Lade Inhalt...

Waffe oder Brücke?

Willis Conover und der Jazz im Kalten Krieg

von Rüdiger Ritter (Autor:in)
©2023 Habilitationsschrift 906 Seiten
Reihe: Jazz under State Socialism, Band 10

Zusammenfassung

Über vierzig Jahre lang brachte Willis Conover ab den 1950er Jahren allabendlich den Jazz via Kurzwelle in die Welt. Besonders in den ehemaligen Ostblockländern wurden Conover und seine Sendungen zu einem Mythos. Während die Kulturpolitiker beider Seiten versuchten, Jazz als Propagandawaffe zu nutzen oder ihn zu bekämpfen, bildeten die entstehenden Jazzkontakte eine wichtige kulturelle Brücke zwischen Ost und West. Diese Doppelfunktion des Jazz als Waffe oder Brücke analysiert das Werk anhand von bislang ungenutztem Archivmaterial aus den USA, Russland und den wichtigsten ehemaligen Ostblockstaaten sowie Conovers Nachlass und Zeitzeugenberichten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Einleitung
  • 1. Jazz als kulturpolitisches Mittel im Kalten Krieg
  • 2. Das Fallbeispiel: Willis Conover
  • 3. Ziele
  • 4. Fragen
  • 5. Forschungsstand und Verortung der Arbeit
  • 5.1. Kalter Krieg und cold war studies
  • 5.2. Diplomatiegeschichte und Kulturpolitik
  • 5.3. Medienwissenschaften, speziell Forschungen zum Radio
  • 5.4. Jazzgeschichtsschreibung
  • 6. Transnationale und vergleichende Vorgehensweise
  • 6.1. Transnationalität
  • 6.2. Vergleich und Verflechtung
  • 7. Untersuchungsort und -zeit
  • 7.1. Betrachtete Länder
  • 7.2. Betrachteter Zeitraum
  • 8. Quellen
  • 9. Aufbau der Arbeit
  • Kapitel 1: Jazzmusik und Diplomatie
  • 1. Politische Musik und Propaganda
  • 1.1. Politische Musik
  • 1.2. Propagandabegriff
  • 1.2.1. Propagandabegriff in den USA
  • 1.2.2. Propagandabegriff in der Sowjetunion bzw. im Marxismus-Leninismus
  • 1.2.3. Strukturelle Probleme im Ostblock im Umgang mit empirischer Forschung
  • 1.2.4. Strukturelle Probleme in den USA mit dem Propagandabegriff
  • 1.2.5. Der Gebrauch des Reizworts Propaganda als strategischer Schachzug
  • 1.3. Conovers Sendungen als „Jazz-Propaganda“?
  • 2. Jazz und Radio im Zweiten Weltkrieg: Ein Vorspiel zur Jazzverwendung im Kalten Krieg
  • 3. Die Zeit zwischen Kriegsende und Beginn des Kalten Kriegs
  • 3.1. Europäischer Aufbruch: Die Anwesenheit des Jazz in Europa in West und Ost
  • 3.2. Die neue Rolle der USA und der Sowjetunion
  • 3.3. Kampf der neuen Supermächte mit der europäischen musikalischen Hochkultur
  • 3.3.1. Die Idee einer musikalischen Hochkultur in der Sowjetunion
  • 3.3.2. Der kulturelle Minderwertigkeitskomplex während des Kalten Kriegs
  • 4. Veränderungen durch den Beginn des Kalten Kriegs
  • 4.1. Veränderungen in den Ostblockländern: Jazz in der Kulturpolitik Ždanovs
  • 4.1.1. Übernahme der Anti-Jazz-Ästhetik durch die Satellitenstaaten
  • 4.1.2. Repressionen gegen den Jazz
  • 4.1.3. Scheitern des Konzepts einer musikalischen Alternative zum Jazz
  • 4.1.4. Beispiel: Amerikanische Musik im Nachkriegspolen
  • 4.2. Veränderungen in den USA
  • 4.2.1. Neubestimmung der Funktion der Jazz im eigenen Land
  • 4.2.2. AFN: Die Entdeckung der Strahlkraft des Jazz im Ausland
  • 4.2.3. Jazz als cold war weapon der USA
  • 4.2.4. Sowjetische Kulturarbeit als Bedrohung der USA?
  • 4.2.5. Das Konzept der Arts Diplomacy
  • 5. Jazz in der Entstalinisierung: Auf dem Weg zu einer neuen sozialistischen Jazzpolitik
  • 5.1. Stürmischer Aufbruch in Polen
  • 5.2. Verhinderter Aufbruch in der DDR
  • 5.3. Langsamer Aufbruch in der Sowjetunion
  • 5.4. Gehemmter Aufbruch in der ČSSR
  • 5.5. Allmählicher Aufbruch in Ungarn
  • 6. Ausgangslage zu Beginn von Conovers Sendung
  • Kapitel 2: Jazz im Radio
  • 1. US-amerikanische Radiopolitik
  • 1.1. Organisation der US-amerikanischen Auslandsradiolandschaft
  • 1.2. Ziele
  • 1.3. Jazz-Sendungen als Werbung für die USA: Leonard Feather
  • 1.4. Die Entstehung von Conovers Sendung
  • 2. Jazz-Radiopolitik der Ostblockstaaten
  • 2.1. Die Radiolandschaft in den staatssozialistischen Ländern
  • 2.1.1. Sowjetunion
  • 2.1.2. Polen
  • 2.2. Ziele
  • 2.3. Reaktion auf die Auslandssender des Westens
  • 3. Radiotechnik als Schauplatz des Kalten Kriegs
  • 3.1. Radioempfangsgeräte als Instrumente des Kalten Kriegs
  • 3.2. Jamming
  • 3.3. Conovers Sendung im sowjetischen Störsendersystem
  • 4. Jazz im Radio der Ostblockländer
  • 4.1. Jazz-Sendungen als Werbemittel
  • 4.2. Abwehrsendungen im Stalinismus gegen den Jazz
  • 4.2.1.Muzyka i Aktualności: Westliche Musik als Lockvogel
  • 4.2.2.Fala 49: Kampf gegen den Jazz
  • 4.3. Alternativen: eigene Sendungen mit Jazz
  • 4.3.1. in der Sowjetunion: Radioklub Metronom
  • 4.3.2. Vom Vorteil der Peripherie – Jazz im estnischen Radio der Sowjetzeit
  • 4.3.3. Jazz-Radiosendungen in Polen
  • 4.3.4. Jazz-Radiosendungen in Ungarn
  • 4.3.5. Jazz-Radiosendungen in der ČSSR
  • 4.3.6. Jazz-Radiosendungen in der DDR
  • 5. Gegenseitiges Lernen vom Gegner
  • 6. Parallele Verwendung der „Waffe Jazz“ im Radio in Ost und West
  • Kapitel 3: Conovers Radiosendungen
  • 1. Sendeformate Conovers
  • 1.1.Music USA - Jazz hour
  • 1.2.Special English / World Wide English
  • 1.3.Music with Friends
  • 1.3.1.Music with Friends für Polen – Andrzej Jaroszewski
  • 1.3.2.Music with friends für Indien
  • 1.3.3.Music with friends für Ungarn
  • 1.4.Willis Conover’s World of Music / Świat muzyczny Willisa Conovera
  • 1.5. Sendeformate für Ungarn
  • 1.6. Sendeformate für die Sowjetunion
  • 1.6.1.Special Jazz Program For Russian Service
  • 1.6.2.Conversations with Conover und Melodies of America
  • 1.7.House of Sounds
  • 1.8.History Of Jazz (Georgian Service)
  • 1.9. Sendeformate für die USA
  • 2. Produktionsbedingungen, Situation im Radiosender
  • 3. Kosten von Conovers Tätigkeit
  • 4. Aufbau einer Sendung, Mechanismen der Wirkung
  • 5. Conover als Förderer des Musikeraustauschs
  • 5.1. Die Berklee School of Music
  • 5.2. Conovers Unterstützerleistungen
  • 5.3. Wechselseitige Unterstützung: Willis Conover und Adam Makowicz
  • 5.4. Musiker in Conovers Sendungen
  • 6. Conover und das Fernsehen
  • Kapitel 4: Person Conovers
  • 1. „Čelovek – golos“: Die Faszination des Akustischen
  • 1.1. Stimme
  • 1.2. Sprechweise
  • 1.3. Conover als Radiomoderator außer Konkurrenz
  • 2. Der Mensch Conover
  • 2.1. Jazzradiomachen – ein Ordnungsfaktor in Conovers Leben
  • 2.2. Gewissenhaftigkeit, Genauigkeit, Professionalität, Sachkenntnis
  • 2.3. Egomane Züge?
