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Virtual Reality in den Geisteswissenschaften

Konzepte, Methoden und interkulturelle Anwendungen

von Karsten Senkbeil (Band-Herausgeber:in) Timo Ahlers (Band-Herausgeber:in)
©2024 Sammelband 272 Seiten

Zusammenfassung

Virtual-Reality-Technologie birgt große Potenziale, Forschung und Lehre geisteswissenschaftlicher Fächer nachhaltig zu bereichern. Ihr Einsatz in Hochschulen ist dabei längst nicht mehr nur eine technologische Fragestellung. Mit dem Medium Virtual Reality werden theorie- und methodenbezogene disziplinäre Praktiken aus einer neuen Perspektive befragt. VR wird schon heute für außergewöhnliche experimentelle Settings und zur Wissenserschließung bzgl. neuartiger multimodaler Erfahrungen eingesetzt. Die Beiträge des Sammelbands geben einen Einblick in aktuelle Studien diverser Disziplinen an verschiedenen Hochschulen Europas. Der Band leistet damit einen Impuls zur Nutzung und Untersuchung immersiver Technologien in digitalen Forschungs-, Lern- und Lebenswelten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung: Von Avatargender bis Zeitmaschine – Virtual Reality in den Geisteswissenschaften (Karsten Senkbeil, Timo Ahlers)
  • Virtuelle Welten als Grenzobjekte technischer Systeme für Arbeits- und Lernprozesse (Simon Adler, Pia Bothe, Martin Kreyssig, Daniel Ackermann)
  • The Metaphysics of Communication in Virtual Reality (Keith Begley)
  • VR-Simulation(en) zur Förderung der Professionalität von Lehrkräften während der ersten Ausbildungsphase (Deborah Hennig, Birte Heinemann, Ilona Cwielong, Ulrik Schroeder, Sven Kommer)
  • The language of situated joint activity: Social virtual reality and language learning in virtual exchange (Gillian Martin, Breffni O’Rourke, Sina Werner)
  • Zwischen zwei Welten. Zum Verhältnis von Präsenz und Media Awareness während einer virtuellen Geländeführung (Olga Neuberger, Inga Lotta Limpinsel, Sandra Aßmann)
  • Experimenting Virtual Reality as an Enactive Educational Approach in Foreign Language Teacher Education: Perceptions and Recommendations (Virginie Privas-Bréauté)
  • Reisen in der Zeitmaschine – Historische VR-Anwendungen in der Kunstgeschichte (Patrick Rössler, Yvonne Brandenburger, Rolf Kruse, Aditya Madawana, Justin Richter)
  • (Un)doing Gender in Virtual Reality – Dekonstruktion von Geschlecht durch aktive Gestaltung von Avataren (Nora Schumann)
  • Communication in Hybrid Presence – Concepts for the Analysis of Social Virtual Reality in the Humanities (Karsten Senkbeil)
  • Embodied Learning in Virtual Reality (Axel Wiepke, Francesco Belli, Martin H. Fischer, Alex Miklashevsky)
  • L2 Vocabulary Learning in Virtual Reality Applications – Where We Are and Where We Are Going (Andreas Wirag)

Karsten Senkbeil, Timo Ahlers

Einleitung: Von Avatargender bis Zeitmaschine – Virtual Reality in den Geisteswissenschaften

