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Völkisch - Nationalsozialistisch - Rechtsradikal

Das Leben der Hildegard Friese - Teil 2

von Ulrich Linse (Autor:in)
©2022 Monographie 638 Seiten

Zusammenfassung

Diese Lebensbeschreibung könnte die harmlose Geschichte einer »höheren Tochter« aus deutschem Bildungsbürgertum mit teilweise jüdischen Vorfahren sein. Doch ihr Leben entgleiste, weil die politischen Lebensumstände in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht mehr mit traditionellen Antworten zu bewältigen waren. Das jugendbewegt-autonome Denken aber führte diese »moderne Frau« ins völkische Abseits. Das Buch beschreibt drei große zeitgenössische Phasen dieser Radikalisierung und zeigt die jeweiligen Gruppierungen mit deren »Führern«, in denen sie sich als Aktivistin bewegte. Es ist die Geschichte einer moralisch »blinden Liebe zu Deutschland«.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Dritter Teil 1933 bis 1945: Nationalsozialistisch
  • I. Bündische Jugend im Widerstand
  • Der „Großdeutsche Bund“ 1933
  • „Abmarsch in die Hitlerjugend“
  • Bündischer Nationalsozialismus: Erich Kulke
  • Eberhard Köbels Strategie: Freundeskreise statt Organisation
  • Der Ulmer „Freundeskreis Hamm“ in der Illegalität
  • Auf Tauchfahrt mit dem „U-Boot“
  • Keinen „Fremden Götzen“ dienen!
  • Distanz der schwäbischen „Freischar“-Mädel zum Nationalsozialismus?
  • Formen politischer Verfolgung
  • Mentale Militarisierung
  • Heinrich Roth: Bündische Haltung als Wehrmachtsideal?
  • NS-Resistenz der Konfessionellen Jugend
  • Die Bündelung des Bündischen in Ulm durch Max von Neubeck
  • Hans Scholls bündische Anfänge
  • Das bündische Ulmer „Jungvolk“ unter Max von Neubeck und Karl Ruth
  • Eine „typische bündische Erscheinung“: Ernst Reden
  • Der „bündische Eigensinn“ des Hans Scholl
  • Der Konflikt Max von Neubecks mit Hans Scholl
  • Bündische Kontinuität in der Ulmer „Mädelschaft“
  • Bündische Elemente bei Inge und Sophie Scholl
  • II. Einpassung in den Nationalsozialismus
  • Das Ende von Friedrich Schölls „Vogelhof“-Projekt
  • Mutter-Land: Ostpreußenfahrt 1933 und „Grenzkampf“
  • Eine völkische Zukunft für „Urmenschen“: Hermann Friese
  • „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ 1933
  • Bedrohung durch die „Nürnberger Gesetze“ von 1935
  • „Deutsche Glaubensbewegung“: Jakob Wilhelm Hauer
  • Bündische Jugend und die „Deutsche Glaubensbewegung“
  • Antisemitisches „Deutsches Christentum“
  • Völkische Schule und bündische Erziehung: Albert Betzold
  • Bündische und nationalsozialistische Lesart des württembergischen „Landjahrs“
  • Völkisches „Überkonfessionelles Christentum“: Karl Wizenmann
  • BDM-Führerin: Bündisch-nationalsozialistisches Gemeinschaftspathos
  • „Unpolitische Schulungsarbeit“?
  • Ostpreußenbesuch 1935 und Südtirolfahrten 1933 bis 1935
  • Hilfe für notleidende Südtiroler
  • NS-Mitgliedschaften: „Mit der Partei nichts zu tun?“
  • Die „Vernordung der Alpen“
  • Der „Bund Kinderland“: Thea von Teubern
  • III. Osteinsatz im Warthegau und Kriegsdienst
  • „Kriegseinsatz“ im bayerischen Schuldienst und Südtiroloption
  • „Marschbefehl“ nach Osten
  • „Umvolkung“ im Reichsgau Wartheland
  • Im „BDM-Osteinsatz“
  • Berufs-Nationalsozialist Hans Wilhelm Hammerbacher
  • „Volkstums“-Arbeit im Warthegau