  • 2.4. Suche nach dem Ausgefallenen, Ungewöhnlichen, Skurrilen
  • 3. Conovers Jazzbegriff
  • 3.1. Von der „Musik Amerikas“ zur „internationalen Sprache“
  • 3.2. Jazz als Teil einer zu schaffenden amerikanischen Hochkultur
  • 3.3. Improvisation, Freiheit und Demokratie
  • 4. Conovers Vorlieben
  • 4.1. Conover – ein Verkünder der stilistischen Avantgarde oder ein musikalisch Konservativer?
  • 4.2. Conovers besondere Beziehung zu Polen
  • 4.3. Conovers Antipathie gegen Rock’n’Roll und Rock
  • 5. „Nur“ ein Radiomoderator?
  • 5.1. Unpolitisch und offen – oder Kalter Krieger mit doppeltem Boden?
  • 5.2. Conovers Vorstellung von Propaganda und Cultural diplomacy
  • 5.3. „Ideological wrestling“
  • 5.4. Conover als Jazz-Vermittler
  • 5.5. Die Konstruktion „freier Mitarbeiter“
  • 6. „Unser Gott“ – oder „ganz gewöhnlicher Amerikaner“?
  • 6.1. Conovers Selbstbild: Ansätze zu einer Autobiographie
  • 6.2. Der Topos des in den USA unbekannten Amerikaners
  • Kapitel 5: Hörer, Hörerforschung
  • 1. Hörerforschung
  • 1.1. Ziel der Radiopolitik im Kalten Krieg: Beeinflussung des Radiohörers
  • 1.2. Wurzeln der US-amerikanischen Hörerforschung
  • 1.2.1. Beförderung der Sowjetologie durch die Hörerforschung
  • 1.2.2. Hörerforschung bei VoA / Music USA
  • 1.3. Wurzeln der Hörerforschung in den Ostblockländern
  • 1.3.1. Beginn der Hörerforschung in der Sowjetunion
  • 1.3.2. Das polnische OBOP und die Entstehung einer Hörersoziologie
  • 2. Der Hörerbrief zwischen Mittel der Hörerforschung und politischem Steuerungsinstrument
  • 2.1. bei VoA
  • 2.2. Der Hörerbrief als Legitimationsinstrument der Propagandastrategen
  • 2.2.1. bei VoA
  • 2.2.2. im Ostblock
  • 3. FOMUSA – ein Projekt Conovers zur Hörerbindung
  • 3.1. Die weltweite Jazzhörerschaft als Fanclub Conovers
  • 3.2. Conover im Zentrum eines Hörernetzwerks
  • 3.3. Die FOMUSA-Newsletter als Forum für Conover zur Verbreitung seiner Ansichten
  • 3.4. Der globale Jazzdiskurs als von Conover gelenkte Veranstaltung
  • 3.5. „Indoktrination ohne Propaganda“
  • 3.6. FOMUSA-Projekt als gelungenes Mittel zur Hörerbindung
  • 4. Hörertypologie
  • 4.1. Wie viele Hörer gab es?
  • 4.2. Wo wurde die Sendung gehört?
  • 4.2.1. Europa
  • 4.2.2. Arabische Länder und Israel
  • 4.2.3. Afrika
  • 4.2.4. andere Erdteile
  • 4.3. Wer hörte Conovers Sendung?
  • 4.3.1. aktive Musiker
  • 4.3.2. Jazz-interessierte Hörer, Amateure
  • 4.3.3. Alter und Bildung von Conovers Jazzhörern
  • 4.3.4. Jugend, Jugendkulturen, Szenen: stiliagi und šestidesjatniki
  • 4.3.5. Conovers Sendung – ein Generationenerlebnis?
  • 4.3.6. Gab es den Typus des Osteuropäischen Hörers?
  • 4.4. Wie wurde die Sendung gehört?
  • 4.4.1. Hörertreue
  • 4.4.2. Hörtechniken aktiver Musiker
  • 4.4.3. Hörgewohnheiten von Jazz-Interessierten und Amateuren
  • 4.4.4. Eher eine Form für Rock als für Jazz: Prywatki in Polen
  • 4.4.5. Hörgemeinschaften als kulturelle Akteure
  • 4.5. Womit? Geschichte der Radiotechnik als Kulturgeschichte
  • 4.5.1. Radiogeräte und ihr Mythos
  • 4.5.2. Tonbandgeräte, Aufnahmegeräte
  • 4.5.3. Der Český Fonoklub: Mitschnitte ganz offiziell und organisiert
  • 5. Das Jazzhörerpublikum im Ostblock: Selbstbewusste Konsumenten des Angebots
  • Kapitel 6: Conover als reisender Jazz-Diplomat
  • 1.Jazz diplomacy – von einer Einbahnstraße hin zum wechselseitigen Kulturtransfer
  • 2. Conovers Entdeckung des Jazz hinter dem Eisernen Vorhang
  • 2.1. Der ungarische Aufstand von 1956 und der Jazz-Emigrant Gábor Szabó
  • 2.2. Das Newport Jazz Festival und Conovers Entdeckung des osteuropäischen Jazz
  • 3. Sondierung des Terrains für die amerikanische jazz diplomacy
  • 3.1. Conovers Reise von 1959 nach Nordafrika, Westdeutschland, Skandinavien und Polen
  • 3.1.1. Aufenthalt in Westdeutschland
  • 3.1.2. Der Abstecher nach Polen
  • 3.2. Conovers Reise von 1960 nach Ägypten, Nahost, Türkei, Griechenland, Jugoslawien
  • 3.2.1. Türkei
  • 3.2.2. Jugoslawien
  • 3.3. Resümee der beiden Reisen
  • 3.4. Die Reise von Trzaskowski und The Wreckers in die USA
  • 4. Conover und das Jazz-Netzwerk in Europa
  • 4.1. Der Ausgangspunkt: Das Jazz-Festival in Europa
  • 4.2. Die Einbeziehung Conovers in das sich bildende Jazz-Netzwerk
  • 5. Die Festivalstruktur und die Kulturpolitik der Ostblockstaaten: Polen und die ČSSR
  • 5.1. Polen: Vom Stalinismus zum Jazz Jamboree
  • 5.2. Eine Geschichte der verhinderten Möglichkeiten: Jazz-Kulturpolitik in der Tschechoslowakei
  • 5.3. Das Warschauer Jazz Jamboree als musikalische Kontaktbörse
  • 5.4. Das Erste Internationale Jazz-Festival in Prag von 1964
  • 6. Conovers Reisen nach Prag und Warschau
  • 6.1. US-Stereotypen von Polen und der Tschechoslowakei als Jazzländer
  • 6.2. Conovers Reisen nach Prag
  • 6.2.1. Das Zweite International Jazz Festival 1965
  • 6.2.2. Conover als Anwalt des tschechischen Jazz
  • 6.2.3. Conovers Anwesenheit auf dem Dritten International Jazz Festival 1966
  • 6.3. Conover auf dem Jazz Jamboree 1966
  • 7. Neue Ziele der US-amerikanischen Jazz-Kulturdiplomatie
  • 7.1. Förderung der Jazz-Milieus als pro-amerikanische Diskursräume
  • 7.2. Conover im Planungsgremium der amerikanischen Jazz-Diplomatie
  • 8. Zusammenwirken der Akteure vor Ort und der Kulturpolitiker aus Ost und West
  • 8.1. Conovers Reisen nach Prag ab 1967
  • 8.2. Jugoslawien seit 1965
  • 9. Erkundungstouren nach Ungarn und Rumänien
  • 9.1. Ungarn 1965
  • 9.2. Rumänien
  • 10. In der Höhle des Löwen: Conovers erster Besuch in der Sowjetunion
  • 10.1. Das Jazz-Festival in Tallinn des Jahres 1967 als Meilenstein des sowjetischen Jazz
  • 10.2. Die Sowjetunion und das mitteleuropäische Jazz-Netzwerk
  • 10.3. Testfall für die sowjetische Kulturpolitik: Sowjetische Jazz-Musiker in Prag
  • 10.4. „Eroberung“ der Sowjetunion? Conovers und Lloyds Anwesenheit in Tallinn
  • 10.5. Höhepunkt der Freiheit oder sozialistisches Gefängnis?
  • 10.6. Tallinn als erfolgreicher Kampf gegen restriktive Funktionäre
  • 10.7. Belastungstest für das sowjetische System der Kontrolle des Kulturlebens
  • 10.8.Divide et impera: Sowjetische Jazzpolitik in Moskau bei Conovers Anwesenheit
  • Kapitel 7: Die neue Bedeutung des Jazz und die Folgen für Conover
  • 1. Wandlungen seit den 1960er Jahren
  • 2. Konkurrenz des Rock
  • 2.1. Rock’n’Roll löst Jazz als Musik der Jugend ab
  • 2.2. Conover kämpft für den Erhalt der Jazz-Förderung
  • 3. Von der Imitation amerikanischer Musik zum Eigenen Jazz