1. Virtual Reality in den Geisteswissenschaften: Rahmenbedingungen, Potenziale, Ziele

Seit den späten 2010er-Jahren wird massenmarkttaugliche Hardware zur Immersion in virtuelle Realitäten (VR) vertrieben. Seitdem hat sich nicht nur unter Technik- und Innovationsenthusiast*innen schnell die Meinung verbreitet, dass diese Technologie großes Potenzial zeigt, den zwischenmenschlichen Austausch durch Überwindung physischer Distanz, aber auch das individuelle und soziale Lernen und Lehren in naher Zukunft zu erweitern und zu transformieren. Viele Wissenschaftler*innen, Dozierende und Studierende bemerkten nach ihrem Erstkontakt mit dieser Technologie, wie die Immersion – die Emulation von Dreidimensionalität durch Stereoskopie – und das Präsenzerleben an virtuellen Orten ihrer Disziplin bzw. ihrer Fachdidaktik neue Potenziale eröffnet (Zender et al. 2019, Radianti et al. 2020). Der vorliegende Sammelband beinhaltet gleich mehrere Beispiele für Nutzungsszenarien in den Geisteswissenschaften. Die Kopplung des biologischen Körpers mit einem virtuellen Avatar, welcher Körperbewegungen der Nutzenden in sechs Freiheitsgraden emuliert, dessen Aussehen aber, wenn überhaupt, nur lose mit dem analogen Ich verknüpft ist, wirft interessante Fragen u. a. zum Avatargender oder zur Deixis an der Schnittstelle von Identität und Körperempfinden im Bereich der interkulturellen Kommunikation auf (siehe Schumann, Senkbeil in diesem Band). Die Simulation von komplexen Objekten und Situationen in 3D erweitert unmittelbar den Werkzeugkasten der Kunst- und Technikdidaktik (siehe Adler et al. in diesem Band). Und das Besuchen virtueller Orte zu anderen (u. a. längst vergangenen) Zeiten, also die Nutzung von VR als „Zeitmaschine“, stellt einen offensichtlich motivierenden Ausblick für die Geschichtsdidaktik dar (siehe Rössler et al., Neuberger et al. beide in diesem Band).

Gleichzeitig erlebten jene Forschende und Didaktiker*innen dieselben Limitationen und Irritationen bei der Nutzung immersiver Technik, mit denen sich die interdisziplinären Virtual Reality Studies bereits seit den 1990er-Jahren kritisch und nur teils erfolgreich-problemlösend beschäftigen: die relative Unreife der Software, die für neue Hardware zur Verfügung steht, optimierungsbedürftige Benutzerfreundlichkeit bei der Mensch-Computer-Interaktion, Frustrations- momente mit Kabeln, dem Gewicht und allgemeinen Unannehmlichkeiten der Head-Mounted-Displays (HMD) sowie immersionsstörende technische Probleme und Cybersickness.

Vor diesem Hintergrund entstanden an vielen Hochschulen in Europa und weltweit kleinere und größere Forschungsprogramme, die sich dem Phänomen VR aus unterschiedlichen Fachdisziplinen näherten. Sie wurden geeint von einer grundsätzlich ähnlichen Arbeitshypothese, nämlich dass die rasante Entwicklung der VR als neuartiger Ort digitaler sozialer, interkultureller, sprachlicher und didaktischer Praxis neben der Wertschätzung der technologischen Innovation auch und insbesondere der konstruktiv-kritischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Begleitung und Reflexion bedarf. Dies entspricht der Agenda dieses Sammelbands, der disziplinenübergreifend umreißt, welchen Einfluss die VR auf die Geisteswissenschaften und, andersherum, die geisteswissenschaftliche Perspektive auf die Zukunft dieser Technologie hat.

2. Virtual Reality als Technologie und Medium

Technologisch betrachtet handelt es sich bei Virtual Reality (VR) um 3D- Computergrafik, die mittels sog. Head-Mounted Displays (HMD) von den Nutzer*innen stereoskopisch – mit je einem Bildschirm pro Auge – angesehen werden kann und die so ein dreidimensionales Raumempfinden erzeugt. Durch technologische Fortschritte bei der Datenentpackung können die erzeugten Grafiken inzwischen auch mit massentauglicher Hardware in Echtzeit an die Bewegungen des Geräts bzw. des Nutzenden angepasst werden. Dadurch entsteht die Illusion, sich in einem virtuellen Raum zu bewegen. Multisensorische Inhalte, die das Raumgefühl verstärken, sind i) sensorisches Feedback zu räumlichen Interaktionen, das die Nutzenden über vibrierende Handcontroller haptisch erreicht, und ii) dreidimensionaler Sound, der das visuelle 3D- Empfinden des Raums auditiv unterstützt. Durch das Tracken von Körperbewegungen über Eingabegeräte (HMD, Controller) können interaktive virtuelle Handlungen ausgeführt werden, wie z. B. das Ergreifen virtueller Objekte (vgl. Dörner et al. 2019, 14). Im Unterschied zu herkömmlicher dreidimensionaler Computergrafik kann die VR in senso-motorischer Echtzeitkopplung von 3D- Darstellung und menschlichem Körper (v. a. Hand, Kopf) aus der Egoperspektive der Nutzenden multimodal und immersiv erfahren werden (ebd., 15), d. h. als körperlicher Aufenthalt in einer virtuellen Welt (ebd., 18).

