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Das mittellateinische Epyllion

Studien zur Kleinform der epischen Dichtung im Mittelalter

von Patryk Michał Ryczkowski (Autor:in)
©2021 Dissertation 646 Seiten

Zusammenfassung

Das Epyllion ist eine generische Bezeichnung für kürzere Gedichte, die in einem diskursiven Verhältnis zum Epos stehen. Ausgehend von der Erfassung der Gattungskategorie überprüft die Publikation den Mehrwert des Epyllions für die Erforschung der mittellateinischen Dichtung und erweitert das bislang von der Altphilologie diktierte Gattungsspektrum im Hinblick auf die Entwicklungen der Epik im Mittelalter. Der Autor untersucht mythologische Gedichte, Bibelgedichte, ein Tiergedicht sowie den Waltharius in ausgewählten Gedichtstudien und in einer vergleichenden Diskussion der Gattungsfrage, die zu einer erstmaligen Profilbildung des mittellateinischen Epyllions beiträgt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • I. Präliminarien
  • I.1. Zum Geleit: ein kurzes Lob des Wortes und der wörtlichen Komposition
  • I.2. Zielsetzung
  • I.3. Zum Aufbau der Untersuchung
  • I.4. Zum Textkorpus und zu den Quellentexten
  • I.5. Anregungen für die weitere Epyllion-Forschung in der mittellateinischen Philologie
  • I.6. Literaturwissenschaftliche Voraussetzungen der Untersuchung
  • I.6.1. Zum Konzept der literarischen Gattung in der mittellateinischen Philologie
  • I.6.2. Zum Gattungskonzept des Epyllions
  • I.6.2.1. Epyllion – ein Gattungskonzept
  • I.6.2.2. Epyllion – die Position der mittellateinischen Forschung
  • I.6.2.3. Epyllion – instruktive Einblicke in die volkssprachlichen und neuzeitlichen Literaturen
  • II. Einzelanalysen
  • II.1. Troja-Gedichte
  • II.1.1. Hugo Primas, Carmen X, inc. Post rabiem rixe redeunte bilustris Ulixe
  • II.1.2. Carmen, inc. Alea fortunę, semper vicina ruinę
  • II.1.3. Historia Troyana Daretis Frigii
  • II.1.4. Simon Chèvre d’Or, Ilias
  • II.1.5. Brutus
  • II.2. Mythologische Gedichte
  • II.2.1. Die carmina de Pyramo et Thisbe
  • II.2.1.1. Matthäus von Vendôme, Piramus et Tisbe, inc. Est amor ardoris species et causa cruoris
  • II.2.1.2. Carmen, inc. Consulte teneros non claudit tutor amantes
  • II.2.1.3. Carmen, inc. Querat nemo decus in quo vult pingere cecus
  • II.2.1.4. Carmen, inc. Carmina fingo, iam nullus carmina curet
  • II.2.1.5. Carmen, inc. Ocia si veniunt, iam mens torpescit ab intus
  • II.2.2. Simon von Couvin, De iudicio Solis in conviviis Saturni
  • II.2.3. De nuptiis Mercurii et Philologie
  • II.3. Bibelgedichte
  • II.3.1. Letald von Micy, Versus de quodam piscatore quem ballena absorbuit (Within piscator)
  • II.3.2. Carmen, inc. Nox erat et lentus carpebat [lumina somnus]
  • II.3.3. Marbod von Rennes, Naufragium Jonae prophetae
  • II.3.4. Marbod von Rennes, Liber Ruth
  • II.3.5. Marbod von Rennes, De raptu Dinae
  • II.3.6. Marbod von Rennes, Carmina septem fratrum Machabaeorum
  • II.3.7. De Machabaeis
  • II.3.8. Petrus Riga, De venditione Ioseph
  • II.3.9. Alan von Meaux, Tractatus metricus de Susanna
  • II.3.10. Willetrudis, Versus de Susanna
  • II.4. Tiergedicht: Ysengrimus abbreviatus
  • II.5. Waltharius
  • III. Gattungsanalyse
  • III.1. Ein kurzer Weg der epischen Dichtung im Mittelalter? Die Kürze der literarischen Darstellung, das Versmaß und die Texteinteilung als formale Gattungsmerkmale
  • III.1.1. Die epische Kürze der Bearbeitung
  • III.1.2. Das Versmaß
  • III.1.3. Die Bucheinteilung
  • III.1.4. Kein kurzer Weg der epischen Dichtung im Mittelalter – ein Fazit
  • III.2. In ambitu orbis, in ambitu carminis: die materia und ihre Ausgestaltung
  • III.2.1. Der materielle Aspekt – Stoff und Inhalt
  • III.2.1.1. Zwischen Stoff und Inhalt
  • III.2.1.2. Der Inhalt und die aufgegriffene Problematik
  • III.2.1.3. Die Protagonisten
  • III.2.1.4. Die Gelehrsamkeit und moralische Unterweisung
  • III.2.1.5. Carmen (?) perpetuum? Die Fortwirkung des Stoffes
  • III.2.2. Der formale Aspekt – die kompositorische Ausgestaltung der materia
  • III.2.2.1. Die episodenhafte Struktur
  • III.2.2.2. Die Darstellungsordnung
  • III.2.2.2.1. Die ordines und die Verlaufs­ordnung der Erzählung
  • III.2.2.2.2. Semper ad eventum festinat et inmedias res? Der Erzähleinstieg und Zeitspanne
  • III.2.2.2.3. Die digressiven Formen
  • III.2.3. In ambitu orbis vel epyllii – ein Fazit
  • III.3. ‚Les couleurs de l’épopée‘: die Narrativität der Dichtung bei der generischen Analyse
  • III.3.1. Eröffnungspassage und (narrative) Einrahmung
  • III.3.1.1. Eröffnungspassage und (narrative) Einrahmung – ein Überblick
  • III.3.1.2. Eröffnungspassage und (narrative) Einrahmung – ein Fazit
  • III.3.2. Die erzählerische Instanz und die Fiktionalität der Erzählung
  • III.3.3. Die Entfaltungsformen des erzählerischen Kommentars: ein Überblick
  • III.3.3.1. Der erzählerische Kommentar als Gestaltungsmittel der Großstruktur
  • III.3.3.2. Der erzählerische Kommentar als Gestaltungsmittel der Großstruktur – ein Zwischenfazit
  • III.3.3.3. Der erzählerische Kommentar außerhalb der Großstruktur
  • III.3.3.3.1. Die kommentierenden Textpassagen
  • III.3.3.3.2. Der kommentierende Wortschatz der Handlungswiedergabe
  • III.3.3.3.3. Die Auslöser intratextueller Bezüge
  • III.3.3.3.4. Weitere orientierende und verdeutlichende Eingriffe
  • III.3.3.3.5. Die Auslöser intertextueller und interdiskursiver Bezüge
  • III.3.3.3.6. Strukturelle Bezüge zu anderen Gattungen
  • III.3.3.3.7. Der erzählerische Kommentar außerhalb der Großstruktur – ein Zwischenfazit
  • III.3.4. ‚La couleur épyllionique de l’épopée‘ – ein Fazit
  • III.4. Zur Profilbildung des mittellateinischen Epyllions
  • IV. Schlusswort: ein kurzes Plädoyer für das mittellateinische Epyllion
  • V. Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Danksagung

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die überarbeitete Version meiner im Wintersemester 2018/2019 an der Georg-August-Universität Göttingen angenommenen Dissertation. Damit geht eine wesentliche Phase meiner wissenschaftlichen Entwicklung zu Ende. Da dieser herausfordernde Weg natürlich ohne die Unterstützung und Begleitung durch mehrere Personen nicht zu bewältigen war, möchte ich einleitend meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. An erster Stelle gebührt mein Dank Herrn Prof. Dr. Thomas Haye (Göttingen), der das Dissertationsvorhaben betreute und mir mit seinen fachspezifischen Kompetenzen stets zur Seite stand. Frau Prof. Dr. Carmen Cardelle de Hartmann (Zürich) bin ich für die wohlwollende Übernahme des Zweitgutachtens und die kritische Durchsicht der Arbeit zu Dank verpflichtet. Sowohl ihr als auch Herrn Prof. Dr. Peter Orth (Köln) danke ich für die Aufnahme meiner Dissertation in die von ihnen herausgegebene Reihe. Jede einzelne Anmerkung, die ich in der Endphase von ihnen bekommen habe, hat dieses Buch nachhaltig verbessert.

Aufgrund des Georg-Lichtenberg-Stipendiums des Landes Niedersachsen im Rahmen des interdisziplinären und interuniversitären Promotionsprogramms Theorie und Methodologie der Textwissenschaften und ihre Geschichte war es mir möglich, die Dissertation zügig abzuschließen (2014–2018). Mein aufrichtiger Dank geht daher vor allem an Herrn Prof. Dr. Tilmann Köppe, den Sprecher des Programms in Göttingen, dessen organisatorische Bemühen und die Expertise in Sachen Literaturtheorie ich überaus schätze. Ebenso bedeutend war das gemeinsame Erleben der Promotionsmühen mit meinen Mitpromovierenden aus der Göttinger Arbeitsgruppe: Svenja Frank, Christine Göb, Johanna Klages und Jan Stühring. Zudem bin ich den Teilnehmern des mittel- und neulateinischen Forschungskolloquiums in Göttingen zu großem Dank verpflichtet, mit denen ich mein Vorhaben stets konstruktiv diskutieren ←13 | 14→konnte. Für jedes fachkundige und fachfremde Gespräch bin ich besonders Frau Ulrike Michalczik dankbar.