  • 3.1. Imitative Phase: 1950er Jahre
  • 3.2. Volksmusik-Phase: 1960er Jahre
  • 3.2.1. Conover als Ratgeber für die jungen Jazz-Szenen des Ostblocks
  • 3.2.2. Das Volksmusik-Konzept und die staatssozialistische Musikpolitik
  • 3.3. Eigener Jazz
  • 3.3.1. Eigener Jazz als sozialistische Alternative zum US-Jazz
  • 3.3.2. Conover und die Kulturpolitiker des Ostblocks: unvermutete Parallelen
  • 3.3.3.Poljuško pole – ein US-amerikanischer Jazz-Standard oder sowjetische legkaja muzyka?
  • 4. Conovers Rolle angesichts der Stiländerungen
  • 4.1. „Vater des osteuropäischen Jazz“?
  • 4.2. Stilkonvergenz durch Conovers Sendungen? Jazzpianisten im östlichen Europa
  • 4.3. Ereignisse des Jazz im östlichen Europa außerhalb von Conovers Stilverständnis
  • 4.3.1. Polen: Krzysztof Komeda
  • 4.3.2. Sowjetunion: Das Ganelin-Trio
  • 4.3.3. Jazzrock in der Tschechoslowakei
  • 4.3.4. Conovers blinder Fleck: Jazz in der DDR
  • 4.4. Jazz-Transfer ohne Conover: Amerikanisches New Thing und Avantgarde-Jazz im Ostblock
  • 4.4.1. Conover und das New Thing
  • 4.4.2. Wandel durch Kulturtransfer: Die Metamorphose des New Thing in der Sowjetunion
  • 5. Folgerungen für die Musikpropaganda
  • Kapitel 8: Die Neuvermessung der Propagandawaffe Jazz seit den 1970er Jahren
  • 1. Vom politisch brisanten Politikum zur etablierten Marginalie
  • 1.1. Jazzpolitiken in West und Ost
  • 1.1.1. USA
  • 1.1.2. Ostblockländer
  • 1.1.3. Die politische Waffe Jazz wird stumpf: Polen in den 1980er Jahren
  • 1.2. Jazzförderung in Ost und West als Kampfmittel gegen Rock
  • 2. Doppelte Funktionalisierung Willis Conovers
  • 2.1. „Kapitalistischer“ und „sozialistischer“ Radiomoderator zugleich
  • 2.2. Ehrungen und Auszeichnungen Conovers in Ost und West
  • 2.2.1. Conovers Ehrungen in den USA
  • 2.2.2. Polnischer Preis für Conover
  • 3. Jazz und geheimdienstliche Überwachung
  • 3.1. Conovers Ansicht zur geheimdienstlichen Kontrolle seiner Tätigkeit
  • 3.2. Funktionär, Spitzel, Jazz-Enthusiast in einer Person: Rostislav Vinarov
  • 3.3. Roman Waschko: Der Jazz profitierte von Ost und West
  • 3.4. Ausnutzen von Abhängigkeiten: Anwerbung von Jazz-Aktivisten als Beobachter Conovers
  • 3.4.1. Andrzej Jaroszewski
  • 3.4.2. Zbigniew Namysłowski
  • Kapitel 9: Conovers Jazz-Networking seit den 1970er Jahren
  • 1. Jazz-networking seit den 1970er Jahren
  • 1.1. Conover und die European jazz federation
  • 1.2. Von der „Eroberung“ des Ostblocks zur defensiven Sicherung des Erreichten
  • 2. Conovers Itinerar seit den 1970er Jahren als Ergebnis seiner mental map, der Geopolitik der US-Strategen, dem Umgang der sozialistischen Kulturpolitiker mit Jazz sowie der Ansprüche der Jazz-Szenen
  • 2.1. Hauptreiseziele: Polen und Ungarn
  • 2.1.1. Polen: Erfolgreiche Symbiose Conovers mit dem polnischen Jazz-Milieu
  • 2.1.2. Ungarn: Imre Kiss und die Debreceni jazznapok als Drehscheibe
  • 2.2. Sowjetunion: Botschaftsangehörige als Jazzdiplomaten
  • 2.2.1. Conover auf dem Sechsten Film-Festival 1969 in Moskau
  • 2.2.2. Moskau 1982
  • 2.3. Andere Länder
  • 2.3.1. Rumänien
  • 2.3.2. Türkei
  • 2.3.3. Jugoslawien
  • 2.3.4. Indien: Conover im Interessenskonflikt mit der US-Kulturpolitik
  • 2.4. Reisen nach Westeuropa
  • 2.4.1. Westdeutschland
  • 2.4.2. Skandinavien: Finnland und Norwegen
  • 2.4.3. Österreich
  • 2.5. „Blinde Flecken“ in Conovers Wahrnehmung: Baltikum, Slowakei, Bulgarien
  • 3. Ergebnis: Conovers Wirkung als Ergebnis von Amerikaorientierung, Geopolitik, kulturellen Übereinstimmungen, musikalischen Faktoren
  • 4. Von Euphorie zur Ernüchterung. Der Jazzaustausch und Conovers Wirken nach 1989
  • Kapitel 10: Produktive Missverständnisse: Die Ideen des Jazz im Propagandawettstreit
  • 1. Missverständnis der Freiheit
  • 1.1. Jazz, Freiheit und Demokratie
  • 1.2. Ein ungenutztes Propagandathema: Die Beschränkung des Informationsaustauschs durch den Smith-Mundt-Act
  • 1.3. Das Freiheitsparadigma in den staatssozialistischen Ländern
  • 1.4. Freiheit oder Freiraum? Das Verständnis der Jazz-Musiker
  • 1.5. Die „Wahrheit“ des Jazz als Herausforderung für die Kulturpolitiker des Ostblocks
  • 2. Die Befreiung des Jazz von der Idee des Amerikanischen
  • 2.1. Jazz als Vehikel der USA zur Schaffung einer Amerikaorientierung
  • 2.2. Eigene Jazz-Szenen zwischen Amerikaorientierung, sozialistischer Loyalität und kultureller Eigenständigkeit
  • 3. Der Schwarzendiskurs – Achillesferse der USA
  • 3.1. Jazz und Rasseunruhen
  • 3.1.1. Verschleiern oder Thematisieren? Konzepte der US-Propagandisten
  • 3.1.2. Das Schwarzenthema bei Voice of America und bei Willis Conover
  • 3.1.3. Aufdeckungsstrategie der Sowjetunion
  • 3.2. Jazz, das Schwarzenthema, die Black Nationalists und der Marxismus
  • 3.2.1. Jazz und marxistische Ideen in den USA – eine vorsichtige Annäherung
  • 3.2.2. Marxistische Angriffe der Black Nationalists gegen Conover
  • 3.2.3. Frank Kofskys Angriffe gegen Conover
  • 3.2.4. Stärkung der Position Conovers nach Kofskys Angriffen
  • 3.2.5. Fehlschlag Moskaus, die Black Nationalists-Bewegung zu steuern
  • 3.2.6. Selbst-Diskreditierung der Sowjetunion als Heimstatt für Schwarze und schwarzen Jazz
  • 3.3. Conover im Gespräch mit Ostblock-Jazzmusikern über das Schwarzenthema
  • 3.3.1. Kein Reizthema: New Thing-Jazz und Schwarzenthema im tschechischen und polnischen Jazz-Diskurs
  • 3.3.2. Vorteil für die Kulturpolitiker der USA: Die Rasseproblematik interessiert die Jazz-Milieus im Ostblock nicht
  • 3.3.3. Nachteil für die Kulturpolitiker im Ostblock: Desinteresse der Jazz-Szenen an der propagandistischen Kritik gegen die US-Rasseunruhen
  • 3.3.4. Desinteresse der Szenen an marxistischen Interpretationsansätzen außerhalb des Staatssozialismus
  • 3.4. Conover wirbt für seine Jazz-Konzeption bei den Jazz-Szenen des Ostblocks
  • 3.4.1. Betonung des schwarzen Elements in seiner Sendung
  • 3.4.2. Schwarz – eine primordialistische oder soziale Kategorie?
  • Schluss
  • 1. Jazz im Kalten Krieg – ein Spiel mit festen Regeln
  • 2. Spielregeln
  • 2.1. Der Ost-West-Konflikt
  • 2.2. Die Verhältnisse im Staatssozialismus
  • 2.3. Die Symbolik des Jazz: Spielregeln der Jazz-Stilistik
  • 3. Die Spieler
  • 3.1. Obrigkeit
  • 3.2. Aktive Musiker
  • 3.3. Zuhörer
  • 4. Das Spiel mit Jazz
  • 4.1. Jazz als Waffe?
  • 4.2. Die Freiheit des Jazz
  • 5. Flucht in den Mythos
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