In der IT- und Unterhaltungselektronikbranche sind Entwicklungen in Gleichzeitigkeit, wenn unterschiedliche Entwickler ähnliche neue Produkte im selben Marktsegment platzieren wollen, nicht unüblich. Damit einher geht oft eine Auffächerung und Diversifizierung von Fachtermini zur Beschreibung der neuen Technik bzw. der neuen Medien, zum einen aus technologischen Gründen, zum anderen aufgrund des Marketings. So werden 360°-Grafiken (Fotos, Videos) und Augmented Reality trotz „virtueller“ Merkmale oftmals nicht unter Virtual Reality im engeren Sinne gefasst. 360°-Grafiken können zwar auch mittels HMDs stereoskopisch angesehen werden, Nutzer können mit ihnen aber nur eingeschränkt interagieren, da abgebildete Objekte nicht manipuliert oder Bilder und Videos nicht dreidimensional betreten werden können. Augmented Reality (AR) versetzt die Nutzer*innen nicht primär in eine virtuelle Welt, sondern reichert die analoge Welt mit virtuellen Objekten an (Dörner et al. 2019, 20). Diese scheinen über Geo-Tracking einen Platz in der realen Welt zu haben. Je nach technischer Lösung variiert also der Grad an technischer Überlagerung der Realität durch die Virtualität, was auch als Reality-Virtuality-Kontinuum beschrieben wird (ebd.). Im vorliegenden Sammelband wird der Begriff Virtual Reality teils in Abgrenzung, teils in Schnittmenge mit Nachbarbegriffen wie Extended Reality, Augmented Reality oder Mixed Reality genutzt. Die konkreten Bedeutungen wandeln sich kontext- und zeitabhängig, und die genannten Begriffe sind Strömungen und Konjunkturen unterworfen. Vor diesem Hintergrund scheint es uns wenig produktiv, eine trennscharfe Definition von Virtual Reality in Abgrenzung zu allen anderen Hardware- und Nutzungsoptionen vorzunehmen. Ein aktueller Trend weist in Richtung einer Betonung des Vermischens von digitalen Artefakten und realweltlichen Kontexten (Mixed Reality), und auch in diesem Sammelband argumentieren u. a. Begley und Senkbeil explizit gegen eine Interpretation der VR als hermetisch und isoliert vom ‚realen Leben‘. Gleichzeitig beschreiben viele VR-Nutzende (siehe z. B. Martin et al. in diesem Band) ihr Erleben als vollständiges „Eintauchen“ (also: die Immersion) ins Virtuelle, und versprachlichen ihre Eindrücke noch eher selten als „vermischte“ Realitätsempfindungen (z. B. Neuberger et al. in diesem Band). Daher bleiben weitere Entwicklungen, theoretische Rahmungen und empirische Forschung zu Einsatzszenarien dieser weiterhin jungen Technologien abzuwarten.