  • Widersprüchliches Polenbild
  • Rassismus und Antisemitismus
  • Wehrmachtsführerin, der Hund Kuno und der „Endsieg“
  • „Kriegsgewinnler“
  • Kein Heldenleben: Heinrich Roth
  • Die „Stalingrad-Madonna“: Kurt Reuber
  • Vierter Teil 1945 bis 1978: Rechtsradikal
  • I. Rechtsradikale Sammelbewegung
  • „Am Rande“
  • Der „Odem des Teufels“
  • „Nun erst recht!“
  • Internment Camp und Volkskunst: Hans Wilhelm Hammerbacher
  • Völkische Kraftorte in Schwaben
  • Verlorene Heimat: Wilhelm Schloz
  • Auf Heimatsuche für Georg Stammler
  • Die „Aufrechten“
  • „Geistig fremd“: Hermann Gunderts Kritik der „Ärzte ohne Gewissen“
  • Politische Karriere eines Volksschullehrers: Friedrich Schmidt
  • Ammerlander Unterschlupf für Josef Mengele
  • Deutsche Jugendbewegung: Zukunfts- oder vergangenheitsorientiert?
  • Völkische Freundes-Treueschwüre: Friedrich Schöll und Georg Stammler
  • II. Frauendienst und Frauenlob
  • Letzte Dienste für den „alten Ritter“
  • Nachlassverwalterin für Georg Stammler
  • Völkischer „Feminismus“: Mutter für Deutschland
  • Wilhelm Pleyers Frauenlob
  • Trösterin des SS-Generals Wilhelm Bittrich
  • III. Gescheiterte „Entnazifizierung“
  • Spruchkammerverfahren: Vorlauf 1946 und Klageschrift 1947
  • Spruchkammerurteil 1948 und das „Nachverfahren“ 1949
  • Finanzielle und berufliche Nachkriegssituation
  • Nicht-christlicher „Sittenunterricht“ in Bayern
  • Absicht zur Rückkehr ins bayerische Schulleben
  • Erneuter Gymnasial-Schuldienst in Württemberg
  • IV. Rechtsradikale Organisationen
  • Die Sammelbewegung völkischer Reaktionäre
  • Neue deutschreligiöse Glaubenseinheit: Das erste Klüt-Treffen 1947
  • Der Jugend-Briefzirkel des Roelof de Jong Posthumus
  • Der erste „Jugendklüt“ 1948 und der Sturz des Roelof de Jong Posthumus
  • Die völkische Transformation der Freiprotestanten 1948 bis 1950
  • Der „Klüt-Kreis“ und das „Ewige Deutschland“
  • Herbert Böhmes und Friedrich Schölls „Deutsche Unitarier Religionsgemeinschaft“
  • Die Organisation der „Ehrenhaften“
  • Im „Roten Hahn“ am Münchner Stachus
  • Herbert Böhmes „Deutsches Kulturwerk Europäischen Geistes“
  • In der „Pflegstätte Ludwigsburg“
  • Jugendburg Ludwigstein: Völkisch-national(sozial)istische Freundes-Netzwerke
  • Das „Deutsche Kulturwerk“ auf dem Ludwigstein
  • Walther und Hinrich Jantzens „Arbeitskreis für deutsche Dichtung“
  • Erich Kulkes „Wandervogel Deutscher Bund“
  • „Deutsch-Wandervogel“: Hans Wilhelm Hammerbacher
  • V. Antidemokratische Erinnerungspflege
  • Wiederbelebungsversuche für Georg Stammler
  • Die 50-Jahr Feier „Meissnertag 1963“
  • Der andere Ludwigstein: Otto Bernhardi
  • Rückblick auf „Welun“ 1965 im Zeichen des Antikommunismus
  • Das Jahr 1968 beim Stammler-Freundeskreis
  • Georg Stammler und der Ludwigstein 1968
  • Einhundert Jahre Georg Stammler 1972
  • Die österreichische Parallelaktion
  • Der „Oststein“
  • „Heimrecht“ für einen Toten
  • Stammheim als Stammler-Gedenkort
  • „Ehrfurcht vor dem Leben“: Albert Schweitzer
  • Schluss: Radikalität
  • Zweierlei politische Radikalität
  • „Happy End“
  • Exkurs zur Quellenlage
  • Hildegard Frieses schriftlicher Nachlass und dessen Verbleib
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Personenregister
  • Dank
  • Anhang
  • Reihenübersicht