Vorwort

Die Idee zu diesem Buch entstand während meiner Arbeit an einem von der Volkswagen-Stiftung finanzierten, internationalen Forschungsprojekt zum Jazz im ehemaligen Ostblock an der FU Berlin in den Jahren 2007 bis 2010. Über die Rolle des Jazz im östlichen Europa war damals noch wenig gearbeitet worden, auch war das in den Landessprachen vorliegende Schrifttum zum Jazz international kaum bekannt. Somit bestand das erste Ergebnis des Projekts darin, die Reichhaltigkeit und solide Konsolidiertheit der Jazz-Szenen gerade in so wichtigen Ostblockländern wie der VR Polen, der DDR, der Tschechoslowakei oder Ungarn auch angesichts staatlicher Gängelung und Repressionen darzustellen. Die beteiligten Forscherinnen und Forscher zeigten an Einzelstudien zu diesen Ländern, welche wichtige Rolle Jazz mit seinem Nimbus als Musik der Freiheit und der Verkörperung des amerikanischen Traums gerade in den Ländern des sowjetischen Machtbereichs spielte. Jazz wurde auf diese Weise unversehens zum Politikum: Musiker und Jazzliebhaber entwickelten erstaunliche Kreativität im Bestreben, bei der Ausübung und beim Hören von Jazz ihre eigenen Freiräume zu entwickeln, und staatssozialistische Kulturpolitiker unternahmen alle möglichen Versuche, die Szene und ihre Praktiken in ihr Modell des staatssozialistischen Kulturlebens zu integrieren. Wenigstens bis in die 1960er Jahre hinein war Jazz den Kulturpolitikern einfach zu wichtig, als dass sie ihm einfach freien Lauf lassen konnten.

Jazz spielte also nicht nur im US-amerikanischen State Department eine wichtige Rolle als Medium der Verkündigung US-amerikanischer Werte, sondern anscheinend auch bei den Kulturpolitikern in den Ostblockstaaten. Es lag daher nahe, die Verwendung von Jazz als Mittel der Kulturdiplomatie in Ost und West einander gegenüberzustellen. Als Untersuchungsgegenstand bot sich das Wirken des US-amerikanischen Radiomoderators Willis Conover an, der seit den 1950er Jahren jahrzehntelang allabendlich über Kurzwelle Jazz in den Äther sandte und gerade im Ostblock für mehrere Generationen von Jazzmusikern und Jazzhörern eine geradezu kultisch verehrte Autorität darstellte. Für eine vergleichende Geschichte des Jazz als Mittel der Kulturdiplomatie von Ost und West im Kalten Krieg erwies sich sein Nachlass als wahre Fundgrube. Conover, der offensichtlich jeden Papierschnipsel aufbewahrte, archivierte neben seine Sendemanuskripten und beruflichen Unterlagen als Voice of America-Moderater nicht nur die Inhalte seiner Gespräche mit den Kulturpolitikern im State Departement, sondern auch seine Korrespondenz mit Jazz-Musikern und Jazz-Funktionären derjenigen Ostblockländer, die er selbst bereiste, nämlich vor allem Polen, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Ungarn. Eine Förderung durch das DHI Washington versetzte mich in die Lage, diesen Nachlass umfassend auswerten zu können; mithilfe eines Stipendiums der University of the Pacific in Stockton CA, konnte ich die Unterlagen von Dave Brubeck bearbeiten, der ein Jahr vor Willis Conover, nämlich 1958, in Polen gewesen war. Weitere Stipendien des DHI Warschau und des DHI Moskau ermöglichten es mir, ergänzende Archivstudien zur Kulturpolitik und zu den Jazz-Szenen in Polen und der ehemaligen Sowjetunion durchzuführen. Zusätzlich konnte ich weitere Archivreisen nach Prag und Budapest unternehmen.

Das Manuskript war Ende 2018 abgeschlossen. Es vergingen fast fünf Jahre bis zur Drucklegung. In dieser Zeit erhielt die Forschung zu Themen wie Kulturpolitik, cultural diplomacy und cultural Cold War wesentliche Impulse, so dass viele wichtige neue Arbeiten zu diesen Themenfeldern entstanden. Sie wurden in das Manuskript jedoch nicht nachträglich eingearbeitet.

Darüber hinaus veränderten sich in diesen wenigen Jahren die weltpolitischen Konstellationen grundlegend, was dazu führte, dass einige auch schon 2018 nur noch historisch verständliche Ansichten aus der Zeit vor 1989 zum Jazz fünf Jahre später vollkommen obsolet wirken. Insbesondere der Optimismus, mit dem Kulturpolitiker und Jazz-Musiker zu Zeiten des Kalten Kriegs auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs auf die verbindende Rolle des Jazz setzten, ist heutzutage kaum noch nachvollziehbar. Dass Jazz seine Wirkung als transnationales Vermittlermedium entfalten konnte, liegt auch daran, dass der Glaube an die Überlegenheit des amerikanischen Modells bis weit über die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts europaweit, wenn nicht weltweit noch weitgehend ungebrochen war. Aus der Perspektive des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts stellt sich das anders dar: Der Nimbus der USA ist im Schwinden, der Glaube an die Demokratie als anzustrebende Staatsform wird mehr und mehr in Frage gestellt, und an die Stelle der klaren Ost-West-Konfrontation ist eine neue multipolare Unübersichtlichkeit getreten.

Die Teilhabe am Jazz oder der Wunsch nach dieser Teilhabe war seinerzeit ein gesamteuropäisches Phänomen, das nicht an den Grenzen des Ostblocks und auch nicht an der Grenze der Sowjetunion aufhörte. Diese Erkenntnis gewinnt vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ab Februar 2022 eine ganz neue Bedeutung.

Obwohl beides mehrfach totgesagt wurde, existieren sowohl Jazz als auch Radio heute immer noch. Beides funktioniert sozial aber ganz anders als zu Zeiten des Kalten Kriegs: Welche Provokation Jazz bis zum Ende des 20. Jahrhunderts bedeutete – und zwar sowohl im Westen als auch im Osten –, ist heutzutage kaum mehr nachzuvollziehen angesichts einer musikalischen Crossover-Kultur und der Kommerzialisierung des Jazzlebens, die sich bereits in den 1990er Jahren andeutete. Technische Möglichkeiten, die seinerzeit undenkbar waren, gestatten es heute jedem Musikinteressierten, seine eigenen Musikerzeugnisse ins Netz zu stellen und millionenfach zu teilen. Die Gesetze und Wege musikalischer Kommunikation, die zu Conovers Zeit noch auf engen Bahnen und nach festen Regeln verliefen, sind heutzutage bis zur vollkommenen Unübersichtlichkeit pluralisiert. Dennoch existiert auch heute das Phänomen von politischer, kommerzieller oder von anderen Interessen geleiteter Einflussnahme, freilich unter ganz anderen Vorzeichen und mit ganz anderen technischen Mitteln.

Wesentlich gestiegen ist in den letzten Jahrzehnten aus berechtigten Gründen die Sensibilität gegenüber Begriffen, die seinerzeit sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch im offiziellen Umgang international gebräuchlich waren, heute aber als diskriminierend angesehen werden. Das ist der Grund, weswegen in dieser Arbeit die seinerzeit gebräuchlichen Begriffe für Afro-Amerikaner bzw. Sinti und Roma ausschließlich in wörtlichen Zitaten erscheinen. Im Zitat steht immer der übersetzte Originalbegriff. Wenn der Gebrauch eines Begriffs außerhalb eines wörtlichen Zitats notwendig ist, setze ich grundsätzlich Anführungszeichen, um Distanz anzudeuten – so etwa im Falle des Begriffs „Zigeunermusik“, für den es bislang keine brauchbare Alternative in der deutschen Sprache gibt. Zusätzlich spielt gerade im Jazzdiskurs der Farbgegensatz von Schwarz und Weiß eine wesentliche Rolle, so dass auch diese beiden Begriffe hier Verwendung finden.

