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Historische Jubiläen

Zwischen historischer Identitätsstiftung und geschichtskultureller Reflexion

von Christine Gundermann (Band-Herausgeber:in) Habbo Knoch (Band-Herausgeber:in) Holger Thünemann (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 276 Seiten

Zusammenfassung

Nicht nur Geschichte im Allgemeinen boomt, sondern vor allem auch die zyklische Auseinandersetzung mit ihr. Jubiläen, Erinnerungsjahre und Jahrestage sind daher eine der wichtigsten Triebfedern für die öffentliche Beschäftigung mit Geschichte. Sie thematisieren Geschichte als Ressource historischer Identitätsbildung. Die gegenwärtige Jubiläumskultur ist dabei aus verschiedenen historischen Praktiken und Traditionen entstanden und durch ganz unterschiedliche Geschichtskulturen beeinflusst worden. Im Fokus dieses Bandes stehen die gesellschaftlichen Deutungen in Form von Praktiken, Ritualen und kommunikativen Regeln, wie sie sich in Jubiläen und Gedenktagen zeigen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung: Öffentliche Jahrestage als geschichtskulturelles Phänomen (Christine Gundermann / Habbo Knoch / Holger Thünemann)
  • Novemberrevolution, Judenpogrom und Mauerfall. Der 9. November als zeitgeschichtlicher Erinnerungsort (Martin Sabrow)
  • Jahrestage zu 1989/90. Zwischen Geschichtsaneignung und Identitätsbildung (Frank Britsche)
  • Erstarrtes Ritual? Die Gedenkveranstaltungen zum 27. Januar im Deutschen Bundestag (Alexander Goebbels)
  • Zwei Claims, eine Universität? Das 100. Gründungsjubiläum der „neuen“ Universität zu Köln 2019 (Habbo Knoch)
  • Bimillenari. ‚Römische‘ Jubiläen im faschistischen Italien (Filippo Carlà-Uhink)
  • Das Tricentenari 2014. Der Mythos der Diada und die Konstruktion einer katalanischen Nation (Niklas Vogel)
  • Politik, Unterhaltung und Personalisierung. „Der Tag des Sieges“ in Russland 2015–2021 (Ekaterina Makhotina)
  • Beschweigen – Bejubeln. Historische Jubiläen in China (Peter Sturm)
  • Lernen aus der Geschichte? Historisches Lernen und historische Jubiläen zum Ende des Zweiten Weltkrieges (Markus Drüding)
  • Wozu noch historische Jubiläen? Wiederholung als gesellschaftliche Integrations- und Orientierungsressource (Saskia Handro)
  • Autor*innenverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Christine Gundermann/Habbo Knoch/Holger Thünemann

Einleitung: Öffentliche Jahrestage als geschichtskulturelles Phänomen1

100 Jahre Weimarer Republik, 80 Jahre Zweiter Weltkrieg, 70 Jahre Grundgesetz, 50 Jahre Mondlandung, 30 Jahre „Friedliche Revolution“: 2019 war eines der Jahre, in dem sich öffentlich begangene Jahrestage in einer besonderen Weise verdichtet haben. Solche Vergegenwärtigungen von Vergangenheit äußern sich in verschiedenen Formen: Sie können als Jubiläen gefeiert, als Gedenktage begangen oder als besonderes historisches Ereignis medial akzentuiert werden. Jede Gesellschaft verfügt über eigene Kalendarien und Topographien solcher öffentlichen Jahrestage oder Anniversarien, verbindet mit ihnen unterschiedliche Zwecke oder Bedeutungen und nutzt kulturell variante Praktiken, um sie zu begehen. Jahrestage öffentlich zu begehen, ist trotz des Ursprungs in Europa und im Westen ein globales Phänomen. So startete im März 2021 die indische Regierung mit einem Vorlauf von 75 Wochen zum 75. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung den Jubiläumscountdown „India@75“, um an die Geschichte des „progressive India and the glorious history of it’s people, culture and achievements“ zu erinnern.2

