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Minne und Gnade in der «Klage» Hartmanns von Aue

von Sebastian M. Ostmeyer (Autor:in)
©2022 Dissertation 284 Seiten

Zusammenfassung

Die Klage Hartmanns von Aue ist das am wenigsten beachtete seiner Werke. In dieser Arbeit beleuchtet der Autor erstmalig, wie Hartmann zwei bestimmende Diskurse des Mittelalters zusammenführt: die höfische Minne und die christliche Anthropologie. Hierzu synchronisiert er die höfische Minne mit der augustinischen Gnadenlehre, deren konzeptueller Vorbildcharakter für die Klage bisher unbeachtet blieb. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mann und Frau im Minnedienst der Hohen Minne spiegelt folglich das Verhältnis zwischen Gott und dem glaubenden Menschen wider. Hartmann präsentiert sich so als poeta doctus mit starker Theologieaffinität, der in der Klage eine Symbiose aus zeitgenössischer Literatur, zeitgenössischen Diskursen und einer zeitgenössischen Theologie zu schaffen vermag.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Prolegomena
  • 1.1. Problemstellung
  • 1.2. Einführung
  • 1.3. Pragmatische Grundbedingungen
  • 1.3.1. Diskurs
  • 1.3.2. Höfische Minne
  • 1.3.3. Sacrum
  • 1.4. Vorgehensweise
  • 2. Textanalyse I – Hartmanns Minnedidaxe
  • 2.1. Zur Makrostruktur – Vorbild Augustinus
  • 2.2. Minne und menschliche Existenz
  • 2.3. Sprechen über Minne
  • 2.3.1. Paradoxe amoureux
  • 2.3.2. Ez ist ein klage und niht ein sanc
  • 2.4. Zwischenbericht
  • 3. Textanalyse II – Theologische Interferenzen
  • 3.1. Engführung Minnesang und christliche Tugendethik
  • 3.1.1. Minne und christlicher λόγος
  • 3.1.2. Die Minnedame als gotinne
  • 3.2. Minnegnade und augustinische Gnadenlehre
  • 3.2.1. Gnade als Prozess von Wahrnehmung und Erkenntnis
  • 3.2.2. Minne im Kontext dualistischer Existenzerfahrung
  • 3.2.3. Hartmanns Minnegnade
  • 3.3. Dialogische Spannung im Innen und Außen
  • 3.4. Minnekonzepte von Herz und Leib
  • 3.4.1. Die Seele als metaphysische Größe
  • 3.4.2. Die Frage nach dem Seele-(Herz-)Leib-Problem
  • 3.4.3. Minnekonzept Leib
  • 3.4.4. Minnekonzept Herz
  • 3.5. Kasuistische Inszenierung der Minne
  • 3.5.1. stæte
  • 3.5.2. triuwe
  • 3.5.3. güete
  • 3.6. Christlich-diskursive Implikationen des krûtzoubers
  • 4. Textanalyse III – Zyklische Komposition
  • 4.1. Anfang und Ende
  • 4.2. Omnia vincit amor
  • 5. Schlussbetrachtung
  • 5.1. got und diu werlt minnet in
  • 5.2. Der theologisierende poeta doctus
  • 5.3. Liebesdichtung im Horizont religiösen Erzählens
  • 6 Bibliographie
  • 6.1 Ausgaben
  • 6.2 Forschung
  • Reihenübersicht

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1. Prolegomena

1.1. Problemstellung

Wie Dichter und Autoren1 so haben auch ihre Texte und Werke ein Schicksal weite Verbreitung und Rezeption zu erfahren oder nicht. Die Klage Hartmanns von Aue hat zweifellos das letztere Schicksal erfahren: Ein sprachlich sublimer Text, hochgradig diskursiv in seiner Faktur, jedoch singulär in seiner Gattungskonstitution und literarischen Rezeptionsdynamik, der daher weitgehend aus dem Raster des Forschungsinteresses gefallen ist. Dieses Phänomen verwundert umso mehr, da Hartmanns Klage zwei der bestimmenden Diskurse der mittelalterlichen Gesellschaft aktualisiert und verhandelt: die höfische ‚Hohe Minne‘ und die christliche Theologie bzw. Anthropologie. Die Einmaligkeit des Textes, nicht nur innerhalb des Œuvres von Hartmann, sondern ebenso in der breiten Menge der mittelhochdeutschen Literatur sowie ihr hoher Grad an Gattungshybridität und Diskursverschmelzung rechtfertigen nicht die ‚stiefmütterliche‘ Behandlung durch die mediävistische Forschung.