Mein Dank geht an die damaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der UNT Denton, vor allem Morris Martin und Andrew Justice, der mir den direkten Zugang zu den Archivboxen verschaffte, so dass ich am bis dahin noch vollkommen ungeordneten Nachlass Conovers arbeiten konnte. Am Tag meiner Abreise traf ich in der UNT die heutige Archivarin an, die seither in einer Grundlagenarbeit den bislang vollkommen ungeordneten Nachlass Conovers systematisch geordnet hat. Diese Systematik konnte ich in meiner Arbeit jedoch nicht mehr übernehmen, und gebe daher in den Quellennachweisen die Archivboxen aus Conovers Nachlass in der Form an, wie ich sie seinerzeit vorgefunden habe.

Danken möchte ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Deutschen Historischen Institute in Washington, Warschau und Moskau, und zwar zum einen für die mir gewährten Recherchestipendien, ohne die die für dieses Thema notwendige Archivarbeit nicht möglich gewesen wäre, und zum anderen für die zahlreichen Gespräche zu mit der Fragestellung verbundenen Themen.

Dankbar bin ich auch den vielen Zeitzeugen, Musikern, Jazzhörern, Jazzfreunden und Experten für unterschiedlichste Themen, die mir entweder am Telefon, per e-Mail oder auch persönlich wertvolle Auskünfte gegeben haben. Dank gebührt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der zahlreichen Archive und Institutionen, die ich für die Arbeit aufsuchte. Hervorheben möchte ich hier Paweł Brodowski vom Warschauer Jazz Forum sowie das Jazzinstitut Darmstadt mit seinem Leiter Wolfram Knauer und seiner Belegschaft. Insbesondere in kleineren Archiven stieß ich auf große Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit. Auf diese Weise gelangte ich an Informationen, die sich in staatlichen Archiven kaum finden ließen. So konnte ich die interessantesten und wichtigsten Hinweise über die Moskauer und Leningrader Rezeption von Conover nur mithilfe des Jazzarchivs in Jaroslavl’ und seinem Leiter Igor Gavrilov finden. Wertvolle Vermittlungsarbeit leistete hier Cyril Moshkov.

Dem Leiter des Lehrstuhls für Kulturstudien Ost- und Mitteleuropas an der TU Chemnitz, Prof. Dr. Stefan Garsztecki, bin ich sehr dankbar dafür, dass der Habilitationsprozess an seiner Universität durchgeführt werden konnte. Ein sehr herzlicher Dank gebührt auch doc. Ph.Dr. Lenka Křupková Ph.D., die es mir ermöglichte, mich bei der Universität Olomouc erfolgreich um die Finanzierung des Drucks dieser Arbeit zu bewerben. Schließlich geht ein großer Dank an meine Frau, die alle mit dieser Arbeit verbundenen Belastungen verständnisvoll mitgetragen hat.

Einleitung

Sinn dieser Arbeit ist es, zu einem neuen Verständnis von Jazzkulturpolitik zu kommen. Immer noch werden auf diesem Gebiet, auch mehrere Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Kriegs, häufig Vorstellungen angewandt, die in jener Zeit entstanden. Nach dem Ende des Kalten Kriegs, dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Zerfall der Sowjetunion blieben die USA als „einzige Großmacht“ übrig – und es entstand auf dem Gebiet der Jazzkulturpolitik schnell eine US-amerikanische Deutungshoheit dieses Landes über die Jazzverwendung im Kalten Krieg: Nun war es ein Leichtes, auf die Widersprüche des staatssozialistischen Umgangs mit Jazz aus einer ex-post-Sicht hinzuweisen; und ebenso einfach stellte sich die Zeichnung der Jazzpolitik der USA als glorioser Siegesgeschichte dar.

Ein konsequenter Verzicht auf eine solche ex-post-Sichtweise und ein echter Vergleich der US-amerikanischen und der staatssozialistischen Kulturpolitik zum Jazz ist bislang noch kaum durchgeführt worden. Ohne dadurch das im Namen des Staatssozialismus begangene Unrecht und die Repressionen gegenüber Jazzmusiker in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, ergibt sich ein neues Bild, das unvoreingenommen die Vorteile und Möglichkeiten, aber auch die Widersprüche auf beiden Seiten miteinbezieht. Insbesondere werden Facetten deutlich, die in den bisherigen Betrachtungen kaum zur Sprache kamen, nämlich die große Bedeutung des Jazz als Mittel einer aktiven Kulturpolitik auch im Staatssozialismus einerseits und die Existenz unauflösbarer Widersprüche nicht nur der staatssozialistischen, sondern auch der US-amerikanischen Jazzkulturpolitik andererseits – etwa in der Frage der Natur des Jazz als „amerikanischer“ oder „Weltmusik“. Gerade angesichts dieses Widerspruchs entstanden auch bei jazz- und amerikafreundlichen Kreisen in Europa Vorbehalte gegenüber der US-Jazzpolitik, die für deren Vertreter bis heute kaum verständlich sind. Diese Arbeit gestattet es, zu den Quellen dieses Missverständnisses vorzudringen, ohne die Diskussion darüber sofort mit der Keule des Anti-Amerikanismusvorwurfs erschlagen zu müssen.

1. Jazz als kulturpolitisches Mittel im Kalten Krieg

Seit den 1950er Jahren verwendeten die USA Jazz als politisches Mittel im Kalten Krieg. Nicht wenige Jazz-Musiker stellten sich den Zielen der US-amerikanischen Kulturpolitik zur Verfügung und warben mit ihrer Musik vor Hörern im Ostblock oder in Ländern der Dritten Welt für die amerikanische Sache, wobei die Musiker keineswegs nur willfährige Ausführungsgehilfen der Vorstellungen von Kulturpolitikern im State Department waren, die Politik ihrer Regierung aber letztlich dennoch unterstützten.1

Die außerordentliche Beliebtheit des Jazz auf diesen Veranstaltungen in Übersee, die für die USA selbst anfangs eine überraschende Erkenntnis gewesen war, führte dazu, dass die Initiatoren dieser sog. jazz diplomacy diese Aktionen als Erfolg feierten. Unterstützt wurden sie in dieser Bewertung durch zahlreiche begeisterte Rückmeldungen aus der Zuhörerschaft. Der seit seiner Entstehung sowieso schon mit Bedeutungen aufgeladene Jazz war vor allem in den 1950er und 1960er Jahren, aber auch noch später, eine Musik, die als Symbol des american way of life auf sein Publikum in Europa eine starke mobilisierende Wirkung ausübte. Gerade diese begeisterten Rückmeldungen dienten den Kulturpolitikern der USA als scheinbar untrüglicher Beleg für die Richtigkeit des eigenen Handelns und der eigenen Vorstellungen zur Wirkungsweise des Jazz. Ein festgefügtes Narrativ über die erfolgreiche Wirkungsgeschichte des Jazz bildete sich aus, das in kulturpolitischen Vorstellungen der USA bis heute prägend ist.

Ob, inwiefern und warum Jazz im Kalten Krieg tatsächlich als kulturpolitisches Mittel der USA im ursprünglich intendierten Sinne wirkte, ist damit jedoch noch nicht erklärt. Stärkte Jazz wirklich, wie ursprünglich beabsichtigt, die Orientierung seiner Zuhörer hin zu Freiheit und Demokratie nach US-amerikanischem Muster, und wenn ja, wie tat er das? Und: wie ging eigentlich die andere Seite mit den amerikanischen Bemühungen um? Reagierten die Sowjetunion und die Ostblockstaaten tatsächlich nur, wie es dieses festgefügte Narrativ wissen will, passiv, allein durch Restriktionen gegenüber dieser Musik, oder verfolgten sie nicht auch ihrerseits eine kulturpolitische Linie gegenüber dem Jazz, mit der sie entweder scheiterten oder Erfolg hatten? Vermochten diese Länder möglicherweise sogar aus den Schwachstellen der USA wie etwa der Politik zur Rassefrage, beim Umgang mit Jazz Kapital zu schlagen? Dass die Verantwortlichen in den USA mit derlei Reaktionen rechneten, zeigt die Ernsthaftigkeit, mit der diese jazz diplomacy seitens der USA betrieben wurde – und allein das ist schon ein erster Hinweis darauf, dass das sozialistische Lager doch wohl ernster genommen werden musste und auch wurde, als dieser Mythos vom siegreichen Jazz es glauben machen wollte.