Der Weg zur Promotion begann bereits in der späten Phase meines Studiums der Klassischen Philologie. Frau dr hab. Anna Maria Wasyl, prof. UJ (Krakau) regte damals mein Interesse an der poetologischen Perspektive der literarischen Gattungen an und begeisterte mich erstmals für das spätantike Epyllion – eine Entwicklung, die mit diesem Buch zu einem vorläufigen Höhepunkt gebracht wird. Herr em. Prof. Dr. Felix Heinzer (Freiburg i. Br. / Hamburg) hat mich während meines Studienaufenthalts an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. (2013/2014) in die mittellateinische Forschung eingeführt und in der Übergangsphase zur Promotion wohlgesonnen unterstützt – ihm danke ich herzlich für alle Erfahrungen und Kenntnisse, die ich in einer für mich überaus inspirierenden Atmosphäre sammeln konnte.

In der Zeit unmittelbar nach der Disputation habe ich vom Forschungsstipendium am Ludwig-Boltzmann-Institut für Neulateinische Studien in Innsbruck profitiert, das mir erlaubte, meine Forschung zum Epyllion der Frühen Neuzeit voranzutreiben. Es ist mir eine große Freude, jetzt meinen eifrigen Dank an das Innsbrucker Team der Altphilologen und Neulateiner für die gemeinsame Zeit, den ertragreichen Austausch und die stets ermunternden Worte zurückgeben zu können. Allen voran danke ich Herrn assoz. Prof. Dr. Florian Schaffenrath und zugleich (unter den Angehörigen der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck) Herrn Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Kofler dafür, dass sie meine Ideen für weitere Forschung vertrauensvoll und mit hilfreichen Hinweisen angenommen haben. Bei der Vorbereitung der Dissertation zur Drucklegung konnte ich mich auf die Hilfsbereitschaft meiner Innsbrucker Kollegen verlassen: Erwähnt seien Irina Tautschnig, Dr. Isabella Walser-Bürgler und Dr. Dominik Berrens, die das Manuskript gelesen haben. Nicht zuletzt möchte ich mich bei Frau Prof. Dr. Claudia Schindler für ihre Aufgeschlossenheit und den Austausch während meines Aufenthalts in der Hansestadt Hamburg bedanken.

Kaum zu überschätzen ist die Hilfe meiner Freunde, die trotz der Entfernung, die uns trennte, mit großer Ausdauer versuchten, immer gegenwärtig zu sein. Zweifelsohne ist es auch ihr Verdienst, dass ich ←14 | 15→die Dissertation und letztlich dieses Buch abschließen konnte. Deshalb freut es mich besonders, Anna Czerepok und meinen Freunden in Krakau meinen innigsten Dank auszusprechen: Agnieszka Walczak, Jonasz Dzido und Monika Podkówka-Jegorow. Das Buch widme ich Adam Jegorow, der mir für die Ausführungen aller Art geduldig unzählige Stunden geschenkt hat. Darüber hinaus bin ich Frau Christiane Freudenstein-Arnold (Göttingen) mehrfach zum Dank verpflichtet: für ihre Empathie, die Ermunterung und die Hilfe, die sie mir großzügig immer genau dann entgegenbrachte, wenn ich sie am dringendsten brauchte.

Aus fachlicher Sicht entspringt dieses Buch meinem ursprünglichen Interesse an der lateinischen Sprache, das Zofia Molesztak (Köslin), meine Lateinlehrerin, einst mit großem Engagement gefördert hat. Ihr habe ich es zu verdanken, dass die anfängliche Begeisterung sich in systematische wissenschaftliche Beschäftigung verwandeln konnte. Zu guter Letzt sei meinen Eltern und meinen Geschwistern für ihre Unterstützung und ihr Verständnis für die Richtung, in die ich meinen Bildungsweg lenkte, mein herzlicher Dank ausgesprochen.

Innsbruck, im Februar 2021

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I. Präliminarien

I.1. Zum Geleit: ein kurzes Lob des Wortes und der wörtlichen Komposition

λόγος δυνάστης μέγας ἐστίν, ὃς μικροτάτῳ σώματι καὶ ἀφανεστάτῳ θειότατα ἔργα ἀποτελεῖ·δύναται γὰρ καὶ φόβον παῦσαι καὶ λύπην ἀφελεῖν καὶ χαρὰν ἐνεργάσασθαι καὶ ἔλεον ἐπαυξῆσαι.

Gorgias von Leontinoi, Helenae encomium 8, 49–52

Certe orationi magna vis inest, quae divina in humili obscuroque corpuscolo tractat et perficit. Ipsa enim timores fugare, auferre moerores, laeta promere atque augere misericordiam potest.

Pietro Bembo, Gorgiae Leontini in Helenam laudatio 8, 55–581

Die Rede – so deuten die obigen Zeilen aus der Lobrede auf Helena des Gorgias von Leontinoi (4./5. Jh. v. Chr.) an – verleiht dem menschlichen Gedanken einen sprachlichen Ausdruck und vermag so, Einfluss auf das rezipierende Individuum zu nehmen. In dieser gnomisch geprägten Anmerkung des vornehmsten Vertreters der sog. Ersten Sophistik, der seine Argumentation im Dienst der Verteidigung Helenas daraus herleitet, folgt der λόγος nicht zwangsläufig der primären Bedeutung ‚das Wort‘, sondern steht eher für die Rede. Löst man jene Aussage vom gegebenen Kontext, darf man sich ein quasi sophistisches Spiel erlauben und die semantische Ambiguität mitdenken: Die Rede besteht aus zusammengestellten Worten, die nicht nur durch ihre Verknüpfung einen Sinn ergeben, sondern zugleich eine eigene Bedeutung annehmen. Dadurch kommt die inhärente Kraft der Worte und deren ←17 | 18→Kompositionen zum Vorschein: Der ausgedrückte Inhalt vermittelt eine Botschaft, die mit der sprachlichen Fassung untrennbar verbunden ist – es handelt sich nicht nur darum, welche Botschaft mit den Worten artikuliert wird, sondern auch darum, welche Form ihr zusteht.2 Das Zitat hebt die emotionale Manipulation hervor, die eine verbale Komposition durch den nicht zwingend neutralen Ausdruck anstrebt: Die kommunikative Aufgabe ist vom affektiven Zusammenhang nicht zu trennen. Die Aussage des Gorgias verwandelt sich folglich in eine universelle Prämisse literarischer Beschäftigung, die im frühen Altertum ausformuliert wurde und in der Renaissance in der Übersetzung Pietro Bembos (1470–1547) auf dem literarischen Feld erneut in Erscheinung trat, ohne je ihre Gültigkeit verloren zu haben.3

Diese fundierte Überzeugung vom gegenseitigen Verhältnis zwischen Botschaft und Form der verbalen Komposition (und somit von der Macht der verknüpfbaren Worte) liegt dieser Untersuchung zugrunde: Die Fähigkeit, die Worte und ihre Bedeutungen sinngemäß und sinnbedingt zu verbinden, ist eine Kunst, die innerhalb eines literarischen Schöpfungsvorgangs ein Endprodukt formen lässt. Dieser Prozess rückt die Komposition, die einem Werk künstlerisch verschaffte Form, in den Fokus. Stets ist sie zunächst isoliert als eigener Fall zu betrachten, doch lässt sich ihr Schöpfer durch mehrere Faktoren beeinflussen. Hierbei spielen die literarischen Gattungen als instruktive Muster eine wesentliche Rolle: Sie liefern die Impulse und die Referenzpunkte für die letztliche Ausgestaltung eines Werkes. Zugleich werden sie im Rezeptionsvorgang als Instrumente wissenschaftlicher Diskussion und literarischer Analyse beansprucht. Von der jeweils einzigartigen Komposition der Worte führt also der Weg über die literarische Form und die gattungsbezogene Fassung zur konventionalisierten Gattung. Diese Arbeit wendet sich einer Gattungsform zu, nämlich dem Epyllion, dessen Relevanz für die Erforschung der mittellateinischen Dichtung aufzuzeigen ist.

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I.2. Zielsetzung

Als Paradebeispiele für die mittellateinische Epik pflegt die Forschung den anonym überlieferten Waltharius und die Alexandreis Walters von Châtillon zu nennen.4 Da die Alexandreis eindeutig auf antike Vorbilder zurückgeht, verlangt sie nach keiner eingehenden generischen Erläuterung.5 Mit insgesamt 5554 Versen weist sie einen großepischen Umfang von zehn Büchern auf; der Waltharius, der ebenfalls unumstritten epischen Konventionen entspricht, umfasst hingegen lediglich 1456 He­- xameter und wird daher als Epyllion, Kurz- oder Kleinepos bezeichnet. In all diesen Begriffen, die aus einer terminologischen Unordnung resultieren, schlägt sich die Differenzierung der epischen Gattung nieder: Am Beispiel von Waltharius ist diese formbezogene Frage zu präzisieren.