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I. Bündische Jugend im Widerstand

Der „Großdeutsche Bund“ 1933

Das Urteil des „Sondergerichts für den Oberlandesgerichtsbezirk Stuttgart in Stuttgart“ gegen Hans Scholl und andere wegen Fortsetzung der Bündischen Jugend vom 2. Juni 1938 hat die für die Nationalsozialisten Anfang 1933 bestehende Ausgangslage historisch richtig formuliert: „Vor der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus bestand in Deutschland und auch in Österreich eine große Anzahl von Jugendgruppen und Vereinigungen, die mit dem Sammelnamen ‚Bündische Jugend‘ bezeichnet wurden. Bei einzelnen guten Bestrebungen und einer mindestens teilweise vorhandenen völkischen Grundhaltung fehlte doch allen dieses Gruppen die Ausrichtung auf ein gemeinsames [zu ergänzen wohl: politisches] Ziel. Soviel Gruppen es gab, so viel Ziele und Führer gab es auch, jeder Bund war auf die Wahrung seines Eigenlebens bedacht, lediglich einige Jahre vor dem Umbruch gelang es dem Admiral von Trotha einen großen Teil dieser Gruppen, insbesondere die Freischaren und die deutschen Pfadfinderbünde im sog. ‚Großdeutschen Bund‘ zusammenzuschließen. Aus der deutschen Freischar ging auch der aus Stuttgart stammende Schriftsteller und Graphiker Eberhard Köbel hervor. Aus einer gewissen Opposition zu den Freischaren heraus gründete er am 1. November 1929 die deutsche Jungenschaft (kurz d.j.1.11).2150 Köbel, damals 22 Jahre alt, brachte in das bündische Leben einen neuen Charakter und gewann auf die bündische Jugend im allgemeinen, auch soweit sie nicht zur d.j.1.11 gehörte, einen großen Einfluss.“2151←429 | 430→

Die Feststellung: „Der 30. Januar 1933 änderte die Lage [für die ‚Freischar junger Nation‘]“,2152 ist bei aller Banalität irreführend. Denn: „Als Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler berufen wurde, änderte sich für die Bünde zunächst wenig […] Welche Rolle sollten die Bünde nach dem Sieg der ‚nationalen Opposition‘ spielen? Welche Möglichkeiten würden sich für das bündische Konzept der Elitenbildung nun ergeben? Die NSDAP gab auf diese Fragen keine Antwort, zu unwichtig waren die Bünde in den Wochen nach dem 30. Januar, in denen es der Partei zunächst um die Konsolidierung der Macht ging. Die Bünde dagegen waren für die intendierte Entwicklung zum ‚totalen Staat‘ weder eine primäre Gefahr noch eine Hilfe. So blieben sie zunächst sich selbst überlassen und konnten die Möglichkeiten prüfen, einen angemessenen Existenz– und Wirkungsrahmen im neuen Staat zu finden.“2153

