der wissenschaftlichen Annäherung, nationalspezifische wie disziplinäre. Dass sich aber auch hierin die wissenschaftlichen Wege kreuzen, plädiert vielleicht erneut für die Perspektive der gekreuzten Geschichten und wertet die Kreuzungen in Form von Zusammenarbeiten und Austausch auf, seien sie nun temporär oder institutionalisiert.

Literaturverzeichnis:

Alexander, Manfred: Kleine Geschichte Polens. Aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2008.

Baert, Barbara: Aby Warburgs Nymphen und Schmetterlinge als Affekte. In: Anna Pawlak / Lars Zieke / Isabella Augart (Hg.): Ars – Visus – Affectus. Visuelle Kulturen des Affektiven in der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2016, S. 18–37.

Bernardi, Bruno: Der Begriff der Revolution im Werk Jean-Jacques Rousseaus. In: Konstanze Baron / Harald Bluhm (Hg.): Jean Jacques Rousseau. Im Bann der Institutionen. Berlin/Boston 2016, S. 339–368.

Bogucka, Maria: Bona Sforza. Wrocław 2009.

D’Ancona, Alessandro: Scipione Piattoli e la Polonia, con un’appendice di documenti. Firenze 1915.

Davies, Norman: Europe: A History. Oxford 1996.

Eisenmenger, Daniel: Die vergessene Verfassung von Korsika 1755 – Der gescheiterte Versuch einer modernen Nationsbildung. In: GWU 7/8 (2010), S. 430–446.

Jerzy, Petrus / Kuczman, Kazimierz: Wielkie Muzea. Zamek Królewski na Wawelu, Kraków. Warszawa 2007.

Krupa, Matthias / Ladurner, Ulrich / Lau, Mariam: Alles, was rechts ist. In: Die Zeit 11.4.2019, S. 4.

Maiorino, Tarquinio / Giuseppe Marchetti Tricamo / Piero Giordana: Fratelli d’Italia. La vera storia dell’inno di Mameli. Milano 2001.

Marx, Barbara: From Protestant Fortress to Baroque Apotheosis: Dresden from the Sixteenth to the Eighteenth Century. In: Gary Cohen / Franz A.J. Szabo (Hg.): Embodiments of Power: Building Baroque Cities in Europe. New York 2008, S. 120–162.

Marx, Barbara (Hg.): Kunst und Repräsentation am Dresdner Hof. München 2004.

Mayer, Christoph Oliver / Henzelmann, Martin (Hg.): Frankreich-Bulgarien. Europäischer Kulturtransfer. Hamburg 2018.

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Meier, Heinrich: Über das Glück des philosophischen Lebens: Reflexionen zu Rousseaus Rêveries. München 2011.

Mynarek, Hubertus: Der polnische Papst. Bilanz eines Pontifikats. Freiburg 2005.

Details

Seiten
296
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631820445
ISBN (ePUB)
9783631820452
ISBN (MOBI)
9783631820469
ISBN (Hardcover)
9783631818107
DOI
10.3726/b16878
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Kulturkontakte Kulturgeschichte Warschau Aneignungen Dresdner Hof
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 296 S., 52 s/w Abb.

Biographische Angaben

Martin Henzelmann (Band-Herausgeber:in) Christoph Oliver Mayer (Band-Herausgeber:in) Gianluca Olcese (Band-Herausgeber:in)

Martin Henzelmann ist Linguist und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Slavistik der Universität Hamburg. Christoph Oliver Mayer ist Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin und Privatdozent für Italienische und Französische Literatur- und Kulturwissenschaft an der TU Dresden. Gianluca Olcese arbeitet an der Universität Wrocław im Bereich der Italianistik und ist Direktor der dortigen Dante-Alighieri-Gesellschaft.

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