Sieht man vom Geraldus-Prolog ab,6 wurde das Proömium durch eine Apostrophe an die Mitbrüder ersetzt, die das Gedicht in einen Kommunikationskontext als ursprüngliches Vortragswerk stellt: Tertia pars orbis, fratres, Europa vocatur […] (Waltharius 1).7 Ein hierzu relevantes Pendant bilden die abschließenden Verse:

Haec quicunque legis, stridenti ignosce cicadae

Raucellam nec adhuc vocem perpende, sed aevum,

Utpote quae nidis nondum petit alta relictis.

Haec est Waltharii poesis. vos salvet Iesus (Waltharius 1453–1456).

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Der Erzähler, der sich metaphorisch als zirpende Zikade vorstellt, entschuldigt sich bei den Rezipienten für seine schrille Stimme, die er mit seinem geringen Alter rechtfertigt. Das somit vermittelte Werk ist ein Endprodukt der dichterischen Beschäftigung:8 zum einen als niedergeschriebenes Vortragsgedicht, zum anderen als textuelle Komposition, die offenbar keiner anderen Erklärung bedarf als ‚Gedicht über Walther‘ (Waltharii poesis), die erstmal nur die Versform impliziert, bevor die Rezipienten der Gnade Jesu anvertraut werden. Die Fachforschung konnte bereits hinreichend belegen, dass diese Sphragis einen jungen Mönch als Verfasser herausstellt.9 Für die jetzige Fragestellung ist nun die von ihm benutzte Zikadenmetapher in den Blick zu nehmen.

Die Zikade symbolisiert seit der Wirkungszeit des alexandrinischen Dichters Kallimachos (4./3. Jh. v. Ch.) eine feine, relativ kurz gefasste Dichtung, die sich gemäß dem wohlbekannten Spruch μέγα βιβλίον μέγα κακόν vom Großepos abhebt. Ein solches Kurz- oder Kleinepos wird heutzutage nicht selten dem Epyllion gleichgesetzt, das auch auf ein Gedicht ebenjenes Kallimachos über Hecale, die Amme des Hercules, zutrifft. Wenngleich dieses Wort antiken Quellen zu entnehmen ist, ist sein Gebrauch im Kontext einer generischen Aussage nicht nachgewiesen, was weiterhin auf seine Verankerung im antiken Gattungsverständnis verweisen würde. Dieses darf auch im Fall des Waltharius nicht vorausgesetzt werden: Erstens wurden keine Belege für eine frühere Verwendung der Zikadenmetapher in Anlehnung an die alexandrinische Tradition aufgefunden.10 Zweitens wurde der Gattungsbegriff, der die Dichtung im Sinn des Kallimachos konnotiert, erst in der modernen Forschung entwickelt.

Dennoch bedient sich die Forschung nicht selten gerade dieses Begriffs, um die literarische Form des Waltharius zu kennzeichnen. Damit ist grundsätzlich ein kurzes oder kleines Epos gemeint, was primär auf die Kürze der kriegerisch geprägten Ausgestaltung fokussiert. ←20 | 21→Den ersten Schritt hin zu solch einer generischen Einordnung unternahmen anscheinend U. Dronke und P. Dronke, die im Gedicht ein „[…] epyllion controlled throughout with superb craftmanship […]“ erfassen und dadurch die kompositorische Problematik hervorheben, ohne den Gattungsbegriff zu erläutern.11 Auf eine solche Kategorisierung weisen ebenfalls weitere Autoren hin: Berschin, der den Waltharius zutreffender (wie er betont) ein Epyllion nennt, greift dabei auf die Definition jener Gattungsentfaltung im griechischen Schrifttum zurück, die auch die Erzählweise und die kompositorischen Aspekte hervorhebt, doch den lateinischen Kontext unberücksichtigt lässt.12 Dennoch kommt in seiner Abhandlung zusätzlich der Begriff ‚Kleinepos‘ zur Anwendung. Davon weicht Bertini ab: Im Beitrag zur Epik im 10. Jh. ordnet er das Gedicht nicht dem Epyllion zu, das er hingegen im sog. Within piscator erkennt.13 Weiterhin rekurriert Wolf auf Ansatz von U. Dronke und P. Dronke, legt allerdings den Schwerpunkt nicht auf die Komposition, sondern auf die Textkürze.14 Demzufolge vermischt er (ähnlich wie Berschin) auf symptomatische Weise das Epyllion mit dem Kleinepos, wenngleich er den Hintergrund in lateinischen und neoterischen Gedichten mit einem Vorbehalt betont: Es bleibt zu überprüfen, ob solch eine Traditionsbindung gegeben ist. Ebenjene Frage verneinen Cardelle und Stotz, denn sie setzen die Orientierung an den tradierten Mustern voraus.15 Hingegen weist Wolf eher auf den Vorteil hin, den der Bezug zur antiken Konvention für das Verständnis des Waltharius brächte. Hiernach stellt ←21 | 22→sich nicht die Frage, ob der Waltharius in Hinsicht auf den Stoff, dessen Ausgestaltung und sprachliche Fassung mit den neoterischen Gedichten nachweisbar zu tun hat, sondern ob er sich gerade mit dieser Poetik vereinbaren lässt, die das Epyllion und so die Gedichte der römischen Neoteriker prägt.16 Die Konvention eines Epyllions, die ein wesentlicher Faktor der generischen Auswertung des Waltharius ist, stellt sich dessen Benennung in der Sphragis als universelle poesis gegenüber, die sich für die Gedichtanalyse als wenig zufriedenstellend erweist, da sie die mehrfache Klassifizierung innerhalb der stark differenzierten Epik duldet. Die kompositorische Komplexität des Gedichts verweigert die Reduzierung auf die rein formal aufgefasste Textkürze, welche die Begriffe ‚Kurz-‘ und ‚Kleinepos‘ indizieren. Beide können mit dem Epyllion hinsichtlich der epischen Kleinform im Mittelalter, die im Titel dieser Arbeit als Allgemeinbegriff vorkommt, vergleichbar oder aber konkurrierend sein.

Aus diesem Zusammenhang ergibt sich die Fragestellung dieser Arbeit, welcher der Waltharius als anschauliches Beispiel der terminologischen Verwirrung dient. Demnach sind die Möglichkeiten für die Anwendung der in der Altphilologie etablierten generischen Epyllion-Kategorie auszuwerten, um feststellen zu können, ob sie die Interpretation der differenzierten Ausprägungen der mittellateinischen Epik und folglich deren Verständnis befördert, und eine unkritische Übernahme zu verhindern. Dieses Problem ist nicht ontologisch zu begreifen und darf nicht auf die (Nicht)Existenz solch einer Gattung in der mittellateinischen Literatur zurückgeführt werden. Vielmehr erscheint ein pragmatischer Zugang erfolgversprechend, der die literarische Tätigkeit, die ein Werk hervorbringt, mit all ihren Faktoren in den Vordergrund rückt: So wird der Einfluss literarischer Konventionen reflektiert, auch der Epyllion-Gattung, die für eine Poetik steht, die sowohl bei der Abfassung als auch bei der Rezeption eines Gedichts mitwirkt. Im Hinblick darauf verfolgt ←22 | 23→diese gattungsorientierte Untersuchung keine strikte generische Klassifizierung, sondern es soll vielmehr überprüft werden, ob die Berücksichtigung jener Kategorie die Interpretation des Werkes vertiefen kann. Hierbei wird eine rezeptive Perspektive bevorzugt, doch ist ebenfalls die schöpferische Sichtweise zu berücksichtigen: Bei jedem Umgang mit einem Werk gilt es, seinen literarischen Wert zu bemessen und seine Eigenart zu eruieren, die aus dem Vorhaben des Verfassers resultiert. Dementsprechend handelt es sich hierbei (so Colie) darum, „[…] to understand how literary works were thought to come into being“.17 Lediglich auf diese Weise ist man in der Lage, die „[…] unwritten poetics by which writers worked and which they themselves created“ zu ermitteln.18 Genau mit dieser Frage nach der Angemessenheit des Epyllions für die mittellateinische Dichtung orientiert sich die vorliegende Arbeit an der kompositorischer Problematik im Sinn der ‚unwritten poetics‘, die den jeweils mitwirkenden literarischen Konventionen vorgezogen wird. Daher wird nicht die Frage verfolgt, ob es ein Epyllion in der mittellateinischen Dichtung gibt und was es denn sei, sondern es wird nach seinem Mehrwert für die Erforschung der mittellateinischen Literatur gefragt.19