Seit Beginn der Deutschen Philologie als akademisches Fach stehen Hartmann von Aue und seine Werke im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Die beiden höfischen Romane Erec und Iwein, aber auch die religiösen Legenden und Erzählungen vom Armen sündære Gregorius und der Arme Heinrich bilden vielfach die Basis für den sprachlichen Erstkontakt mit dem Mittelhochdeutschen und die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Literatur- bzw. Hofkultur. Doch auch bei einem sonst kanonischen Autor wie Hartmann von Aue weist die wissenschaftliche Wahrnehmung einzelner Werke ‚blinde Flecke‘ in der Gewichtung der Relevanz und Interpretation auf. Solch einen ‚blinden Fleck‘ stellt die Klage Hartmanns dar.2 Die Forschung hat bisher kein Modell für Hartmanns Text nachweisen können, weder in der provenzalischen oder altfranzösischen Literatur noch in der lateinischen. Zwar scheint es literarische Impulse und ähnliche Motive zu geben, aber keine konkreten Vorbilder ←11 | 12→wie für die Artusromane oder den Gregorius. Es ist daher von einer verlorenen Vorlage ausgegangen worden und von der Vermutung, dass Hartmann selbst aus verschiedenen Mustern eigenständig den auf die spätere Minnerede vorausweisenden Typus geschaffen hat.3 Es wird zu zeigen sein – dies sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen – welche Minnekonzeption genuin Hartmannscher Prägung sich in der Klage ausspricht und welche Perspektiven dies für die Wahrnehmung seines Gesamtwerks eröffnen kann.

Da nicht ‚sein kann, was nicht sein darf‘, haftet der Klage Hartmanns in der Tat bis in die gegenwärtige Textrezeption das Etikett des unausgewogenen, defizitären Frühwerks an, das – wohl gerade aufgrund seiner vermeintlich isolierten Erscheinung – bisher nur sporadisch ins Zentrum des Forschungsinteresses geraten ist. Mit Hess ließe sich lakonisch resümieren:

Doch solange die ‚Klage‘ weiterhin als Sonderfall der Hartmann-Forschung einer intensiven und breiten Auseinandersetzung entbehrt, wird das Bild eines von zeitgenössischen Dichterkollegen wie Gottfried von Straßburg und Germanisten gleichsam als Klassiker der deutschen Literatur anerkannten Dichters sowie das seines überlieferten Œuvres unvollständig bleiben.4

Die Pluralität der extrinsisch an den Text Hartmanns herangeführten Interpretationsangebote bezeichnet zugleich seine Problematik: Grundsätzlich ist die Tendenz einer Ausdifferenzierung einzelner Aspekte der Klage zu beobachten, so dass sich vier Interpretationslinien in der wissenschaftlichen Rezeption von Hartmanns Klage etabliert haben:

1.Unabhängig von einer Gattungsdiskussion betont die ältere germanistische Forschung repetitiv den ethischen Aspekt einer „höfischen Tugendlehre“ (de Boor) Hartmanns und verweist auf den damit einhergehenden didaktischen Impuls der Klage.5 Die theologische Dimension wird hier zugunsten einer vermeintlich höfisch-säkularen Ethik ausgeblendet und die Klage als „schlichte Minnelehre unterschätzt“ (Köbele).6

2.Das genaue Gegenteil davon findet sich in der Reduktion des Textes auf eine streng scholastische Perspektive, welche die Klage als rein theologische Disputation zwischen Herz und Leib liest und den Diskurs der Minne als Akzidens scholastischer Dialektik und Reflexion zu begreifen versucht.7

3.←12 | 13→Ebenso zeigt sich in der Klassifikation der Klage als reine Minnedidaxe eine Verengung der im Text angelegten Motivvarianz. Die Lektüre des Textes als eine bloß utilitaristische ‚Gebrauchsanweisung‘ des korrekten Minnedienstes wird ihr nicht gerecht.8

Diese drei Interpretationsansätze stärken die eigene Position, indem sie die motivischen Markierungen des Minnediskurses auf der einen Seite und die theologisch-augustinischen Implikationen auf der anderen Seite innerhalb der Klage vernachlässigen.