Die gescheiterten Gespräche in Nürnberg 1929 zwischen Alfred Rosenberg, den Reichsleitungen der nationalsozialistischen Jugendbünde auf der einen Seite und den Führern der völkischen Bünde auf der anderen Seite zeigten, „trotz der starken nationalsozialistischen Durchdringung dieser Bünde“, dass wohl keine friedliche Einigung möglich war: „Bei aller Anfälligkeit gegenüber dem Gedankengut und der Propaganda des Nationalsozialismus waren die Bünde nicht bereit, auf Grund einzelner Übereinstimmungen ihr Eigenleben und ihre bündische Eigenart zugunsten der parteigebundenen HJ aufzugeben und sich der NSDAP und ihrem Führer Adolf Hitler bedingungslos zu unterstellen.“2154 Baldur von Schirach zog aus eben diesen gescheiterten Nürnberger Verhandlungen den Schluss, „das eine Verständigung mit den bündischen Führern niemals möglich sein würde“, und so verschrieb er sich „jenem Prinzip der Totalität der HJ, das im Jahre 1933 allen diesen Bünden ihr Eigendasein gekostet hat“.2155 Da ein freiwilliges Aufgehen der Bünde in der HJ also keine reale Option war, kam für Schirach nur deren erzwungene Gleichschaltung in Frage. In einem Schreiben an die Amtsleiter der NSDAP vom 8. März 1933 machte er klar: „Die Bünde sind Feinde des Nationalsozialismus (s[iehe] die Zeitschrift der Bünde ‚Die Kommenden‘, das schlimmste Hetzblatt gegen Hitler.)“ Er berief sich dabei auf ein angebliches Wort Hitlers selbst: „Wer nicht bereit ist, meinen Namen zu tragen (als Hitlerjunge), der wird auch nicht als Freund des Nationalsozialismus anerkannt.“ Die „bürgerlichen Bünde“ und „Grüppchen der Jugendbewegung“ seien „größenwahnsinnig“, da sie sich „dünkelhaft als ‚Auslese‘ ←430 | 431→bezeichnen“. „Der Nationalsozialist anerkennt nur die Hitler-Jugend als junge kämpfende Gemeinschaft des Nationalsozialismus.“2156

Es scheint aber, dass auch die Ulmer „Freischar junger Nation“ einschließlich HF an der Illusion festhielt, dass nach dem Januar 1933 dank Adolf von Trotha die Autonomie ihres Bundes im neuen Staat garantiert sei. „Im Februarheft der ‚Jungnationalen Stimmen‘ begrüßte Adolf von Trotha für die Freischar junger Nation die Einheit ‚der deutschen Freiheitsbewegung‘, wie sie sich in der neuen Regierung zeige. Damit seien nun endlich jene in ihren Zielen schon lange parallel agierenden Kräfte, ‚deren Ziel die deutsche Freiheit ist‘, auch in organisatorischer Hinsicht geeint. Trotha verstand die Entwicklung jedoch als offenen Prozess […] Die neue innenpolitische Lage wurde in der Freischar junger Nation also als Herausforderung, zugleich aber auch als Chance begriffen, um der bündischen Erziehung größere gesellschaftliche Geltung zu verschaffen.“2157 Da man von Trotha als einem Teilnehmer der Harzburger Front (Aufmarsch der antidemokratischen, rechtsradikalen Nationalisten im Oktober 1931) gute persönliche Verbindungen zum Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und zur Wehrmacht nachsagte, er außerdem seine Zustimmung zur neuen nationalsozialistischen Regierung unter Hitler bereits im Januar 1933 signalisiert hatte2158 und – nach seiner begeisterten Teilnahme als eingeladener Gast am „Tag von Potsdam“2159 – verstärkt die Bündische Jugend zur Unterstützung des neuen Regimes aufrief,2160 sahen seine bündischen Anhänger gerade deshalb in ihm weiterhin ein politisches Bollwerk zum Schutz der Bünde gegenüber den Gleichschaltungsgelüsten der Hitler-Jugend. Wie real letztere waren, zeigte etwa eine Presserklärung von Schirachs von Anfang März 1933: „Ich muss es […] im Einverständnis mit unserem Führer ablehnen, irgendeinen dieser Bünde als nationalsozialistischen Jugendbund anzuerkennen. Als solchen kennt die Bewegung einzig die Hitler-Jugend mit ihren Untergliederungen.“2161