Der Fokus liegt hierbei im Schöpfungsvorgang und in seinen Vorgaben, die dem Schöpfer zu eigen sind, und die den modellhaften ←23 | 24→Anweisungen der vorherrschenden Dichtungslehre entsprechen,20 die der Kunst des einzelnen Autors zusagen können.21 Daher ist die ‚unwritten poetics‘ kein Gegenentwurf zu den artes poeticae, der einen scharfen Kontrast zwischen dem Individuellen und Allgemeinen abzubilden hat. Vielmehr bezeichnet sie einen personalisierten Zugang jedes Autors, der sich in seinem Werk niederschlägt und so im Rezeptionsvorgang zunächst zu erschließen und dann zu berücksichtigen ist. Folglich hat die generische Analyse zur Aufgabe, das schöpferische Vorhaben vor dem Hintergrund der Werkkomposition und der literarischen Konventionen zu ermitteln. Ein hierbei angenommenes universelles Gattungsbewusstsein greift auf die mittellateinische Dichtungslehre zurück, weshalb ihre Anweisungen als Ausdruck zeitgenössischer Reflexion über das literarische Schaffen in die Untersuchung miteinbezogen werden, um diese am damaligen Literaturverständnis festzumachen und dadurch das abstrakte Epyllion-Konzept nicht nur in den Texten nachzuvollziehen, sondern vor der Folie der damaligen poetologischen Kategorien zu werten, die nur subsidiär als analytische Instrumente an den jeweils relevanten Stellen herangezogen werden. Für das Epyllion ist allen voran die Problematik der abbreviatio instruktiv, die zunächst als übergeordnetes Verfahren zur Stoff- und Textkürzung auf weitere Techniken und Mittel zugreift und die Bindung des literarischen Ausdrucks an der relativen und sinntragenden Textkürze ansetzt.

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I.3. Zum Aufbau der Untersuchung

Die Erkenntnisse dieser Untersuchung erschließen sich aus mehreren Analysen der Gedichte, daher ist eine Schnittstelle zu beachten: All diese Einzelstudien tragen zur Grundlage der Untersuchung bei, die auf eine bereits vorhandene Gattungskategorie zurückgreift, deren Merkmale bei der Auswahl der Quellentexte mitentschieden haben. In der Folge ist eine zweifache Perspektivierung unabdingbar: die konkrete, kasuistische Erforschung der zusammengestellten Gedichte und ihre nachfolgende, übergreifende Synthese im Hinblick auf das generische Epyllion-Konzept und seine Entwicklung in nachantiker Zeit. Jede Perspektive wird nun separat dargestellt, daher wird der Begriff ‚Epyllion‘ in den Einzelanalysen nur selten und bedingt vorkommen, in der synthetisierenden Gattungsanalyse hingegen im Zentrum stehen. Ein abschließendes Fazit soll dann nicht die Frage nach der Gattung, sondern die Gattungsfrage des mittellateinischen Epyllions beantworten.

Eine derartige Unterscheidung der analytischen Ebenen entspringt der obigen Prämisse der ‚unwritten poetics‘. Sie zieht die Eigenart eines Werkes den literarischen Konventionen vor, die seine Zusammensetzung und Rezeption beeinflussen. Demzufolge wird der Gattungsfrage induktiv-deduktiv nachgegangen. Der Aufbau der Arbeit verdeutlicht die induktive Ausrichtung: Die synthetisierende Gattungsanalyse wird durch die Einzelstudien vorweggenommen, die sich auf die Charakteristika der Quellentexte konzentrieren. Ihre Aufnahme in das Textkorpus, die in Anlehnung an das altphilologische Epyllion-Konzept erfolgte, lässt das deduktive Moment erblicken, das folglich ebenfalls in der Gattungsanalyse merkbar ist. Diese wiederum konfrontiert die typischen Merkmale mit den erarbeiteten Charakteristika der Gedichte. Eine solche zweiteilige Struktur ist aus zwei Gründen zu bevorzugen: Erstens wurden bisher mehrere Quellentexte im Hinblick auf die hier erbrachten Ergebnisse nicht zufriedenstellend analysiert und bleiben der Forschung nahezu unbekannt. Deshalb erhebt diese Arbeit zudem den Anspruch, die offenbar vernachlässigten Gedichte, ←25 | 26→die bezüglich der ausgegebenen Fragestellung erstmals zusammengestellt wurden und texttypologische Ähnlichkeiten aufweisen, durch eine formorientierte Untersuchung aufzuwerten. Ausschlaggebend hierfür ist zweitens Ecos zweistufige Lektüre mittelalterlicher Texte. Die im Sinn des von den strengen Vorgaben gelösten ‚close reading‘ gelesenen Texte (der semantische oder naive Leser) werden daraufhin kontextualisiert und funktionalisiert (der semiotische oder kritische Leser): Eigene Schlüsse des Rezipienten sind mit den Voraussetzungen der literarischen Untersuchung bzw. hierbei der generischen Analyse in Verbindung zu bringen.22

Die Struktur der Arbeit folgt diesem zweifachen Zugang und umfasst insgesamt vier Teile. Der erste Teil legt die Präliminarien der Untersuchung dar. Zunächst stellt die Zielsetzung am instruktiven Beispiel des Waltharius die Fragen heraus, die diese Arbeit in bestehende Probleme der Erforschung epischer Dichtung im Mittelalter einbeziehen: Die mithin umrissene Leitfrage nach der generischen Benennung jenes Gedichts greift seiner Einzelstudie vor. Nach der nächsten Besprechung des Textkorpus werden literaturwissenschaftliche Voraussetzungen fundiert. Bevor das generische Epyllion-Konzept vorgestellt wird, wird die Problematik literarischer Gattungen und das hierfür relevante Verständnis der literarischen Form thematisiert – es werden jeweils die Probleme umrissen, die sich aus der Prämisse der Gattungsentwicklung herausstellen, und die Umstände literarischer Produktion und Rezeption im Mittelalter reflektiert.

Der zweite Teil der Arbeit hat die Studien der einzelnen Gedichte zum Inhalt, die aus pragmatischen Gründen in fünf Stoff-Gruppen aufgeteilt werden. Der dritte Teil setzt sich mit der Gattungsfrage jener Gedichte unter drei Aspekten auseinander: Erstens werden formale Merkmale untersucht (die Textkürze, das Versmaß, die Bucheinteilung). Darauf folgt zweitens die Untersuchung materieller Merkmale, vor allem der inhaltlichen Zusammensetzung (Stoff, Thematik und Problematik) und der kompositorischen Ausgestaltung dieses Inhalts. ←26 | 27→Mit einem für das Epyllion wesentlichen Aspekt der Komposition beschäftigt sich der dritte Abschnitt zum Kommentar der erzählerischen Instanz, der sich vom zentralen Problem der Narrativität ableitet. Schlussendlich erfasst der vierte Teil in einem Fazit die profilbildende Auswertung der Erkenntnisse, so dass im letzten Arbeitsteil für die Aufnahme der Epyllion-Kategorie in die generische Analyse der mittellateinischen Dichtung plädiert werden kann.

Weitere Konsequenzen des gewählten Zugangs sind zu verzeichnen. Die Diskussion der Gattungsfrage greift auf die Einzelanalysen zurück, aus denen sie entwickelt wurde: Wenngleich die Lektüre all dieser Studien nicht vorausgesetzt wird, werden die in der Gattungsanalyse, die einen übergreifenden Kontext herstellt, diskutierten Werkqualitäten nicht erneut eingehend dargestellt, sondern sind in der Studie zum jeweils als Beispiel herangezogenen Gedicht nachzuvollziehen – ebenso wie die meisten Zitate und Angaben zur einschlägigen Forschungsliteratur. Im Textkorpus finden sich wenige allgemein bekannte Gedichte (wie etwa der Waltharius oder Within piscator), zu denen bereits eine umfangreiche Forschungsliteratur vorliegt, die hierbei nicht vollständig gesichtet werden kann. Daher beschränken sich die bibliographischen Angaben auf die jeweils für die Fragestellung relevanten, mit weiteren Verweisen versehenen Beiträge. Hingegen ist der Großteil der Quellentexte bisher eindeutig untererforscht und so wird versucht, jeweils einen komplexen Forschungsüberblick zu bieten. Zudem wertet die Gattungsanalyse die Epyllion-Merkmale aus, die bereits in der Besprechung des generischen Konzepts in den Präliminarien thematisiert wurden und auf die dort vermerkten Beiträge der Forschung zurückgehen, die zumeist nicht wiederholt werden.