Öffentliche Jahrestage tragen seit längerer Zeit wesentlich zum allgemeinen Geschichtsboom bei: Besondere historische Ereignisse, Gründungstage, Geburtstage oder Gedenktage sind eine der wichtigsten Triebfedern für die öffentliche Beschäftigung mit Geschichte. Institutionen, Buchverlage und Medien mit einem historischen Schwerpunkt organisieren einen Teil ihrer Programme entsprechend bestimmter Daten, die als ,runde‘ Jahrestage oder gleich als herausgehobene Erinnerungsjahre ein besonderes Interesse hervorrufen oder versprechen. Nicht umsonst gehört der „Jubiläums-Journalismus“ zu den ökonomisch sicheren und breitenwirksamen Formen der ←7 | 8→Geschichtskommunikation.3 Die strukturierende Funktion von Jahrestagen für die Memorialisierung und Medialisierung von Vergangenheit reicht aber weit über die öffentlich begangenen Anlässe hinaus: So greift die Sendereihe „Eine Stunde History“ auf „Deutschlandfunk Nova“ wöchentlich Themen auf, die sich meist zu dieser Gelegenheit jähren, ohne im öffentlichen Bewusstsein unbedingt eine wesentliche Rolle zu spielen. Gerade in der digitalen Kommunikationswelt hat das an sich vertraute Muster, tageweise kalendarische Ereignisse hervorzuheben, eine neue Blüte erlebt: Einer der wichtigsten Einstiege mit historischem Bezug in den sozialen Medien ist der Hashtag #onthisday.

Allenthalben scheint sich eine seit dem Mittelalter vor allem in den westlichen Gesellschaften internalisierte Kulturpraxis zu intensivieren, bestimmte Ereignisse regelmäßig mit einem besonderen Aufwand zu begehen und sichtbar zu machen. Eine beträchtliche Zahl von Jahrestagen wird inzwischen eventisiert, performiert und medialisiert, nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch lokal, regional und international. Ein mehr oder weniger flexibler, diverser und reflexiver Kanon an Jahrestagen ist – nicht zuletzt abhängig von den politischen Rahmenbedingungen – zu einem entscheidenden Kanal für die selektive Vergegenwärtigung von Vergangenheit als öffentliche Geschichte geworden. Profitiert ,die‘ Geschichte davon zweifelsohne, so besteht innerhalb der Geschichtswissenschaft eine beträchtliche Skepsis gegenüber den Effekten eines solchen Agenda Setting. So spricht Achim Landwehr von einem „Jubiläumsfetisch“, Frank Bösch von einem „Bann der Jahrestage“.4 Auch der Geschichtsdidaktiker Markus Drüding versieht seine Formulierung einer „Gelegenheit zum historischen Lernen“ mit einem Fragezeichen.5 Sein Kollege Marko Demantowsky sieht uns gar einer „Jubiläumitis“ ausgesetzt.6

Tatsächlich verraten Verlagsprospekte historischer Fachbücher und Angebotstische in Buchhandlungen viel über eine ausgeprägte Orientierung der ←8 | 9→Vergangenheitsvergegenwärtigung an historischen Daten und einer Heraushebung ihrer Wiederkehr. Dies verläuft quer zum wissenschaftlichen Primat einer Dekonstruktion von Ereignisfixierung und Kausalitätschronologien, verkürzt aber auch das Denken in Phasen oder Epochen auf kürzere Zeiträume von Tagen oder längstens einem Jahr. Wenn auch manch anspruchsvolle, quellenfundierte und originelle Synthese mit Anniversarien verknüpft werden kann, steht doch meist eine öffentlichkeitskompatible Aufarbeitung von bekanntem Geschichtswissen im Vordergrund. Anlassbezogene Darstellungen, Bildbände oder Editionen treten in Konkurrenz zu dem nicht minder populären Genre der Überblicksdarstellung und der ebenfalls seit geraumer Zeit eine Hausse erlebenden historischen Biographie. Besonders eindrücklich war der Trend, Jahrestage zum Medienereignis zu machen, im Zusammenhang mit der 100. Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs zu beobachten: Eine ähnliche Fülle an Publikationen, Medienbeiträgen und Ausstellungen hat es in einer solchen zeitlichen Verdichtung bisher wohl zu keinem anderen historischen Jahrestag gegeben. Wenig später folgte dann schon der 500. Jahrestag der Reformation. Beide waren schließlich kaum noch Jahrestage im engeren Sinne, sondern sie entwickelten sich zu Erinnerungsjahren oder waren bereits so angelegt.