Als Gegengewicht zur befürchteten Vereinnahmung durch die Hitler-Jugend als Staatsjugend schloss sich am 30. März 19332162 die „Freischar junger Nation“ ←431 | 432→mit anderen Bünden (nämlich der alten „Deutschen Freischar“, dem „Deutschen Pfadfinderbund“, den „Geusen“, der „Freischar deutscher Jungen“, den „Reichspfadfindern“, dem „Deutschen Pfadfinderkorps“, der „Ringgemeinschaft deutscher Pfadfindergaue“, der „Freischar deutscher Pfadfinder“ und der „Freischar evangelischer Pfadfinder“)2163 zum „Großdeutschen Bund“ zusammen, mit Adolf von Trotha als Bundesleiter dieses neuen Großbundes.2164 Nach von Trotha war der Zusammenschluss zum „Großdeutschen Bund“ „eine Glaubenstat der bündischen Jugend“.2165 Gleich nach der Gründung schickte von Trotha an Hindenburg, Hitler und den Reichswehrminister Werner von Blomberg Treuebekenntnisse.2166 Trothas Ziel war dabei eine dienende Eingliederung in die nationalsozialistische Bewegung2167 unter Bewahrung der bündischen Lebensform.2168 Dies bedeutete ganz konkret auch die Vorstellung, dass die großbündische Organisation innerhalb des nationalsozialistischen Systems neben der Hitler-Jugend selbständig weiterexistieren könne.2169 Eberhard Köbel sah deshalb in diesem Zusammenschluss zur Dachorganisation eine „Defensivmaßnahme […], diktiert von der Furcht vor der Staatsjugend. Der Schlag gegen die Bünde soll erschwert werden, indem man hinter der Person des Admirals in Deckung geht. Dieser wiederum hat Interesse daran, den Stahlhelmflügel zu verbreitern und die Bünde diesem dienstbar zu machen.“2170 Der „Großdeutsche Bund“ „war das finale Ergebnis jener Bestrebungen, deren Ziel seit mehr als einem Jahrzehnt ein Zusammenschluss der bündischen Jugend gewesen war; er ←432 | 433→war der Versuch, eine nationalsozialistische bündische Organisation zu schaffen; und er war ein Defensivbündnis gegen die intensivierten Attacken der konkurrierenden Hitler-Jugend“.2171

Die Bundesleitung der „Freischar junger Nation“ schrieb einen Tag nach Gründung des „Großdeutschen Bundes“ an ihre Gaue und Gruppen: „Das Bemühen um den großen Bund erlangte seine Bedeutung nach dem Geschehnis des 30. Januar […] Jetzt heißt es für die Bünde, ihre bisher geleistete Arbeit der nationalen Erneuerung nutzbar zu machen und ihre Aufgabe am Aufbau des Reiches im neuen Staat zu erfüllen.“ Nicht Selbstaufgabe der Bünde sei also das Ziel, sondern mittels der in Admiral von Trotha verkörperten „Einheit der Bünde“ kraftvoll beim politischen Neuaufbau mitzuwirken.2172 In einer „Erklärung“ informierte das „Bundeskapitel“ des „Großdeutschen Bundes“ am 1. Mai 1933 den Bund, er habe zwei vorrangige Ziele: Integration des Bundes in die nationalsozialistische Bewegung und Weiterbestehen der bündischen Bewegung: „Es ist die Pflicht der verantwortlichen Führung der NSDAP, diese [bündischen] Gemeinschaften nicht zu zerschlagen, sondern sich ihrer zu bedienen […] Wir kämpfen als bündische Menschen und Nationalsozialisten um den bündischen Lebensraum im neuen Staat.“2173 Konkret aber, so deutet von Hellfeld diese Politik, war es das Ziel der Bundesführung („Bundeskapitel“) des „Großdeutschen Bundes“, dessen Gruppen mit ihren 70.000 Jungen und Mädchen, korporativ in die HJ oder andere NS-Formationen (wie die SA) einzugliedern, während Admiral von Trotha weiterhin die Selbständigkeit des Bundes bewahren wollte.2174