I.4. Zum Textkorpus und zu den Quellentexten

Die Berücksichtigung aller heute noch verfügbaren mittellateinischen Gedichte, die mit Blick auf das Epyllion in Betracht kommen, würde ←27 | 28→den Rahmen einer solchen Studie, wie sie hier vorliegt, sprengen. Deshalb wird die zum Ziel gesetzte Problematik an der instruktiven Auswahl von insgesamt 24 repräsentativen Quellentexten diskutiert. Die Kriterien ihrer Zusammenstellung entstammen dem altphilologischen Epyllion-Konzept. Trotzdem wurden vorab notwendige Anpassungen vorgenommen, die in der Untersuchung gerechtfertigt werden, um seine möglichen Umwandlungen und das bei ihm vorausgesetzte Verständnis der Gattung mit in den Blick zu nehmen. Dementsprechend besagt die Aufnahme in das Textkorpus noch nicht, dass das Gedicht in generischer Hinsicht dem Epyllion gleichkommt und so andere Klassifizierungen ausschließt. Die Diskussion der Gattungsfrage wird das divergente Verhältnis zum Epyllion-Konzept erschließen, das die untersuchten Texte aufweisen, ohne die Bezüge zu anderen, bei der Ermittlung ihrer Form mitwirkenden Gattungskonventionen zu verlieren. Demnach können sich die Texte ebenfalls am Rande des Epyllion-Konzeptes platzieren, ohne dass ihnen die Gattungsrelevanz abgesprochen wird und ihr instruktiver Wert für die Fragestellung verloren geht.

Der eindeutige Fokus ruht auf den Quellentexten aus dem Hoch- und Spätmittelalter. Hierfür ist der angedeutete Bezug zur mittellateinischen Dichtungslehre in den artes poeticae ausschlaggebend, die sich im Hochmittelalter zu einem breit wirkenden Instrument literarischer Reflexion entwickelt haben. Dennoch werden auch wenige Gedichte aus früherer Zeit besprochen, vor allem der Waltharius oder Within piscator, die in der Forschung nicht selten dem Epyllion zugerechnet werden. Was hingegen die räumliche Verteilung der Gedichte im Hinblick auf deren Produktion und Rezeption anbelangt, wurden hierbei keine Beschränkungen auferlegt. Die Auswahl der Texte lässt jedoch ersehen, dass diese größtenteils aus dem deutschen und französischen Raum stammen; wenige wurden offenbar im englischen Raum verfasst.

Das hierbei angenommene Verständnis der literarischen Gattung erfordert keine obligatorischen Kenntnisse vom Epyllion-Konzept und von seinen antiken Mustern bei mittelalterlichen Autoren und Rezipienten. Demzufolge werden überlieferungsgeschichtliche Belege für eine derartige Poetik nicht in den Quellentexten gesucht. Stattdessen ←28 | 29→wird das abstrakte Konzept an den aus heutiger Sicht heraus fertigen Produkten der dichterischen Tätigkeit überprüft. Daher werden nur solche Gedichte reflektiert, die weitgehend vollständig überliefert sind, so dass ihre Komposition über den potenziellen fragmentarischen Charakter hinaus nachvollziehbar ist. So sollen im überlieferten Wortlaut keine markanten Lücken vorkommen, die bei der Sinnermittlung hinderlich wären. Das Fehlen vereinzelter Worte, Phrasen oder Verse ist zu dulden, wenn der Sinn einer vollständigen Einheit sich trotzdem erschließen lässt. Als solche liegen die Quellentexte in einer nicht zwingend kritischen Edition vor. Obgleich die Handschriftenarbeit keinen entscheidenden Faktor darstellt, wird die Überlieferungslage der Quellentexte und (in einzelnen Fällen) ihre vereinzelten formrelevanten Probleme berücksichtigt.

In diesem Kontext ist überdies zwischen den primären und sekundären Überlieferungsträgern zu differenzieren. Einige Quellentexte sind in den Textausgaben und zudem in den heute erhaltenen Handschriften zugänglich, andere hingegen wurden Textausgaben entnommen, denen heutzutage nicht mehr erhaltene bzw. identifizierbare Handschriften zugrunde liegen. Es handelt sich dabei nicht um die Kenntnis des Wortlauts, die durch primäre und sekundäre Überlieferung impliziert wäre, sondern um den einsichtigen Rückgriff der Textausgaben auf die erhaltenen Zeugnisse. Für den ersten Fall ist es charakteristisch, dass die meisten Gedichte im codex unicus oder nur in wenigen Handschriften, nicht selten in Sammelhandschriften mit deutlich differenziertem Inhalt, überliefert sind. Daher konnten sie weder weit noch breit rezipiert werden: Meistens sind sie in einem punktuellen Kreis entstanden, in dem sie weiterhin zirkuliert sind, wie etwa im klösterlichen oder schulischen Milieu. Aufgrund der sparsamen Überlieferung konnten sie die Rolle gattungsspezifischer Muster für die nachfolgende Produktion kaum übernehmen. Einige abweichende Fälle sind zu vermerken, wie etwa der Waltharius, der in mehreren Handschriften tradiert und so nicht unbekannt gewesen zu sein scheint. Die Historia Troyana Daretis Frigii ist ebenso in mehreren Manuskripten, die vermutlich einem weltlichen Kontext entstammen, aus mehreren europäischen Ländern überliefert. Das Gedicht De iudicio Solis in conviviis Saturni Simons von ←29 | 30→Couvin überliefern mehrere Handschriften; sechs von ihnen sind dem französischen Raum zuzuordnen und eine hat ihren Weg nach England gefunden. Es ist zudem kaum mit monastischen Entstehungsorten und nur mit wenigen anderen Werken zu verbinden. Die Langfassung der Ilias des Simon Aurea Capra ist lediglich einem Textzeugen zu entnehmen, während die Kurzfassung in zahlreichen handschriftlichen Bruchstücken aus verschiedenen Gebieten Europas vorliegt. Der Brutus ist einzig in einem Textzeugen nachweisbar, in dem es im Anschluss an den einflussreichen Anticlaudianus und dessen compendium folgt. Von den Gedichten über Pyramus und Thisbe ist insbesondere das in acht Handschriften überlieferte Gedicht Carmina fingo hervorzuheben.

Nur wenige Quellentexte sind lediglich aus den sekundären Überlieferungsträgern bekannt: Sieben Gedichte sind in der Patrologia Latina enthalten. Gemäß den dortigen Paratexten lassen sie sich auf ursprüngliche Fassungen in Handschriften zurückführen, die gegenwärtig nicht mehr zu erreichen oder zu identifizieren sind. Es handelt sich hierbei um keine kritische Edition, dennoch ist der festgelegte Wortlaut für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ausreichend. Einige dieser Gedichte wurden in einem inzwischen verschollenen Florilegium nachgewiesen; für einige weitere Gedichte und ihre Fragmente konnten andere Textzeugen aufgefunden werden, die in den Einzelanalysen vermerkt werden.

Die Textauswahl richtet sich erstens nach der Narrativität der Gedichte, die eine Erzählung wiederzugeben haben. Wenngleich ein deutlicher Anteil deskriptiver Passagen zugelassen wird, ist im Zusammenspiel divergenter Bauelemente der narrative Darbietungsmodus entscheidend. Zweitens sollten die Gedichte sich durch eine breit aufgefasste epische Prägung auszeichnen, die allerdings durch andere Konventionen (vor allem die Elegie und das Drama) beeinflusst sein kann. In dieser Hinsicht ist der Stoff beliebig, dagegen spielen die auf antike Epik zurückgreifende Diktion, Mittel des literarischen Ausdrucks und kompositorische Aspekte eine wichtige Rolle. Drittens wird ein Wechsel zwischen der Erzähl- und Figurenrede vorausgesetzt, die im variierenden Maß zum Einsatz kommen. So sollen die Gedichte zumindest eine Aussage der Figuren in direkter Rede enthalten, unabhängig von deren Länge und Charakter. In Anlehnung an die narrative und vor ←30 | 31→allem dominierende epische Prägung liegt der Fokus viertens auf der daktylischen Versfassung im Hexameter und im elegischen Distichon.

Hinsichtlich der Textlänge wurde fünftens eine Spanne angenommen, die zwischen ca. 100 und 1500 Versen schwankt und auf der weit differenzierten Forschungsmeinung fußt. Dieser relative Rahmen soll auf ein Gedicht zutreffen, das einen Umfang bis zu dem eines durchschnittlichen Buches eines Großepos aufweist, doch wurde der Oberbereich deutlich großzügiger angelegt. Hierfür ist zum einen der Waltharius richtungsweisend, zum anderen aber der Anspruch, längere Gedichte einzubeziehen, die sich der großepischen Form entziehen und doch aus mehr Versen bestehen als ein großepisches Buch. Die Relativität des Epyllions beläuft sich in diesem Fall auf keine konkrete Verszahl, sondern auf ein diskursives Verhältnis zur epischen Breite, deren Ausmaß im Lauf der Zeit erheblich schwankte.

Sechstens weicht das Spektrum der berücksichtigten Stoffe vom altphilologischen Konzept markant ab. Das antike Epyllion behandelt grundsätzlich eine mythologische Liebesgeschichte mit einem emotionalen Potenzial. Daher wurden in erster Linie die Gedichte aufgenommen, die den Stoff den Mythen entlehnen und vertiefte Gefühlsdimensionen herausarbeiten lassen. Dabei greifen sie nicht selten das Thema der Liebe auf. Dennoch wurde diese enge Bindung aufgegeben. Das altphilologische Epyllion-Konzept ist hinsichtlich seiner Fortentwicklung eher zurückhaltend, auch vor dem Hintergrund der vehementen Fortbildung der großepischen Konvention, die zumindest seit der Spätantike weitere Stoffe aufnimmt. Richtungweisend ist hierfür zudem die mittellateinische Dichtungslehre, die für die Offenheit literarischer materia plädiert und so eine Erweiterung des stofflichen Spektrums in dieser Arbeit bedingt. Demzufolge wurden Einzelanalysen der Quellentexte im zweiten Arbeitsteil in fünf Gruppen aufgeteilt. Diese pragmatische Strukturierung erhebt keinen Anspruch auf eine hierarchische Auswertung der Erzählstoffe, die sich nicht selten flexibel vernetzen und keine festen Grenzen haben.