Dies zeigt bereits: Öffentliche Jahrestage lenken den Blick in einer bestimmten Weise auf die Vergangenheit. Als eine Konvention der geschichtskulturellen Aufmerksamkeitsökonomie steuern sie mit, was erinnert und was vergessen wird, welche Deutungen der Vergangenheit ausgesprochen, symbolisiert und in Ritualen aktualisiert werden. Sie können – wie der 50. Jahrestag der Novemberpogrome von 1938 – Katalysator geschichtskultureller Konjunkturen sein, gehen aber auch mit Hierarchisierungen und Leerstellen des öffentlichen Gedächtnisses einher, wie sie gegenwärtig unter anderem aus postkolonialer Perspektive thematisiert werden. Welche Funktionen erfüllen mithin öffentliche Jahrestage in geschichtspolitischer Hinsicht und für gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse? Welche bewussten oder unbewussten historischen Leerstellen sind mit einer Erinnerungspraxis verbunden, die sich an bestimmten Daten orientiert – und warum gelangen andere nicht in diesen Kanon? Wie pluralistisch sind Geschichtskulturen hinsichtlich des Zulassens, Reflektierens und Modifizierens von Jahrestagen, und was geschieht mit marginalisierten Dimensionen oder Ereignissen im Schatten solcher markanten Erinnerungsanlässe? Welche Implikationen hat zudem die „Suggestionskraft“ einer Übersetzung von Vergangenheit in die „Präzision und Faktizität“ eines ←9 | 10→Jahrestages, wie Winfried Müller es formuliert hat,7 für den Anspruch eines reflektierten Geschichtsbewusstseins, wenn der öffentliche Umgang mit Vergangenheit in hohem Maße durch eine ereignisbezogene Taktung in Fünf- oder Zehn-Jahresschritten bestimmt wird – und diese Tendenz eher zunimmt?8

Sieben Merkmale öffentlicher Jahrestage lassen sich dabei unterscheiden: Es handelt sich bei ihnen erstens um außeralltägliche Ereignisse innerhalb kulturell dicht codierter Zeitabläufe, die dazu dienen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf bestimmte historische Ereignisse und Personen zu fokussieren.9 Sie zielen darauf ab, das kollektive historische Gedächtnis von Gesellschaften zu synchronisieren und sind als sinnstiftende „Wiederholungsstrukturen“ angelegt.10 Entsprechende Veranstaltungen, aber auch die Medialisierung von Jahrestagen verdichten in einem definierten zeitlichen, oft auch räumlichen und performativen Rahmen die eigentliche Komplexität historischen Geschehens in Form einer gedeuteten Zeitordnung, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stabil und verlässlich miteinander zu verknüpfen verspricht. Aus der Rückschau wird in systemstabilisierender Absicht und unter Bezug auf den eigenen Standpunkt eine kommende Zeit als positiv besetzte Verheißung prognostiziert. Diese mit der öffentlichen Begehung von Jahrestagen verbundene Zielsetzung korreliert mit Merkmalen wie einer „gegenständlichen Erzählbarkeit“ und einer „narrativen Eindeutigkeit“,11 die mit Ereignissen verbunden sind oder ihnen im Rahmen von Deutungsakten zugeschrieben werden.

Anniversarien tragen dadurch zweitens zu einer historischen Rhythmisierung unserer Zeiterfahrung bei, die zwischen Tradition und Transformation changiert. Sie stellen einerseits ein Element der historischen Traditionsbildung dar, indem ein bestimmter Kanon an historischen Bezugspunkten im öffentlichen Raum reaktualisiert wird. Andererseits ist mit ihnen bei einer angemessenen Bereitschaft zu Selbstreflexion, Erweiterung und Veränderung, aber vor allem durch die Schaffung öffentlicher Gegenveranstaltungen zu anderweitig marginalisierten Ereignissen oder Personen ein gewisses Potenzial verbunden, ←10 | 11→um hegemoniale und tradierte Muster einer Geschichtskultur zu verändern. Forschungen zeigen jedoch, wie öffentlich begangene Anniversarien etablierte Geschichtskulturen immer wieder eher stabilisieren und die Inklusion neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse verhindern, wenn diese bekannte Meisternarrative zu stark herausfordern.12