Auch wenn die Führung der Hitler-Jugend jegliche Form der Koexistenz oder der Kooperation mit den Bündischen ablehnte (“Vernichtet die Bünde!“),2175 schien genau das von Adolf von Trotha angestrebte Arrangement mit der politischen Führung der Nationalsozialisten zunächst nicht unmöglich.2176 Es scheiterte aber nicht zuletzt am Durchsetzungswillen und, mit Hitlers Unterstützung, der Durchsetzungsfähigkeit des „Reichsjugendführers“ der NSDAP (das war zunächst ein reines Parteiamt) Baldur von Schirach. Anfang April 1933 machte sein Handstreich gegen die Berliner Geschäftsstelle des „Reichsausschusses der Deutschen Jugendverbände“, die er mit Duldung des Reichsinnenministeriums besetzen ließ und sich selbst als Führer des „Reichsausschusses“ einsetzte,2177 sichtbar, dass ←433 | 434→nun die Phase der gewaltsamen Gleichschaltung der Jugendverbände begonnen hatte.2178 Sie wurde durch von Schirach im April fortgesetzt mit der Gleichschaltung des „Reichsverbandes für deutsche Jugendherbergen“2179 und der „Mittelstelle deutscher Jugend in Europa“, der bisherigen Zentrale für die Grenzlandarbeit der Jugendbünde.2180 Jüdische und sozialistische Jugendorganisationen wurden aus dem „Reichsausschuss“ ausgeschlossen, die Kommunisten waren bereits verboten worden. Anhand der im „Reichsausschuss“ widerrechtlich angeeigneten Unterlagen verkündete Schirach, „das erdrückende Beweismaterial, das die Hitlerjugend dabei entdeckt habe, zeige, dass der deutschen Jugend aus einem Weiterbestehen der Bünde tödliche Gefahr drohe […] Jetzt standen alle Bünde in der Defensive.“2181

Nach dieser gewaltsamen Besetzung der Machtstellen der Weimarer Jugendpolitik stand für Schirach besonders die Auseinandersetzung mit dem mitgliederstarken2182 „Großdeutschen Bund“ auf der Tagesordnung. Zunächst suchte Schirach durch zahlreiche Kundgebungen in Deutschland die Jugendlichen zum Austritt aus dem Bund und vom Beitritt zur HJ zu überzeugen – wohlgemerkt nicht auf dem von der Bundesleitung gewünschten Weg des Kompromisses durch die korporative Eingliederung des „Großdeutschen Bundes“,2183 sondern durch dessen Auflösung von innen her. Schirachs großangelegte Agitation zeitigte aber nicht die gewünschte Wirkung.

Wie handelten die Ulmer Bündischen in dieser unsicheren Lage? Im Januar 1933 war HFs Ulmer Mädelgruppe ohne sie auf dem „Vogelhof“ und sie schrieb an Friedrich und Maria Schöll: „Ich freue mich so, dass meine Ulmer bei Euch waren. Ihr auch?“2184 HF hatte also immer noch eine emotionale Bindung an „ihre“ Ulmer Gruppe. Sie war bereits seit Juli 1932 im Schuldienst in Stuttgart.2185 Dort führte sie erneut eine Mädel-Gruppe (wohl: der „Freischar junger Nation“). Denn am 12. März 1933 gab sie Friedrich Schöll drei Adressen der „Eltern v[on] Mädeln in m[einer] Gruppe“, damit er bei ihnen für die „Vogelhof“-Schule werben konnte. ←434 | 435→Zwei der Eltern wohnten in Stuttgart, ein Elternpaar in Cannstatt.2186 HF selbst war dann im Mai 1933, vielleicht zusammen mit dieser Mädel-Gruppe, auf dem Vogelhof.2187 „Im schicksalhaften Jahr 1933“, schrieb Dürr rückblickend, „verhielten wir uns zunächst abwartend.“2188 Schon am 16. Lenzing [März] schrieb das Ulmer Freischar-Mitglied Götz Lauser in seinen Kalender: „Deutsche Freischar und N.S.D.A.P. verhandeln wegen Zusammenschluss.“2189