In diesem Sinn sind erstens fünf Gedichte zu erwähnen, die sich dem trojanischen Stoff widmen, allerdings nicht ausschließlich den zentralen Trojanischen Krieg zum Gegenstand haben. Dieser Gruppe gehört ebenfalls der Brutus an, der zwar mit den Ereignissen um den ←31 | 32→Fall Trojas einsetzt, sich danach jedoch der Irrfahrt des Protagonisten zuwendet, die dann in die historisierende Erzählung über den Ursprung Britanniens mündet. Darauf folgen zweitens jene Gedichte, die einen mythologischen (und nicht trojanischen) Stoff verarbeiten. Sieht man von fünf Bearbeitungen der Geschichte von Pyramus und Thisbe ab, fügen sich hierin zwei allegorische Gedichte ein (De nuptiis Mercurii et Philologie, De iudicio Solis in conviviis Saturni), die ihre materia aus mehreren mythologischen Motiven und Bauelementen bzw. aus mehreren Stoffen schöpfen. Die breiteste Gruppe umfasst drittens neun Bibelgedichte, die den biblischen Inhalt in Verse überführen.23 Hierbei überwiegen die metrischen Bearbeitungen biblischer Erzählungen, die auf ein Kapitel, ein Buch oder aber auf den auf mehrere Bücher verteilten Stoff zurückgehen. Dennoch sind auch andere Vertreter dieser Gruppe hervorzuheben: Das allegorische Gedicht Nox erat zeichnet sich durch einen vergleichbaren Bezug zur Bibel aus wie der wohlbekannte und in dieser Arbeit lediglich als notwendige Folie beanspruchte Eupolemius. Zudem werden die sagenhaften Versus de quodam piscatore quem ballena absorbuit (sog. Within piscator) dem Bibelgedicht zugerechnet, weil sie in erzählstrategischer Hinsicht auf das Buch Jona zurückgreifen. Im Gegensatz zu biblischen Gedichten wird die im Mittelalter entwickelte Tierepik viertens durch lediglich einen Quellentext vertreten, der ein durch die abbreviatio gezeitigtes Verhältnis zum großepischen Ysengrimus aufweist. Abschließend wird fünftens der für die aktuelle Fragestellung richtungsweisende Waltharius besprochen.

Diese Aufteilung stellt keinesfalls eine unumstößliche Klassifizierung dar und folgt eher einem pragmatischen Gesichtspunkt, der für die Gattungsanalyse im dritten Teil von Nutzen sein wird. Die aus der Ausgestaltung des Stoffes resultierenden Probleme bei der Zuordnung einiger Gedichte werden in den jeweiligen Analysen vermerkt. Innerhalb jeder Gruppe ist die Reihenfolge der Gedichte chronologisch (soweit diese zu erschließen war) ausgerichtet: Dass sie mit trojanischen und ←32 | 33→mythologischen Texten beginnt, liegt im etablierten Epyllion-Konzept begründet. Die Berücksichtigung weiterer Stoffe soll die wesentlichen Entwicklungstendenzen der großepischen Form in der Spätantike und im Mittelalter für die Produktion der kleinepischen Form ertragreich herausarbeiten.

Die verwendeten Ausgaben der Quellentexte und der weiteren für die Analyse relevanten Texte sind im Literaturverzeichnis angegeben. Wo mehrere Editionen konsultiert wurden, wird in den Einzelstudien jeweils auf die Zitatvorlage verwiesen.

I.5. Anregungen für die weitere Epyllion-Forschung in der mittellateinischen Philologie

Der angelegte Arbeitsrahmen erlaubt keinen vollständigen Überblick über die mittellateinische Gattungspoetik des Epyllions. Stattdessen hat diese Untersuchung eine Grundlage und einen stabilen Ausgangspunkt für die Erforschung weiterer relevanter Aspekte auszumachen. Daher wurden lediglich einige repräsentative Gedichte gewählt, die texttypologisch mit Blick auf die generische Epyllion-Kategorie vergleichbar sind und mithin einen kohärenten, wenngleich innerlich doch differenzierten Teil der mittelalterlichen Epik herausgreifen. Wenngleich die Textauswahl, die dem altphilologischen Gattungskonzept verpflichtet ist, über seine festen Grenzen hinausreicht, musste auf die Untersuchung der Gedichte in zumindest drei Bereichen absichtlich verzichtet werden, die umfassende weitere Forschungsfelder konstituieren, um auf die einschlägige Poetik eingehen zu können.

Erstens ist die Differenzierung der Versfassung zu nennen: Nicht nur der Hexameter und das elegische Distichon, die in dieser Arbeit als Kriterien gesetzt wurden, können im Mittelalter einen narrativ geprägten Text und eine Erzählung wiedergeben – infrage kommen weitere Versmaße und etwa die rhythmische Dichtung. Es ist zu prüfen, inwieweit die narrative Prägung in kurzen Gedichten auch in ←33 | 34→anderen Versmaßen und in Rhythmen zunächst der epischen Prägung und damit ebenfalls dem Epyllion-Konzept entsprechen. Zweitens sind andere Stoffe und Inhalte zu reflektieren. In erster Linie müssen die historischen, zeitgenössischen und hagiographischen Gedichte untersucht werden. Da diese drei Textgruppen nicht nur im Mittelalter einen wesentlichen Anteil an der großepischen Dichtung haben, können sie für die epische Kleindichtung und so für das Epyllion relevant sein, bedürften jedoch wegen ihrer Popularität gesonderter Studien.

Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf die Werke, die als separate Texteinheiten funktionieren, wenngleich das antike Epyllion sich nicht nur als eigenständiges Gedicht, sondern zudem auch als Kette miteinander verknüpfter Einheiten und als kompositorische Einheit innerhalb einer komplexeren, andersartigen Struktur ausgeprägt haben soll. Eine solche breite Perspektivierung, die den übergreifenden Textzusammenhang hervorhebt, ergibt allerdings weitere Fragestellungen, die ohne eine feste Grundlage zu vagen Ergebnissen führen könnten. Um eine eingehende Untersuchung der generischen Form zu unternehmen und deren Besonderheiten herauslesen zu können, wurden diese zusätzlichen Perspektiven größerer Einheiten ausgelassen. Dennoch kann die Poetik des Epyllions auch für diese instruktiv sein. Demzufolge sind drittens die Erkenntnisse dieser Arbeit bei der Erforschung der Erzähleinheiten zu reflektieren, die im breiteren Kontext einer Epyllien-Kette oder einer andersartigen Dichtung den Epyllien nahekommen.

I.6. Literaturwissenschaftliche Voraussetzungen der Untersuchung

I.6.1. Zum Konzept der literarischen Gattung in der mittellateinischen Philologie

Die angedeutete Unterscheidung zwischen einer ontologischen und einer pragmatischen Gattungsfrage der kleinepischen Form in der ←34 | 35→mittellateinischen Literatur setzt ein konkretes Verständnis der literarischen Gattung voraus. Jedes Genre findet seine Anwendung als eine Kategorie literaturkritischer Klassifizierung, die ebenfalls über den Rahmen fachlicher Abhandlungen hinausreicht. Ein relevanter Gattungsbegriff bündelt mehrere Texteigenschaften, die ein Schema verknüpfter Kategorien aufbauen und so einen flexiblen Hintergrund für die Werkanalyse schaffen. Daher kommt den Gattungen (und ihren Bezeichnungen) keine normative, sondern die relative Wirkung eines instruktiven Interpretations- (für die Rezipienten) bzw. Schöpfungsimpulses (für die Verfasser) zu.24 Zudem lassen sie ein literarisches Kunstwerk, das in diesem kreativen (produktiven oder rezeptiven) Verfahren hervorgebracht wird, untersuchen und mithin im Netz der literarischen Gesamtheit verorten. Der Wert der generischen Analyse liegt nicht im direkten Vergleich zwischen dem Grundmuster oder einem etablierten Vorbild und einem neuen Werk, sondern in der Ermittlung und Auswertung seiner Spezifika anhand aller Muster und Begriffe, um primär jenem Werk und nicht der Gattung Rechnung zu tragen.