Öffentlich begangene Jahrestage spiegeln drittens nicht nur die Geschichtspolitik und Geschichtskultur aktueller Gesellschaften wider, sondern geben durch ihre Pfadabhängigkeit auch Auskunft über historisch gewachsene und geschichtskulturell wirksame gesellschaftliche Hegemonien und Hierarchien. Darunter sind auch kulturelle Praktiken zu fassen, die bei entsprechenden Anlässen zum Tragen kommen. In der geschichtswissenschaftlichen Analyse dieser Phänomene geht es dementsprechend nicht primär um die neuesten Erkenntnisse zu den Referenzereignissen, sondern vor allem um die im Umgang mit dem Wissen über die Ereignisse entstehende Geschichtskultur. So ist unsere säkulare Jubiläumskultur durch religiöse Traditionen vorstrukturiert und von religiösen Elementen geprägt. Die performative Dimension öffentlicher Jahrestage sowie ihre rituellen Praktiken sind deshalb daraufhin zu untersuchen, in welchem Verhältnis sie zu Leitvorstellungen einer demokratischen Ordnung stehen. Vergleichende Betrachtungen in transepochaler und transkultureller, aber auch in synchroner und politisch-systemübergreifender Perspektive sind deshalb angezeigt, um Kontinuitäten, Muster und Differenzen herausarbeiten zu können.

Jahrestage werden viertens meist als geschichtspolitisches Instrument einer historisch fundierten Identitätsstiftung genutzt, wie dies auch die meisten der hier vorgelegten Beiträge thematisieren.13 Sie haben sich zumindest bis zum Ende des 20. Jahrhunderts durch eine starke nationale Fokussierung ausgezeichnet, die erst im 21. Jahrhundert in stärkerem Maße transnationale Züge angenommen hat. Auch hierfür ist das Zentenarium des Ersten Weltkriegs mit einer deutlicheren (west-)europäischen Ausrichtung ein gutes Beispiel.14 Dennoch bildet die Nation weiterhin die zentrale Referenzgröße. Wie hoch dabei ←11 | 12→der Beitrag solcher Ereignisse für die nationale Identitätsstiftung auch in der historischen Forschung veranschlagt wird, zeigt das Beispiel der Verfassungsfeiern in der Weimarer Republik: Sie konnten sich auf staatlicher Ebene nicht gegen die weitergepflegten monarchisch-nationalen Jahrestage aus der Zeit des Kaiserreichs durchsetzen und gelten als Beleg für die Integrations- und Legitimationskrise der ersten deutschen Demokratie.15 Zugleich ist damit die Frage verbunden, inwieweit und in welcher Weise öffentliche Jahrestage überhaupt zu einer demokratischen Identitätsbildung beitragen können, erweisen sich doch Jubiläumsperformanz und Identitätsreflexion oftmals als kaum miteinander vereinbar. Als besonders instruktiv erweist sich für diese Frage, den Blick von nationalen Jubiläumszeremonien auf die Ebene anderer Akteur*innen und Institutionen wie Kommunen oder Universitäten zu erweitern.16

Ob und wie Jahrestage begangen werden, ihr Stellenwert und ihre Deutungen sind fünftens historisch kontingent und – trotz der erheblichen Stabilität – grundsätzlich wandelbar: Ereignisse erweisen sich dann in besonderem Maße als erinnerungswürdig, wenn Konventionen, geschichtspolitische Prämissen und geschichtskulturelle Konjunkturen ihre Würdigung nahelegen oder befördern. Insbesondere mit dem Wechsel politischer Regime kommt es häufig – wie sich zum Beispiel am italienischen Faschismus oder dem Nationalsozialismus beobachten lässt – zur Überschreibung bestehender Erinnerungsdaten.17 Zugleich können Brüche im Konstrukt einer nationalen Einheitserzählung, wie sie etwa mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft sind, zur Skepsis gegenüber öffentlichen Jahrestagen per se beitragen und schließlich Gedenktage wie den 27. Januar als Ausdruck des „negativen Gedächtnisses“ hervorbringen, die weder begrifflich noch performativ mit dem kompatibel sind, was unter einem „Jubiläum“ in der Regel verstanden wird.18 Umgekehrt können bestimmte Ereignisse gezielt besetzt werden, um über Brüche und Dissonanzen hinaus eine solche Einheit gerade durch feierliche Rituale und festive ←12 | 13→Veranstaltungen zu postulieren, wie dies etwa in Russland im Zusammenhang mit dem 9. Mai 1945 geschieht.19