Ein wichtiges Mittel beider Kontrahenten und ihrer Verbündeten im Kalten Krieg war das Radio. Bei der US-amerikanischen Kulturpolitik trat es in Gestalt von Sendern wie Voice of America oder Radio Free Europe bzw. Radio Liberty in Erscheinung. Das Wirken dieser Sender ist lange Zeit als beharrlicher Beschuss des Ostblocks mit Sendungen beschrieben worden, unter deren Druck die Ostblockstaaten schließlich zusammengebrochen seien und der Westen somit den Sieg davongetragen habe. Vor allem Berichte von Zeitzeugen, aber auch wissenschaftliche Untersuchungen transportieren dieses Narrativ.2 Es ist nicht vollkommen falsch, gibt die Wahrheit aber in unstatthafter Verzerrung wieder. Auch hier wird auf eine Betrachtung des tatsächlichen Verhaltens der Gegenseite verzichtet und es werden vorschnell Schlüsse gezogen. Die Reaktion der Radiopolitiker und Radiosender im Ostblock beschränkte sich nämlich keineswegs, wie es dieses Narrativ impliziert, auf Abwehrmaßnahmen und schließliche Kapitulation. Vielmehr gab es im Ostblock ebenfalls Radiopolitiken der einzelnen Staaten, die sich keineswegs im bloßen Reagieren erschöpften, sondern an den eigenen Vorstellungen von Meinungsbildung durch das Medium orientiert waren. Neuere Forschungen machen darauf aufmerksam, wie wichtig beide Seiten nicht nur Wortsendungen, sondern auch Musikbeiträge nahmen und somit auch das emotionale Element in ihre Überzeugungsarbeit miteinbezogen. Darüber hinaus zeigen viele Untersuchungen, dass es im Radio-, vor allem aber im Fernsehbereich vielfältige Formen der Kooperation von Rundfunk- und Fernsehorganisationen, Sendeanstalten und einzelnen Persönlichkeiten über die Blockgrenzen hinweg gab.3 Wie wirkte sich all das auf Jazz-Sendungen im Radio aus? Wie verhielten sich Medienpolitiker im Ostblock zur großen emotionalen Kraft, die von Jazz-Sendungen ausging?4 Gab es auch im Bereich von Jazz-Radiosendungen Formen der Kooperation zwischen Ost und West oder handelte es sich beim transatlantischen Kulturtransfer auf diesem Gebiet tatsächlich nur um eine Einbahnstraße?

Insbesondere auf die letzten Fragen gibt es bislang noch kaum Antworten – zum einen deswegen, weil die vergleichende Betrachtung der kulturpolitischen Ansätze in West und Ost erst seit dem Ende des Kalten Kriegs möglich wurde, zum anderen aber auch, weil das gesamte Feld des Jazz bis vor noch nicht allzu langer Zeit als Gebiet galt, das eines seriösen, akademischen Wissenschaftlers unwürdig erschien, ja ihn sogar seinen Ruf kosten konnte, so dass Memoiren oder Berichte von Szeneinsidern dominierten.5 Nicht umsonst sah sich ein Historiker wie Eric Hobsbawm in den 1950er Jahren gezwungen, seine Erörterungen über Jazz unter einem Pseudonym zu veröffentlichen.6 Erst in jüngerer Zeit beginnt eine neue Forschergeneration, sich dieses Themenfelds anzunehmen.

2. Das Fallbeispiel: Willis Conover

In dieser Situation konnten sich jahrzehntelang Mythen verfestigen, die in Kreisen der amerikanischen Jazz-Diplomatie und in den Jazz-Szenen in den USA und in Übersee gehegt wurden. Ein herausragendes Beispiel stellt die Beschreibung des Wirkens des US-amerikanischen Radiomoderators Willis Conover (1920–1996) vom Sender Voice of America als Jazz-Vermittler vor allem in die Ostblockstaaten dar. Seit 1955 strahlte der US-amerikanische Auslandsradiosender Voice of America allabendlich, bis über das Ende des Kalten Kriegs hinaus, die von Willis Conover moderierte Sendung Music USA – Jazz Hour aus. Bald schon genossen die Sendung und ihr Moderator außerordentliche Beliebtheit, und zwar nicht nur in Schwarzafrika, Südamerika und Ostasien, sondern auch insbesondere bei Hörern in den europäischen Ländern des Ostblocks. Seine Beliebtheit steigerte sich noch, als Conover ab Ende der 1960er Jahre in den staatlichen Radioprogrammen Polens und Ungarns (Versuche dazu in der UdSSR scheiterten) eigene, in den USA produzierte und in die Länder gebrachte Jazz-Sendungen unter dem Titel Music with friends ausstrahlen lassen konnte. Weiters war auch Conover Teil des jazz diplomacy-Programms: Man finanzierte ihm Reisen nach Polen, Jugoslawien, Ungarn, die ČSSR und die Sowjetunion. Weitere Reisen führten ihn in die Türkei, nach Indien und in verschiedene westeuropäische Länder. Hier knüpfte er Kontakte zu dortigen Jazzmusikern und Radiomoderatoren und nahm schnell eine beherrschende Stellung in einem blockübergreifenden Beziehungsnetzwerk ein, das sich seit den 1960er Jahren ausbildete. Für die Rolle von Conover und seiner Sendung im Kulturtransferprozess während des Kalten Kriegs sind insbesondere die Rezeption seiner Sendung in der Sowjetunion (vor allem im Baltikum, in Moskau und Leningrad), in Polen, in der ČSSR und in Ungarn und seine Reisen in diese Länder von Bedeutung. Bald verhalf Conover europäischen Jazzmusikern in die USA und sendete auch ihre Musik in seinen Programmen, so dass sich ein wechselseitiger Kulturaustausch zu etablieren begann.

Als Conover seit Ende der 1950er Jahre diverse Reisen in den europäischen Ostblock unternahm, wurde er mit geradezu religiöser Verehrung als „Godfather of Jazz“ empfangen. Seine Hörer bezeichneten sich als seine „Kinder“.7 Auch in der ohnehin stark von Superlativen und emotionalen Panegyriken gekennzeichneten Sprache des Jazzmilieus stellt der Personenkult um Conover einen bemerkenswerten Höhepunkt dar. In dieser mythischen Überhöhung des Radiomoderators treten die Widersprüche offen zutage: Die in der Formulierung „Children of Conover“ suggerierte weltweite Einheit und Einigkeit einer weltumspannenden Jazz-Gemeinde war eine Fiktion, die die tatsächlich existierenden Gegensätze und Parteiungen im Jazz-Milieu negierte. Wie häufig bei mythologisierenden Formulierungen, kollidieren einzelne mythische Beschreibungen miteinander und erzeugen logische Inkompatibilitäten. So wird einerseits behauptet, Conovers Sendungen seien „unpolitisch“ gewesen, andererseits aber, dass sie wesentlich für den Zusammenbruch des staatssozialistischen Systems verantwortlich gewesen seien. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung von Conovers Radiosendungen und ihrer Wirkung in den Ostblockstaaten wurde bislang noch nicht unternommen.8

3. Ziele

Hauptziel dieser Arbeit ist es nun, die gesellschaftliche Funktionsweise von Jazzmusik in den Ländern des ehemaligen Ostblocks als Mittel politischer Einflussnahme von Ost und West während der Periode des Kalten Kriegs anhand eines Einzelbeispiels in seinen wesentlichen Grundzügen zu beschreiben. Das Beispiel Conovers erscheint aus mehreren Gründen geeignet dafür: Erstens war Conovers Bekanntheitsgrad und Einfluss vor allem auf die Jazz-Szenen der Ostblockstaaten beträchtlich, so dass hier die Möglichkeit vorliegt, ein wichtiges Kapitel der Jazzgeschichte des 20. Jahrhunderts anhand einer Konzentration auf das Wirken einer einzigen Persönlichkeit nachzuzeichnen. Zweitens hinterließ Conover, der zeit seines Lebens buchstäblich jeden Papierschnipsel aufbewahrte, einen kompakt vorliegenden Nachlass, der ein wichtiges, bislang kaum genutztes Archiv zu transatlantischen Jazzbeziehungen liefert und so Untersuchungen zu so entscheidenden Komplexen wie beispielsweise Hörerreaktionen erst ermöglicht – in vielen anderen Fällen scheitern derartige Vorhaben schlicht am Fehlen relevanten Quellenmaterials. Drittens fordert gerade der um ihn entstandene Mythos dazu heraus, die mythischen Behauptungen durch belastbare quellengestützte Beschreibungen zu ersetzen und zugleich zu fragen, worin für wen der Nutzen dieses Mythos’ lag.