Als solche Instrumente der (wissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit der Literatur stellen die Gattungen nicht einen Zweck, sondern ein Mittel jeder Analyse dar. Sie greifen auf stilistische Traditionen zurück und nützen somit den Verfassern, die sich bei der Abfassung ihrer Werke an den gegebenen Gattungskategorien orientieren.25 Im literarischen Verfahren oder konkret im dichterischen ←35 | 36→Prozess interferieren die Gattungen mit anderen Faktoren, wie etwa den Entstehungsumständen oder der intendierten Bestimmung, daher sind sie keine indifferenten Instrumente, die automatisch und rückhaltlos beansprucht werden.26 Berücksichtigt man die licentia poetica, so scheinen sie für den Rezeptionsvorgang doch eine größere Bedeutung zu haben, da sie gewisse Merkmalskategorien bereitstellen, welche die Wahrnehmung eines Werkes fördern. Da Merkmale der generischen Klassifizierung sich in abweichender Weise in den Werken einer Gattung ausprägen dürfen und nicht ausschließlich einer Gattung zugeordnet werden können, müssen sie weder konstitutiv noch gattungstypisch sein und daher vernetzen sie eher mehrere Genres miteinander: Das Fehlen fester Grenzen stellt die Offenheit der Gattungen heraus.27 Dementsprechend setzt ein Werk kein Gattungsmuster um, sondern nimmt zu diesem eine diskursive Stellung ein. Primär entfaltet es einzigartig die literarische Gesamtheit und kann so jene generischen Vorgaben berücksichtigen, ablehnen oder umwandeln und sogar in neue Merkmale weiterentwickeln.28 Daher zielt die Gattungsanalyse nicht auf eine strikte Gewährung oder Verweigerung der Gattungszugehörigkeit ab, sondern vielmehr auf eine komplexe gattungsbezogene Reflexion.29

In diesem Zusammenhang ist die Diskussion über das Vorhandensein der Gattungen wenig ertragreich, dennoch hat sie die Forschung ←36 | 37→sehr lange beschäftigt und dürfte mithin als erste Prämisse jeder gattungsorientierten Untersuchung gelten. Ihr Grundsatz geht auf den aus dem Mittelalter bekannten Universalienstreit zurück, der das Verhältnis zwischen Individualem und Allgemeinem formen wollte. Drei relevante Standpunkte, der Nominalismus, der Konzeptualismus und der Realismus,30 die sich in unterschiedlichen Ansätzen niederschlagen,31 münden in den konstruktiven Konzeptualismus. Hierfür ist der Zugang Hempfers ausschlaggebend: Die Gattungen sind „[…] Konstrukte, die auf der Basis rekurrenter Eigenschaften von Texten und der im Zusammenhang historischer Poetologien vorfindlichen Vorstrukturierungen synchron und diachron distinktive Textgruppen konstituieren“.32 Demnach sollten die Genres diese „[…] aufgrund spezifischer Textkonstituenten beobachtbaren Phänomene[n] des historischen literarischen bzw. allgemein sprachlichen Kommunikationssystems […]“ sein,33 die sich aus materiell vorhandenen Texten erschließen lassen. Hieraus ergibt sich ein Unterschied zwischen der Gattung und der literaturkritischen Analyse der Gattung, die ihre historische Entwicklung in den Erscheinungsformen aufzeigt. Solch ein Konstrukt bringt spezifische, ausbaufähige Merkmale der Texte zusammen.

Dieser Ansatz, der in der Forschung auf wenig Widerstand gestoßen zu sein scheint,34 erweist sich für die Mediävistik als geeignet. ←37 | 38→Die Gattungen der deutschen Literatur des Mittelalters fasst Schulz als Modelle oder Konzepte literarischen Bedeutungsaufbaus auf, die aus dem vorhandenen Textbefund herausgearbeitet werden und eine Grundordnung wiedergeben. Somit konstituiert sich ein wechselseitiges Verhältnis, das jede Gattungskategorie voraussetzt und so beim Umgang mit den Texten stets mitzudenken ist: Die Modelle (oder Konzepte) und ihre Grundlagen werden anhand spezifischer Merkmale aus den Texten erschlossen, zu deren Beschreibung sie eingesetzt wurden.35 Diese vergleichbaren Begriffe dürften also doch auf andere Ebenen hinweisen: Das Konzept kann auf das hempfersche Konstrukt rekurrieren und mithin als ein Abstraktum (als ‚Kombination der Merkmale‘)36 im konkreten Text verwirklicht werden. Hingegen bezieht sich das Modell auf konkrete Textgruppen, auf die Gattungen also, in ihrer historischen Entwicklung und in ihren Zeugnissen. Daher ist ein Modell nicht nur ein Gebilde mehrerer Merkmale, sondern zugleich ein theoretisches Muster, das man nachahmen, umformen und überbieten sowie welches mithin zur Differenzierung (innerhalb) der Gattungen beitragen kann. Die Konzepte verlieren nicht ihren Bezug zu den ihnen zugrunde liegenden Texten, denn jeder Text vertritt eine Gattung, die zur fortwährenden, wenngleich wandelbaren Konvention wird.37 Somit gehen die Genres auf ein Muster zurück, das als Text vorliegt und ermöglicht, die spezifischen Merkmale abzulesen und ein Konzept zu konstruieren, das in getreuer oder abgewandelter Form die Produktion und Rezeption eines anderen Textes unterstützt. Dementsprechend sind (laut Grubmüller) für eine generische Analyse vorab die Kriterien festzulegen, die sich aus dieser Untersuchung heraus nicht mehr (in derselben ←38 | 39→Form) herausstellen müssen.38 Somit wird die Wandlungsfähigkeit der Gattung respektiert.

Allerdings weicht der Ausgangspunkt der altgermanistischen Forschung von der Lage der lateinischen Philologie und von ihrem Spektrum der Gattungen ab. Während die volkssprachlichen Literaturen sich im Mittelalter parallel zu den sprachlichen und politischen Entwicklungen in Europa herausbilden mussten, fußte das mittellateinische Schrifttum auf den (spät)antiken Traditionen, welche die mittelalterliche (Er)Kenntnis der Literatur im produktiven und rezeptiven Vorgang lenkten. Die Übernahme der lateinischen Sprache erfolgte durch die Lektüre vorhandener Werke, die mithin die literarischen Konventionen vermittelt haben. Im Bereich der Dichtung betrifft dies nicht nur vereinzelte Werke (wie etwa die Aeneis), sondern auch die relevanten Kommentare (wie etwa des Servius Grammaticus) oder die theoretisierenden Abhandlungen (wie etwa die Dichtkunst des Horaz). Der materielle Aspekt stellt eine Vorbedingung für die Tradierung literarischer Ideen und Inhalte dar. So konnten mittellateinische Autoren auf dem lateinischen Gattungswissen der Antike aufbauen. Die volkssprachlichen Literaturen hingegen kannten einen solchen Mechanismus nicht, weshalb dieses zunächst fehlende Gattungsbewusstsein erst erarbeitet werden musste.39 Sieht man von der konstitutiven Bindung an das antike Literaturgut ab, darf man dennoch die Überlappung der mittellateinischen Literatur mit den sich herausbildenden volkssprachlichen Literaturen in einigen Fällen nicht missachten.

Die materielle Basis kennzeichnet nicht ausschließlich im Mittelalter die Fortentwicklung des lateinischen Schrifttums, das einem Kontinuum mit konsekutiven Phasen gleichkommt.40 Obgleich die ←39 | 40→Sprache stets Veränderung erfährt, sichert sie eine gemeine Grundlage literarischer Kommunikation von der Antike bis in die Neuzeit.41 Diese genuine Verbindung aller epochalen Ausprägungen der lateinischer Literatur geht mit einer Kontroverse einher: Nach D’Angelo ist die mittellateinische Philologie einerseits zu stark durch die Altphilologie, anderseits durch die romanische und germanistische Mediävistik beeinflusst.42 Doch darf sie (auch bei der generischen Analyse) den Bezug zur antiken Literatur und somit zur altphilologischen Forschung nicht verlieren bzw. fremde Einflüsse unreflektiert übernehmen: Die antiken Werke wurden im Mittelalter auch als Beispiele für die Gestaltungsformen des literarischen Ausdrucks gelesen. Ihre musterbildende Wirkung verdeutlichen die empfehlenswerten Autoren, die im schulischen Bereich grundlegend für die Entwicklung der sprachlichen und literarischen Fähigkeiten waren.43 Folglich konnten die im Mittelalter (nach heutiger Kenntnis) kaum oder wenig bekannten Autoren kein gattungsspezifisches Muster bieten.

Die Prämisse der materiellen Tradierung nimmt die Gattungsdiskussion in der mittellateinischen Philologie vorweg, die durch Schallers Untersuchung zum Epos im Frühmittelalter geprägt wurde. Dieser zufolge war in der mittelalterlichen Praxis die konkrete Dichtung Vergils und eben kein abstraktes Epos die maßgebende Kategorie: „Die Realität für das Mittelalter ist das Epos Vergils […], nicht die Gattung ‚Epos‘“.44 ←40 | 41→Dennoch lässt die Analyse der Aeneis ein Eigenschaftsbündel ermitteln, das ein Konzept des Epos veranschaulicht und auch von Schaller benannt wurde: Die musterhafte Geltung einiger Werke verhindert die Konstruktion eines Gattungskonzeptes nicht, sondern führt vielmehr die Bindung der Gattung an das konkrete Muster vor. Das hierbei gebrauchte Wort ,Realität‘ verweist darauf, dass ein Vorbild der Gattung im vorhandenen Werk besteht, das deren spezifische Merkmale aufweist. Genres existieren lediglich in dem Sinn, dass sie über Vorbilder und textuelle Vorlagen verfügen, von denen einzelne Ausgestaltungen markant abweichen können.