Öffentliche Jahrestage weisen sechstens – auch in den demokratischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts – spannungsreiche Strukturen von Gleichheit und Differenz, von Integration und Marginalisierung auf. So orientieren sich der öffentliche Kanon historischer Jahrestage und ihre Deutungen in der Bundesrepublik noch wenig an Diversitätskategorien wie gender und race. Für die Erinnerung an die beiden Weltkriege und geschlechtsspezifische Gewalterfahrungen, aber auch für generationelle Konflikte wie die „68er Bewegung“ oder revolutionäre Umbrüche wie den „Mauerfall“ lässt sich eine deutliche Hegemonie einer männlich geprägten Geschichte beobachten. Jüngste Diskurse um das seit langer Zeit unzureichende Erinnern an koloniale Verbrechen verweisen auf eine „koloniale Aphasie“, die verhindert habe, dass sich breitenwirksame Rituale zur Erinnerung an die kolonialen Verbrechen und deren Opfer entwickeln konnten.20 Es ist deshalb von zentraler Bedeutung, das komplexe Verhältnis von Erinnern und Vergessen im Zusammenhang mit Jahrestagen zu reflektieren.21 Nur scheinbar paradox, aber aus den Funktionsweisen dieses Phänomens erklärlich, geht es bei öffentlichen Jahrestagen jedoch kaum um eine komplexe Annäherung oder – anders als in anderen geschichtskulturellen Medien – um eine ,authentische‘ Einfühlung in die Vergangenheit etwa im Sinne einer Immersion, sondern um die zeitlich voranschreitende Entfernung vom Bezugsereignis, seine Einverleibung oder Überwindung.

Die Verantwortung für öffentliche Jahrestage auf nationaler wie regionaler Ebene liegt schließlich siebtens meist in staatlicher Hand. Aber das Spektrum der Verantwortlichen und Beteiligten reicht in der Regel weit darüber hinaus. Neben Unternehmen, Institutionen und Verbänden, die ihre Gründungsanlässe eigenständig begehen, kommt hierbei historischen Expert*innen,22 den Medien und der Zivilgesellschaft, in manchen Fällen aber auch Konsumanbietenden eine besondere Bedeutung zu. Der bisher noch zu wenig beleuchtete ←13 | 14→Zusammenhang von geschichtswissenschaftlicher Forschung und der konkreten Gestaltung von Jahrestagen lässt jedoch vermuten, dass Forschende nur in seltenen Fällen über fachwissenschaftliche Erkenntnisse deutliche Impulse zur Erneuerung oder Reflexion bereits etablierter Gedenkrituale setzen können. Gewichtiger scheint die Rolle von popularisierenden Medien zu sein, die auch im 21. Jahrhundert eher auf eine Komplexitätsreduktion setzen, statt offene Fragen zu formulieren. Häufig beteiligen sich – gerade in lokalen oder regionalen Kontexten – aber auch Angehörige der Zivilgesellschaft in affirmativer oder kritischer Absicht, flankierend oder als Impulsgeber*innen an der öffentlichen Ausgestaltung von Anniversarien.23 Deshalb ist es für die Erforschung zyklischer Erinnerungspraktiken wichtig, nach den Erinnerungsakteur*innen und deren politischer und gesellschaftlicher Intention zu fragen. Dies dient nicht zuletzt auch dazu, um die in jüngerer Zeit oft festgestellte, historisch aber – denkt man an die Nationalfeiern und Denkmalsetzungen des 19. Jahrhunderts – keineswegs neue Eventisierung von Anniversarien zu analysieren.

Details

Seiten
276
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631877180
ISBN (ePUB)
9783631877197
ISBN (Hardcover)
9783631860816
DOI
10.3726/b19657
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juni)
Schlagworte
Erinnerung Geschichte Gedenktag Gedenkjahr Geschichtskultur Public History Europa Deutschland
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 276 S., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Christine Gundermann (Band-Herausgeber:in) Habbo Knoch (Band-Herausgeber:in) Holger Thünemann (Band-Herausgeber:in)

Christine Gundermann ist Junior-Professorin für Public History an der Universität zu Köln. Sie verfasste zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Public History, zu Comics als Teil der Geschichtskultur und der deutschen und niederländischen Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert. Habbo Knoch ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität zu Köln. Er verfasste zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Geschichte der politischen Gewalt, des nationalsozialistischen Herrschafts- und Lagersystems sowie der Repräsentationen und kollektiven Erinnerung von Gewaltverbrechen nach 1945. Holger Thünemann ist Professor für Didaktik der Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichtskultur an der WWU Münster. Er verfasste zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Geschichtskultur, der geschichtsdidaktischen Schulbuchforschung und der historischen Lehr- und Lernforschung.

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