Zugunsten der medialen Betrachtung der Mensch-Computer-Interaktion in VR rücken in den vorliegenden Kapitelbeiträgen dieses Sammelbands die technischen Eigenschaften der genutzten Hardware allerdings eher in den Hintergrund. Im Zentrum der meisten Beiträge stehen die Nutzenden, ihr Erleben und Verhalten in der VR. Dies sollte mit Blick auf den Titel des vorliegenden Bands nicht überraschen, steht doch im deutschen Begriff „Geisteswissenschaften“ der „Geist“ als etwas äußerst Elusives und intrinsisch Nicht-Digitales im Zentrum. Im Englischen – „Humanities” – ist der Fokus auf den Menschen ebenso eindeutig. So nehmen alle in diesem Sammelband vorliegenden Beiträge die technologischen Grundlagen und Rahmenbedingungen der VR-Hardware und -software zwar ernst. Sie erörtern praktische Chancen, und berichten andererseits auch, teils implizit und teils explizit, von technischen Herausforderungen und pragmatischen Lösungen derselben. Spätestens beim Gewinn von Daten und der folgenden empirischen Analyse wird jedoch durchweg deutlich, dass die VR-Technik selbst nicht das Forschungsobjekt darstellt, sondern das grundlagenerforschende oder fachdidaktische Interesse primär dem Medium in seiner disziplinären Nutzung gilt. Dadurch bewegen sich die meisten Beiträge methodologisch auf festem Fundament innerhalb ihrer „Heimatdisziplin“, und damit auf den ersten Blick eher in der Peripherie der Virtual Reality Studies. Als Herausgeber des Bandes sind wir jedoch überzeugt, dass gerade der externe Blick auf eine Technologie und ihren Einsatz in geisteswissenschaftlichen Fragestellungen für den akademischen wie auch alltagspraktischen Umgang innovativ und zukunftsweisend sein kann.

3. Was zeichnet den Virtual-Reality-Einsatz in den Geisteswissenschaften aus?

Nähern wir uns der VR aus anwendungsorientierter Perspektive, insbesondere mit Blick auf die disziplinären Herangehensweisen in dem vorliegenden Sammelband, so lassen sich drei Kernkomponenten von VR bei ihrem Einsatz in den Geisteswissenschaften beobachten.

3.1. Immersion und Präsenz

Der hohe Immersionsgrad bei aktuellen HMDs korreliert für die meisten VR-Nutzenden mit einem intensiven räumlichen Präsenzempfinden, d.h. der virtuelle Raum sowie die Objekte, Distanzen und Bewegungen in ihm werden, zumindest von einem Teil des Bewusstseins, als real wahrgenommen (Lombard & Ditton 1997, Schubert et al. 2001, 2009). Für Experimente und Lehr-Lern-Erfahrungen, die einerseits Räume und dreidimensionale Objekte zum Thema haben, welche andererseits aber in physischer Realität nicht verfügbar, teuer, gefährlich oder nur sehr umständlich zu nutzen sind, erscheint VR daher eine ideale Lösung zu sein. Immersion und Präsenzempfinden sind kausal miteinander verknüpft (Bowman & McMahan 2009), aber nicht synonym. Begley, Neuberger et al. und Senkbeil diskutieren in diesem Band detailliert, was dies für den kognitiven Umgang mit virtuellen Artefakten und (virtuellen und realen) Menschen bedeutet.

Das Präsenzerleben ist in einigen der in diesem Band gesammelten Beiträge ein Mittel zum Zweck anderer Erkenntnisinteressen oder Lernziele, etwa im Beitrag von Adler et al., in dem die Nutzung des virtuellen Zwillings einer technischen Anlage didaktische „Abkürzungen“ verspricht, oder im Beitrag von Martin et al., in dem gezeigt wird, wie die Dreidimensionalität des geteilten virtuellen Raums koordinative Sprachhandlungen der VR-Nutzenden in einem interkulturellen Tandem-Setting elizitiert. Andererseits ist Präsenz selbst auch Untersuchungsgegenstand und Anstoß theoretisch-konzeptueller Erörterungen menschlicher Wahrnehmung, auch und gerade aufgrund seiner Eigenartigkeit, sowie der psycho-emotionalen Effekte, die von vielen Nutzenden berichtet werden. Zum Beispiel entwickeln in diesem Band Neuberger et al., ähnlich wie Senkbeil, Konzepte zur Erklärung geteilter bzw. hybrider Präsenz während der VR-Nutzung. Schumann stellt die Frage nach der Wahrnehmung des Avatargenders bzw. von Geschlecht bei ko-präsenten Avataren im virtuellen Raum. Begley hinterfragt die Dichotomie zwischen „virtuell“ und „real“ vor dem Hintergrund intensiver Präsenzwahrnehmung.