4.In der rezenten Forschungsdiskussion hat sich zum einen das Verständnis der Klage als „Gattungsexperiment“ (Köbele)9 durchgesetzt und zum anderen eine Schwerpunktverschiebung auf die Betrachtung der Dialogstrukturen sowie sprechaktmotivierte Subjekt-Konstitutionen innerhalb des Textes herausgebildet.10 Zwar wird in diesen Deutungsansätzen die Subjekt-Konstitution im Kontext der höfischen Liebe angesiedelt, allerdings wird zugleich darauf hingewiesen, dass der Primat der Minne, wie er in der Klage schon gleich zu Beginn inszeniert wird, zugunsten einer psycho-literarischen Selbst-Dissoziation aufgegeben wird.11

All diese Interpretationsangebote stehen – mehr oder weniger – gleichberechtigt nebeneinander und versuchen sich der Klage Hartmanns von Aue zu nähern, indem sie die unterschiedlichen Teilaspekte induktiv auf den Gesamttext projizieren. Hier zeigt sich das Problem: Den jeweiligen ausdifferenzierten Teilbeobachtungen mangelt es an integrativer Interpretationskraft im Bezug auf ein universales und systematisches Verständnis des von Hartmann verfassten Textes.

Der Verfasser der vorliegenden Studie sieht es vor dem Hintergrund dieses offenkundig noch immer bestehenden Forschungsdesiderats als sinnvoll ←13 | 14→an, den umgekehrten Weg zu gehen. Das bedeutet, dass einerseits ein genuin religiös-theologischer minne-Begriff aus der Klage extrahiert und dieses genuin Hartmannsche Minneverständnis – der Primat der Minne – andererseits als transzendente Weitung für die Deutung der minne im Gesamtwerks Hartmanns von Aue (als theologisierender poeta doctus) literarisch produktiv gemacht werden soll. An dieser Stelle soll keine Harmonisierung erzwungen bzw. der Eindruck hermeneutischer Eindeutigkeit vermittelt werden. Doch zeigen motivische Gestaltung, terminologische Diktion sowie dialektische Konzeption der Klage, dass sich eine umfassende theologische Vorbildung und Schulung Hartmanns in den historisch aktuellen philosophischen Diskursen in seinem Text niederzuschlagen scheint.

Die Kombination der verschiedenen Forschungsansätze unter dem zeitgenössischen literarischen Diskurs sowie dem gesellschaftlichen Konzept der minne als zentralem Topos und Motiv des Textes stellt ein Novum in der Auseinandersetzung mit Hartmanns Klage dar. In ihr aktualisiert er die mittelalterlichen Diskurse der Hohen Minne (als maßgeblichem Liebeskonzept) sowie der christlichen Anthropologie (des Sacrums). Das Fehlen eines provenzalischen bzw. altfranzösischen Prätextes oder einer lateinischen Vorlage erschiene im Rahmen einer solchen Deutungsperspektive nicht als nachteilig und der Text müsste aus diesem Blickwinkel auch nicht als defizitär aufgefasst werden. In eine solche Richtung denkt bereits Glier, wenn sie 1971 konstatiert:

Details

Seiten
284
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631876985
ISBN (ePUB)
9783631876992
ISBN (Hardcover)
9783631876435
DOI
10.3726/b19649
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (März)
Schlagworte
Gnadenlehre Augustinus Diskurs Theologie Minnekonzepte
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 284 S.

Biographische Angaben

Sebastian M. Ostmeyer (Autor:in)

Sebastian M. Ostmeyer studierte Katholische Theologie und Klassische Philologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie Germanistik und Musikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, wo auch seine Promotion erfolgte. Seit 2019 ist er dort Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Germanistische Mediävistik.

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