Ein weiteres Ziel dieser Arbeit besteht in der Beantwortung der Frage, welchen Einfluss die politische Verwendung des Jazz auf diese Musik und ihre stilistische Entwicklung in den ehemaligen Ostblockländern selbst hatte. Führten Restriktionen zu einer Reduzierung des Jazzlebens, zu einer Reglementierung durch politische, wirtschaftliche oder kulturpolitische Vorgaben oder trug die Situation des Kalten Kriegs und das beidseitige Interesse an dieser Musikform möglicherweise sogar zu einer Stärkung seiner Bedeutung und seiner Entfaltungsmöglichkeiten bei? Wie beeinflusste die Tatsache der politischen Verwendung dieser Musik die stilistischen Entwicklungen im Jazz? Andersherum gefragt: Welche stilistischen Entwicklungen im Jazz zeigten sich von den politischen Implikationen kaum oder gar nicht beeinflusst? Auch diese Themen können am Beispiel der Person Willis Conovers betrachtet werden, der nicht nur Mitglied eines weitgespannten Netzwerks war, sondern auch als Radiomoderator, Jazzpublizist und Reisender in Sachen Jazz umfangreiches Schrifttum zu musikästhetischen Fragen hinterließ und sich über diese Themen im internationalen Austausch mit Musikern, anderen Radiomoderatoren und Jazzpublizisten befand.

4. Fragen

Erstens ergibt sich die Frage nach dem Sinn des Mythos. Welche Bedürfnisse waren es, die durch diesen Mythos befriedigt werden konnten? Welchen Zweck hatte die so stark emotional überhöhte Beschreibung des Moderators und seiner Sendetätigkeit? Wie verhielt sich Conover selbst zur Mythisierung um seine Sendung und um seine Person? Wie ging er mit seiner Doppelfunktion als Insider in den Kreisen der US-amerikanischen Kulturpolitik einerseits und als anerkanntes Mitglied vor allem der osteuropäischen Jazz-Szenen um?

Zweitens stellt sich die Frage, welchen Einfluss Conover mit seinen Sendungen auf die Stabilität der staatssozialistischen Gesellschaften tatsächlich hatte. Wirkte er mit seinen Jazz-Sendungen systemdestabilisierend, wie es ja ursprüngliches Ziel der jazz diplomacy gewesen war und wenn ja, in welcher Weise? Oder ist es nicht auch denkbar, dass seine Sendungen ganz im Gegenteil systemstabilisierend wirkten, etwa in der Weise, dass sie ein Ventil zum „Dampfablassen“ angesichts des ungeliebten sozialistischen Alltags anboten, was diesen dann umso leichter ertragen ließ? Ergaben sich möglicherweise auch Akkulturationseffekte des Jazz an das staatssozialistische Gesellschaftsmodell, die den Jazz gesellschaftlich ganz anders funktionieren ließen, als die Urheber der amerikanischen jazz diplomacy das vorgesehen hatten? In der Literatur zum Jazz werden viele Vorschläge für seine gesellschaftliche Wirkungsweise genannt: Speziell im Ostblock ist die Rede von Widerständigkeit, rebellischer Natur, Subversivität und vielen anderem. Lässt sich die Funktion des Jazz im Ostblock anhand des Wirkens und der Rezeption Conovers mit einer dieser Vokabeln beschreiben und wenn ja, wie?

Damit hängt die dritte Frage nach den Hörgewohnheiten und dem Hörerverhalten von Conovers Sendungen zusammen. Wie kann man den typischen Hörer beschreiben? Lässt sich eine Typologie entwerfen? Handelt es sich bei den Jazz-Hörern wirklich nur um von der Kulturpolitik der einen oder anderen Seite gesteuerte Marionetten oder vielmehr doch um selbständige Individuen, die im Rahmen des Möglichen autonom nach eigenen Vorlieben und oft auch entgegen den Wünschen der Propagandastrategen ihre Hörgewohnheiten und Sendereinstellungen wählten? War Jazz – eine oft zu hörende Behauptung – eine Musik der Jugend, wenn ja, zu welcher Zeit, und blieb sie das auch?

Rezipiert wurde Conovers Sendung auch von staatlichen Stellen und Kulturpolitikern, die daraus ihre Folgerungen zogen und Maßnahmen einleiteten, die von der Einrichtung von Störsendern und Verhaftungen von Radiohörern bis hin zu gezielter Förderung des Jazz, des Jazzlebens und der Präsenz des Jazz im Radio reichten. War Conover zu einem Zeitpunkt Unperson im Ostblock, so gab es auch Momente, in denen die Regierungen der Ostblockländer für ihn den roten Teppich ausrollten. Viertens stellt sich daher die Frage, auf welchen Grundlagen ihr Handeln hier jeweils beruhte. Welche Unterschiede und Parallelen gab es zwischen ihrem Umgang mit Conover und dem Jazz und dem Umgang mit ihm in der Kulturpolitik der USA? Neuere Forschungen zum Kalten Krieg zeigen, wie sich die Kontrahenten aufmerksam beobachteten und der eine seine Maßnahmen nach der Reaktion des anderen ausrichtete. War das auch beim Umgang mit Conover der Fall?

Durch seine Sendungen und seine Reisen installierte Conover nicht nur einen wechselseitigen Austausch von Jazzmusikstücken, sondern auch von damit zusammenhängenden Diskursen über musikbezogene, dann aber auch über die Musik hinausgehende Themen. Besonders zu Beginn seines Wirkens transportierte Jazz sehr stark die Idee von Freiheit und Amerikaorientierung. In den 1960er Jahren wurde Jazz in den USA von den Auseinandersetzungen des civil rights movement geprägt. Fünftens ist also zu fragen, wie diese Themen im sich etablierenden Jazzaustausch diskutiert wurden. Bedeuteten die Begriffe immer und überall das Gleiche? Verstanden insbesondere die Angehörigen der Jazz-Szenen im Ostblock unter „Freiheit“ wirklich dasselbe wie die Politiker in den USA? Wie ging Conover mit so heiklen Themen wie der Rassendiskriminierung um, die sich mittelbar ja auch auf den Jazz und auf die Deutungshoheit in der Jazzgeschichte auswirkte? Gelang es möglicherweise bei den für die US-amerikanische Seite derart schwierigen Themen den Kulturpolitikern des Ostblocks, aus den Problemen ihrer Kontrahenten politisches und Vertrauenskapital zu schlagen? Fungierte Jazz bei Conover als Medium der Amerikanisierung, die einer wie immer auch gearteten Amerikaorientierung in den europäischen Ländern Rechnung trug, oder lassen sich möglicherweise auch Prozesse einer Europäisierung oder sogar eine Sowjetisierung im Sinne einer sozialistischen Identitätsfindung durch eine gezielte Verwendung eigener, länderspezifischer Formen des Jazz beobachten?

Sechstens ist aus musikwissenschaftlicher Perspektive die Frage nach dem Verhältnis von gesellschaftlichen Phänomenen und stilistischen Entwicklungen zu stellen. Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der man in der klassischen Musik bis vor nicht allzu langer Zeit die Vorstellung von einer autonomen, von gesellschaftlichen Phänomenen unabhängigen musikimmanenten Stilentwicklung propagierte, wird in der Jazzmusikforschung Stilentwicklung mit gleicher Selbstverständlichkeit vorrangig als Ergebnis von gesellschaftlichen Phänomenen beschrieben.9 Einerseits wird im Mythos die Behauptung aufgestellt, der gesamte osteuropäische Jazz habe sich nach Conovers ästhetischen Vorlieben entwickelt, anderseits kann man beobachten, dass Conover gerade einige der für die dortigen nationalen Szenen zentralen Persönlichkeiten nicht oder nur in erheblich geringerem Maße wertschätzte. Welchen Einfluss also hatte Conover auf die Stilentwicklungen des Jazz im Ostblock tatsächlich? Lassen sich Aussagen darüber treffen, wovon Stilentwicklungen oder Stilbrüche vorrangig abhängen – von musikalischen Eigenschaften, von persönlichen Eigenschaften und Stilen einzelner Protagonisten, von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen oder von einer wie immer gearteten Kombination aus diesen Elementen?