3.2 Körperlichkeit / sense of embodiment

Bei der Nutzung von VR-Hardware, die Immersion und Präsenz wie dargestellt herstellt, werden virtuelle, dreidimensionale Umgebungen durch multimodale Sensoren und Aktuatoren körperlich erfahrbar. Der organische, „autopoietische“ Körper (Maturana & Varela 1992) und dessen physische Umwelt werden in der VR durch digitale, „allopoietische“ Körper, sprich: Avatare (Ziemke & Sharkey 2001), transzendiert. Die alltägliche Erfahrung des Wahrnehmens und Handelns in und mit einem biologischen Körper (vgl. Zlatev 2013, 537) wird durch eine virtuelle Komponente augmentiert. Das Resultat, der sense of embodiment (Kilteni et al. 2012) in VR ist ein zentraler Untersuchungsgegenstand in theoretischen und empirischen Arbeiten. Zwar weist er große Schnittmengen mit dem Präsenzempfinden auf, doch nicht alle VR-Erfahrungen befördern oder nutzen die Möglichkeiten der (simulierten) Körpertranszendenz, weshalb ein sense of embodiment keine notwendige Ingredienz für den gewinnbringenden Einsatz von VR in geisteswissenschaftlichen Kontexten ist. Ein Blick auf die in diesem Band gesammelten Einsatzszenarien weist aber deutlich darauf hin, dass das Handeln und Bewegen des physischen Körpers im Einklang mit einem Avatar einen entscheidenden Einfluss auf kognitive, soziale, sprachliche oder lernpsychologische (also: geisteswissenschaftlich zu erforschende) Phänomene hat. So untersuchen etwa Wiepke et al. embodied learning in Augmented, Virtual and Mixed Reality, und Privas-Bréauté die Potenziale des Sprachenlernens in enaktiven VR-Lernumgebungen.

3.3 Multimodalität

Ein zentrales Charakteristikum von VR-Hardware ist, neben der Stereoskopie, die in der Regel sechs Freiheitsgrade umfassende Bewegung im Raum (6DoF), durch die sich ein Körper i) durch Translation entlang der X-, Y- und Z-Achse bewegen (schwenken, heben, wogen) und ii) durch Rotation zwischen den Achsenpaaren drehen (neigen, gieren, rollen) kann. Erst die Kombination aus Translation und Rotation sowie das Tracking von Kopfposition- und Bewegung sowie Körperausrichtung ermöglicht die egozentrische freie Bewegung im Raum. Die Technik zeichnet neben Kopf- auch Handbewegungen auf (sowie mittlerweile auch Fingerbewegungen und die Position weiterer Körperteile über flexibel nachrüstbare Positionstracker). Diese Bewegungen werden auf den Avatar und seine entsprechenden allopoietischen, virtuellen Körperglieder durch direkte Kopplung übertragen. Wo in Computerspielen mit Gamepad das Drehen des Sichtfeldes durch das manuelle Betätigen eines Controllerjoysticks bewirkt wird, führt in der VR ein Drehen des Kopfes zu einer unmittelbaren Drehung des Sichtfeldes in direkter virtueller Entsprechung. Dass also die Kopfbewegung die Software ebenso steuert, wie die klassischen Eingabegeräte – Gaming-übliche Thumbsticks, Knöpfe auf Daumen- und Zeigefingerhöhe, auf welche die heute gängigen VR-Produkte bislang nicht verzichten können oder wollen, – ist nur wenigen Nutzenden direkt bewusst. Diese erste Dimension der Multimodalität spielt in vielen experimentellen Kontexten eine zentrale Rolle, trägt sie doch unmittelbar zum sense of embodiment (siehe oben) bei.