Darüber hinaus entwirft Schaller ein Gattungssystem für die mittelalterliche Literatur, das er am Einzelbeispiel des Epos erläutert. Er orientiert sich an der literarischen Rezeption und versucht, die Vollbringung eines schöpferischen Vorgangs mithilfe der Gattungskategorisierung sichtbar zu machen. Die bevorzugten formalen Kriterien werden bildlich als zwei Achsen dargestellt: Die Funktionsachse x verortet neun Umstände der Textrealisation und drückt mithin die Varianten des Rezeptionsvorgangs aus. Dagegen gibt die Sprachstrukturachse y ebenso neun mögliche neu formulierte Redekriterien. Die Schnittpunkte beider Achsen ergeben die jeweiligen Gattungen, die nachfolgend auf vier hierarchisch strukturierte Ebenen verteilt werden.45 Im Fall des Epos erfasst erstens die Ebene der Genus-Abstraktion ein allgemeines Gattungsverständnis (x = 5, y = 7; deklamatorisch-episch). Die Ebene des Subgenus umfasst zweitens seine Realisierung in variierenden Dichtungsarten (Epos, Epyllion, Epyllien-Kette, manche hagiographische Gedichte), die sich drittens auf der Ebene der Species in einer durch ein Modell geprägten Form entfalten (vergilianisierendes Epos). Auf der Ebene der Subspecies werden sie viertens durch inhaltliche und intentionale Kategorien differenziert (zeitgeschichtliches ←41 | 42→Epos, Heldenepos usw.). Damit werden die informalen Kriterien von Inhalt und Intention erst in der letzten Stufe aufgenommen: Offenbar sind sie separat von der thematischen, stofflichen und motivischen sowie ideengeschichtlichen Problematik zu behandeln, von denen diese Gattungsgeschichte grundsätzlich absehen soll.46

Nicht nur bezüglich der Anwendung auf das Epos,47 sondern auch wegen der fraglichen Angemessenheit für andere Gattungen, die unter anderem aus nicht vollständigen Erkenntnissen über die Darbietungsformen und Darbietungsumstände resultieren,48 fand Schallers Entwurf wenig Anerkennung. Dennoch lassen sich darin zwei Dimensionen nachweisen, nämlich ein Abstraktum, das einem Konzept entspricht, und ein konkretes Muster, das als literarischer Bezugspunkt fungiert. Das Konzept wird aus den zusammengestellten Merkmalen entwickelt, die einem Modelltext entnommen wurden; so kommt wieder ein wechselseitiges Zusammenspiel zum Ausdruck. Zweifelhaft ist an diesem Ansatz jedoch die Auswahl der Merkmale. Die kontextbedingte Ausgestaltung des Themas, des Stoffes, unterschiedlicher Motive und Ideen gehört zu den Faktoren einer literarischen Form, die relevant für die Analyse sind, und zwar ebenso wie die Gebrauchssituation und der rezeptive Kontext.49 Die Themen, Motive oder Stoffe sind ebenfalls als Muster zu betrachten, die ein Werk in die Textgruppen einordnen, so auch in die Gattungen, ←42 | 43→die sich wegen ihrer Offenheit (wie die wandelbaren Merkmale) überlappen dürfen. Darauf macht Kindermann aufmerksam: Statt sich um ein übergreifendes Gattungssystem zu bemühen, plädiert er für mehrere Systeme, die ein vernetztes Merkmalsspektrum aufweisen.50

Die Merkmale, die einen Gattungsbegriff herausarbeiten und einen Text in eine generische Gruppe einordnen lassen, können beliebig oft vorkommen. Orlemanski betont, dass eine Auflistung der Merkmale oder der typischen Vertreter einer Gattung nicht ausreicht, um zu verstehen, „[…] how genre works“:51 Die Gattungen zeigen sich nur in dem Sinn als festgelegte und geschlossene Systeme, als sie bestimmte Erwartungen aufseiten der Rezipienten erwecken, denen jedoch in einer überraschenden Weise entsprochen werden kann und welche die durch ein Gattungsmuster vorgegebenen Strukturen umwandeln können.52 Das strenge Schema Schallers weicht von der für ihn zentralen praktischen Umsetzung gewonnener Gattungskonzepte ab, da sie eine mögliche Interferenz mehrerer Konventionen vernachlässigt, die zum genuinen Zug lateinischer Dichtung wurde.53 Diese Gattungshybridität, die intergenerische Beziehungen ausnutzt, lässt sich in seinem Ansatz nicht fassen – man denke beispielsweise an den Waltharius, der zur Subspecies Heldendichtung gehört. Bei einer solchen Kategorisierung gehen die sinnstiftenden Bezüge auf die allegorische Dichtung und die Bibel verloren.54 Es besteht die Gefahr, dass ein derartiges Konzept als strenge Norm gilt und folglich eine pejorative Bewertung seiner Ausprägungsformen bedingt, die über diese Norm hinausgehen.

←43 | 44→

Darüber hinaus ist ein Werk, das sich als typischer Vertreter durchgesetzt hat, kein striktes Muster, das nur imitiert werden kann: So liefere die Aeneis, ein epochenübergreifendes Vorbild, (nach Ward) ‚at best a sub-text‘ für mehrere Ausprägungen der epischen Dichtung.55 Davon ausgehend, lässt sich eine epische, also auf die Aeneis zurückgreifende Tradition differenzieren, der weitere Gedichte folgen, wenngleich mit divergentem Zugang. Die Gattungen (und so auch die Epik) sind nämlich nach Knapp pragmatische Ordnungsbegriffe für die Vielfalt realer Texte, die nie isolierte Phänomene darstellen, sondern sich in einer immer unterschiedlichen Weise auf andere Texte beziehen.56 Die somit einleuchtende Wandlungsfähigkeit der Merkmale und der Genres, die den Verzicht auf die Kategorie der Gattung rechtfertigt,57 schließt ihre normative Wirkung aus.58

←44 | 45→

In diesem Kontext entsteht allerdings die Frage, welche Merkmale konstitutiv sind und welche nicht oder welchen von ihnen eine größere Bedeutung zukommt. Demnach neigt man zur Bestimmung, welches Werk dem gattungsspezifischen Merkmalsgebilde entspricht und welches bereits einem anderen Muster folgt. Es drängt sich also eine Gliederung der Eigenschaften auf. Ryan stellt einen Vergleich zwischen einer Gattung und einem Club her, wonach gattungsspezifische Merkmale den Mitgliedschaftsbedingungen gleichkommen. Verbindlich sind erstens die Eigenschaften, die sich für alle Vertreter der Gattung festmachen lassen. Zweitens kommen relative Merkmale in variierender Ausprägung in den Texten vor (‚a matter of degree‘). Besondere und doch vergleichbare Merkmale, die dem Gattungskonzept gemäß dem Ähnlichkeitsprinzip zusagen, platzieren drittens das Werk am offenen Rande der Gattung.59 Ihre Entwicklung wird durch die Verschiebung der Merkmale innerhalb dieser Kategorien bewirkt, aus einem Zusammenspiel zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen.60 Es ergibt sich ein flexibles Spektrum: Die gleichwertige Zulassung der relativen Merkmale wirkt einem strikten Ansatz entgegen, der eine Bestätigung oder Verweigerung der Gattungszugehörigkeit vorsieht. Gerade die Relativität und die Ähnlichkeit sind mit Blick auf die ‚unwritten poetics‘ für die generische Untersuchung instruktiv, weil sie eine vermittelnde Position zwischen den Vorgaben einer Gattung (oder einer instruktiven Poetik) und der personalisierten Poetik begünstigen und zudem die Wandlungsfähigkeit eines Gattungsmusters berücksichtigen. Die Merkmale sind die Orientierungspunkte, die bei der Werkanalyse eine pragmatische Funktion beanspruchen.61

Details

Seiten
646
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783034343732
ISBN (ePUB)
9783034343749
ISBN (Hardcover)
9783034343442
DOI
10.3726/b18896
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Dezember)
Schlagworte
Genre Epik Epos Vergil Ovid Gattung Dichtung Literaturtheorie ars poetica Mittelalter
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 646 S.

Biographische Angaben

Patryk Michał Ryczkowski (Autor:in)

Patryk Michał Ryczkowski studierte Rechtswissenschaften und Altphilologie an der Jagiellonen-Universität in Krakau und an der Universität Freiburg im Breisgau (2008–2014). Er wurde 2018 an der Universität Göttingen im Fach Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit promoviert. Seit 2020 ist er als Projektmitarbeiter im Bereich der Neulateinischen Studien an der Universität Innsbruck tätig.

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Titel: Das mittellateinische Epyllion
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