Anfang Juni 1933, zu Pfingsten, traf sich beim Truppenübungsplatz Munsterlager in der Lüneburger Heide die „Freischar junger Nation“ ein letztes Mal im Rahmen des dortigen Bundestags der „Großdeutschen Bundes“, bei dem die bisherigen Einzelbünde im neuen Einheitsbund des „Großdeutschen Bundes“ aufgehen sollten. Auch Vertreter der Ulmer „Freischar junger Nation“ nahmen teil.2190 Nach den Schlussappellen der Teilbünde am Pfingstsonntag-Vormittag „marschierten dann die Teilbünde zur Ausrufung des geschlossenen und einheitlichen Großdeutschen Bundes auf. Der Bundesführer, Admiral von Trotha, ließ als Zeichen des Bekenntnisses des Bundes zur nationalsozialistischen Revolution auf dem bis dahin leer gebliebenen Flaggenmast die Hakenkreuzfahne hissen.2191 Nach diesem symbolischen Unterwerfungsakt erklärte der Admiral, dass der Großdeutsche Bund freudig bereit sei, dem Staate zu dienen.“ Dieser aber müsse auch den „volksverwurzelten Kräften“ der deutschen Jugendbewegung künftig einen eigenen Raum gewähren.2192 Von Trotha dachte also keineswegs daran, in Munsterlager den neuen Großbund selbst aufzulösen.2193

Schirachs Antwort auf diese Kampfansage von Trothas erfolgte wenige Stunden später: Die Reichsleitung der Hitler-Jugend untersagte die Fortführung des Bundestreffens des „Großdeutschen Bundes“ und hob den im Gang befindlichen Bundestag umgehend auf.2194 Zwei Wochen später – am 17. Juni 1933 – verbot der zuvor am gleichen Tag von Hitler zum „Jugendführer des Deutschen Reiches“ (das war damit jetzt eine staatliche Dienststelle des Reiches) ernannte Baldur von Schirach diesen letzten großen national-konservativen Einigungsbund und seine ←435 | 436→Teilorganisationen (darunter auch die „Freischar junger Nation“); sein Vermögen mitsamt den Jugendheimen sollte von der HJ übernommen werden.2195 Von Trothas nachfolgendes Bemühen bei Hitler und Hindenburg, eine Rückgängigmachung des Verbots zu erreichen,2196 blieb nach einer Intervention Baldur von Schirachs bei Hitler am 23. Juni 1933 wirkungslos: „Der Herr Reichskanzler billigte in diese Besprechung [mit Schirach] die Auflösung des Großdeutschen Bundes sowie aller sonstigen Jugendbünde, soweit deren Auflösung zwecks Zusammenfassung in der Hitlerjugend [für eine einheitliche Erziehung] erforderlich ist.“2197 Erst daraufhin gab von Trotha am 28. Juni 1933 den „Letzten Befehl des Bundes“ aus, seine Mitglieder sollten sich sofort und freiwillig in die Formationen der Hitler-Jugend eingliedern, ohne dabei die Idee des Bundes aufzugeben.2198 Das „Bundeskapitel“ des „Großdeutschen Bundes“ hatte diesen Schritt ohne vorige Information der Leitung der „Deutschen Freischar“ und des „Deutschen Pfadfinderbundes“ dem Vizeadmiral von Trotha abgetrotzt, der sich bis zum Schluss geweigert hatte, den Befehl zum Eintritt in die HJ zu erteilen.2199