Die zweite Dimension der Multimodalität ist technologisch weniger komplex, für all jene wissenschaftlichen Kontexte, die sich mit Kommunikation und Interaktion zwischen mehreren Nutzenden interessieren, aber mindestens ebenso wichtig. Alle heute gängigen VR-HMDs sind gleichzeitig Audio- Headsets, ausgerüstet mit Kopfhörern und Mikrofonen. Ein offener Voice-over-IP-Kanal ist Usus, und professionelle Social-VR-Umgebungen arbeiten mit der Simulation von Mimik und Lippenbewegungen aufseiten der Avatare, wenn die Nutzenden miteinander sprechen. Dies wird ergänzt durch die genaue Übertragung nonverbaler Kommunikation in Form von Kopf- und Handbewegungen während des Sprechens miteinander.

Die Multimodalität von Audio (3D-Sound, auch die Simulation räumlicher Nähe/Ferne im Live-Gespräch mit anderen Nutzenden) und Video (in 3D und mit Avataren) erhöht drastisch den Immersionsgrad im Vergleich zu vielen anderen, zweidimensionalen audiovisuellen Kommunikationstechnologien. Die in den meisten Fällen hinreichend intuitive Handhabung der Kommunikationskanäle (der Gesprächskanal ist i. d. R. stets offen, und die meisten Gesten werden „natürlich“ übertragen, ohne dass man dafür die Software aktiv bedienen müsste) macht kognitive Ressourcen frei für anderes, sei es das Lernen von fremdsprachlichen Vokabeln (Martin et al., Wirag beide in diesem Band), das realitätsnahe Verstehen von technischen Anlagen (Adler et al. in diesem Band), oder das Nachdenken über uneindeutige Gendermarker (Schumann in diesem Band).

4. Herausforderungen und kritische Perspektiven

Medientheorien betonen in aller Regel die Erkenntnis, dass jedes Medium, das Kommunikation (zwischen Mensch und Mensch oder zwischen Mensch und Maschine) ermöglicht, stets auch Restriktionen und Limitationen unterworfen ist. Diese Limitationen wahr- und ernstzunehmen gehört zum konstruktiv-kritischen Blick auf neue Medientechnologien, insbesondere, wenn es sich um eine relativ junge, wie die VR, handelt.

Details

Seiten
272
Erscheinungsjahr
2024
ISBN (PDF)
9783631896068
ISBN (ePUB)
9783631896075
ISBN (Hardcover)
9783631896051
DOI
10.3726/b22222
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Oktober)
Schlagworte
Vocabulary Learning in VR Interkulturelle Kommunikation Virtuelle Welten VR-Simulationen virtuelle Geländeführung Digitalisierung Virtuelle Umgebungen VR Studies Präsenz Embodiment Avatar Intercultural Communication VR-Didaktik VR-Technologie Humanities
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2024. 272 S., 31 farb. Abb., 4 s/w Abb., 7 Tab.

Biographische Angaben

Karsten Senkbeil (Band-Herausgeber:in) Timo Ahlers (Band-Herausgeber:in)

Karsten Senkbeil ist habilitierter Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle Kommunikation der Universität Hildesheim. Zuletzt leitete er das Drittmittelprojekt „The Humanities in Virtual Reality (HumaniVR): Methodenentwicklung und Anwendungspotenziale der Virtual Reality für die Geisteswissenschaften“. Timo Ahlers ist promovierter Akademischer Mitarbeiter in der Lehrkräftebildung – Deutsch am Department für Bildungswissenschaften der Universität Potsdam. Er ist Initiator der interdisziplinären Forschungsgruppe „Hololingo!“ zu Sprachenlernen in Virtual Reality.

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Titel: Virtual Reality in den Geisteswissenschaften