Harry Pross kommentiert: „Munsterlager war das Ende. Das begriffen alle.“2200 „Was die Organisationsgeschichte der Bünde angeht“, so die Schlussfolgerung von Rüdiger Ahrens, „war die entscheidende Zäsur der 17. Juni 1933. Durch seine Beauftragung als Reichsjugendführer und die Rückendeckung Hitlers hatte Schirach seit diesem Tag die notwendigen Mittel an der Hand, um die Jugendarbeit einzig und alleine nach seinen Vorstellungen auszurichten. Seit dem Verbot des Großdeutschen Bundes am selben Tag bestanden die größten und einflussreichsten Bünde nicht mehr. Die folgende Selbstauflösung der übrigen Bünde2201 zeigt, welchen Eindruck diese Vorgänge machten. In organisatorischer Hinsicht gab es die bündische Jugend seit Sommer 1933 nur noch mit vereinzelten Restbeständen.“2202 ←436 | 437→Von Hellfeld gewichtet die damaligen Vorgänge differenzierter: Während ein Großteil der Führerschaft des „Großdeutschen Bundes“ den Integrationskurs in Nationalsozialismus und HJ bejahte, habe es im Bund auch Gruppen und Einzelpersonen gegeben, die sich nicht in die Hitler-Jugend eingliedern wollten; es spreche vieles dafür, dass die HJ damals einem scharfem Konflikt mit dem „Großdeutschen Bund“ eher aus dem Weg gegangen wäre. Aber: „der Wille zur Integration in die Reihen der ‚nationalen Erhebung‘ im ‚Großdeutschen Bund‘ [war] stärker als die Sorge um die Aufrechterhaltung von Autonomie und Eigenverantwortlichkeit gegenüber der ‚Hitlerjugend‘.“2203

Auch HF wusste, was bevorstand: „Ich bin zu unserem (letzten?) Sonnwend dort [bei der Ulmer ‚Freischar junger Nation‘]“, schrieb sie Mitte Juni 1933 an Friedrich Schöll.2204 Heinrich Roth war selbst als schwäbischer Gauführer der „Freischar“ in Munsterlager zugegen, „wo eine Strohpuppe namens Schaldur von Birach verbrannt wurde. Auf der Heimfahrt kamen wir einen Tag in Haft. Dann war es aus.“2205 Leonore Dürr erfuhr vom erzwungenen Abbruch des Bundestages von Munsterlager in Ostpreußen, wo sie den Sommer 1933 verbrachte: „Bei der Sommersonnenwende einer ostpreußischen Gruppe der Freischar junger Nation, an die ich mich angeschlossen hatte, sagte einer der Kameraden: ‚So, wie wir jetzt über das Feuer ins Dunkle springen und nicht sehen, wohin unsere Füße treten werden, so gehen wir in eine dunkel von uns liegende Zukunft.‘“2206 Nach dem Verbot der „Großdeutschen Jugend“ und ihrer Teilorganisationen einschließlich der „Freischar junger Nation“ „entstand zunächst Orientierungslosigkeit“, sagt Dürr.2207

Details

Seiten
638
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631888018
ISBN (ePUB)
9783631888025
ISBN (Hardcover)
9783631879306
DOI
10.3726/b20104
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (August)
Schlagworte
Judentum Bund Deutscher Mädel Georg Stammler Geschwister Scholl Radikalisierung Jugendbewegung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 638 S.

Biographische Angaben

Ulrich Linse (Autor:in)

Ulrich Linse ist Historiker mit den Forschungsschwerpunkten auf alternative soziale Bewegungen vom Deutschen Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, insbesondere Anarchismus, Lebensreformbewegung, Jugendbewegung, Neureligionen und Umweltschutzbestrebungen. Bis zu seiner Emeritierung lehrte er an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München als Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte.

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Titel: Völkisch - Nationalsozialistisch - Rechtsradikal
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