5. Forschungsstand und Verortung der Arbeit

Obwohl in dieser Arbeit das Wirken des Radiomoderators Willis Conover eine große Rolle einnimmt, handelt es sich dennoch nicht um eine Biographie seiner Person. Die Grundfrage dieser Arbeit ist, wie Jazz als Musik und als soziales Faktum in der Rahmensituation des Kalten Kriegs in den Ostblockländern funktionierte und welches der Beitrag Conovers dabei war, nicht jedoch eine Betrachtung seines Wirkens als solchem. Der Verzicht auf einen biographischen Ansatz ermöglicht es, das Wirken dieser Einzelpersönlichkeit in größere Zusammenhänge zu stellen. Die Frage, inwieweit Conover durch die Macht seines persönlichen Charismas oder allein aufgrund seiner eher zufälligen Stellung in der gerade aktuellen weltpolitischen Situation zu seiner unzweifelhaft großen Bedeutung für die Jazzentwicklung in den Ostblockländern gelangte, lässt sich mit einem über seine Biographie hinausgehenden Ansatz erheblich leichter beantworten.

Daher handelt es sich hier um eine kulturwissenschaftliche Arbeit, die Methoden, Fragestellungen und Forschungsergebnisse der Geschichtswissenschaft, der Musikwissenschaft, der Kommunikations- und Medienwissenschaft miteinander vereint. Untersucht wird, welche sozialen Praktiken der Umgang mit Jazzmusik hervorbrachte, welche gesellschaftliche Relevanz diese Praktiken hatten und wie der Umgang mit Jazz von interessierten Personengruppen gesteuert wurde. Leitend ist das aus der aktuellen musikwissenschaftlichen Forschung stammende, von Christopher Small geprägte Konzept des sog. musicking10, das für die Untersuchung von Musik als sozialer Praxis wirbt und das einen der Ausgänge für diese Arbeit darstellt.

5.1. Kalter Krieg und cold war studies

Ebenso wie Conovers Sendung ein Kind des Kalten Krieges war, so sind auch die Reaktionen auf sie nur durch Kenntnis der Rahmenbedingungen des Kalten Kriegs erklärbar. Es ist daher nur folgerichtig, dass der in dieser Arbeit beschriebene Funktionsmechanismus, der sich um diese Sendung aufbaute, nach dem Ende des Kalten Krieges ebenfalls zum Erliegen kam. Deswegen ist es für das Verständnis der Funktion von Jazzmusik im Kalten Krieg von entscheidender Bedeutung, von welchem Begriff des Kalten Kriegs die Untersuchung ausgeht.

Der Begriff Kalter Krieg wurde bereits im Jahr 1945 von George Orwell geprägt11 und zwei Jahre später vom Journalisten Walter Lippmann popularisiert.12 Für die Fragestellung in dieser Arbeit ist es jedoch äußerst wichtig, dass der Beginn des Kalten Kriegs in der Forschung erst 1947/48 mit der Sowjetisierung im östlichen Europa und dem sich verschärfenden Gegensatz zwischen Ost und West angesetzt wird und nicht bereits direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Nur so wird sichtbar, dass sich Jazzmusik im östlichen Europa der Nachkriegszeit bereits vor dem Beginn des Kalten Kriegs in erstaunlichem Maße stabilisiert hatte, was wesentlichen Einfluss auf die spätere Konsolidierung eigenständiger Jazz-Szenen in diesen Ländern haben sollte. Daher greift diese Arbeit den Forschungsstand der gegenwärtigen cold war studies auf, in denen der Kalte Krieg als globale Epoche verstanden wird, die von ca. 1947/48 bis zum Zusammenbruch des Staatssozialismus Moskauer Prägung dauerte.13

Einige Schwerpunktsetzungen der aktuellen cold war studies sind für diese Arbeit von besonderer Wichtigkeit: Anstatt den Konflikt auf eine binäre Auseinandersetzung zweier Supermächte zu reduzieren, wird zunehmend die Möglichkeit eines eigenständigen Handelns der Verbündeten bzw. der sog. „Satellitenstaaten“ betrachtet.14 Das hat dazu geführt, dass sich in jüngerer Zeit Arbeiten mehren, die nicht mehr nur die Beziehungen der USA und der Sowjetunion zueinander thematisieren, sondern auch Beziehungen der Supermächte zu anderen Staaten des gegnerischen Blocks oder auch einzelner Staaten untereinander. Die hier diskutierten Fragen nach Möglichkeiten und Reichweite eigenständiger, von der jeweiligen Supermacht unabhängiger Politik sind für diese Arbeit von Wichtigkeit, insbesondere für das Verhältnis der „Satellitenstaaten“ des Ostblocks zur Sowjetunion.15

Des Weiteren zeigt eine Vielzahl von Untersuchungen, dass den Überzeugungen vieler Zeitgenossen zum Trotz die beiden Machtblöcke keinesfalls zu allen Zeiten hermetisch abgeschlossen waren, sondern dass sich eine Vielzahl von gegenseitigen Kontakten, wechselseitigen Beeinflussungen und reziproker Übernahmen von Verhaltensweisen gab.16 Diskutiert wird in diesem Zusammenhang auch, ob sich Strategien, Politiken und Maßnahmen staatlicher Außenpolitik in Ost und West mutatis mutandis erheblich ähnlicher waren als es die gegeneinander gerichtete Rhetorik zunächst vermuten lässt.17 Diese Forschungsfrage ist ein zentraler Ausgang für die hier geplanten Untersuchungen zum Jazz, dessen Präsenz im Ostblock ohne die Existenz fortdauernder Ost-West-Kontakte undenkbar gewesen wäre.

Ein weiteres Ergebnis der der cold war studies besteht in der Beschreibung einer spezifischen Kultur der Kalten Krieges.18 Dies trägt der Erkenntnis Rechnung, dass der Kalte Krieg keineswegs lediglich nur eine Konfrontation zweier mit mehr oder weniger großem militärischen Nachdruck unterstützten außenpolitischen Konzepten war, sondern eine Art Lebensform darstellte, die alle gesellschaftlichen Bereiche ganz maßgeblich prägte. Damit zusammen hängt auch eine Verschiebung der Aufmerksamkeit der Forschung weg von den „großen“ politischen Konflikten hin zu den „kleinen“ alltäglichen Verhaltensweisen, d. h. zu der Frage, wie sich die Rahmensituation des Kalten Krieges im konkreten Alltagsverhalten der Menschen zeigte. Mit dieser Perspektive wird für diese Arbeit die Untersuchung des Umgangs mit Jazzhörens im Radio als soziale Praxis vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs möglich.

5.2. Diplomatiegeschichte und Kulturpolitik

Jazz als Mittel staatlicher Kulturpolitik zum Erreichen der Ziele staatlicher Außenpolitik fällt grundsätzlich in das Themenfeld der Diplomatiegeschichte. Zwei Richtungen sind für diese Arbeit bedeutsam: zum einen das aus den USA stammende Themenfeld der public diplomacy und zum anderen neuere Untersuchungen zur Rolle der individuellen Persönlichkeit des Diplomaten für das Gelingen des diplomatischen Prozesses. Musik als Mittel der Diplomatie berührt zudem das Forschungsfeld Politische Musik.

Die amerikanischen Betrachtungen zur eigenen Diplomatie im Kalten Krieg entstanden in enger Anlehnung an die politische Praxis, bevor sie sich zu einem eigenständigen Forschungsgebiet entwickelten. In den USA erhielt die Diskussion um die Mittel, Strategien und Wirksamkeit amerikanischer Außenpolitik mit Beginn des Kalten Krieges eine neue Dynamik. Dafür wurden zunächst Konzepte aufgegriffen, die US-Strategen bereits in der Frühzeit des Kalten Kriegs unter dem Stichwort des psychological warfare geprägt hatten.19 Politstrategen der USA entwickelten das Konzept der public diplomacy, das sie zur Grundlage der US-amerikanischen Außenpolitik machten und in dieses Konzept auch den Export eigener kultureller Erzeugnisse stellten. Ein Papier des US-Außenministeriums von 200520 stellt den derzeitigen Stand des Diskurses der Praktiker zu diesem Themenfeld dar21, über aktuelle Entwicklungen informiert ein Blog.22 Eine wegweisende und grundlegende Studie der US-amerikanischen public diplomacy untersucht die Arbeitsweise der amerikanischen USIA als Instrument offizieller Außenpolitik,23 den aktuellen Forschungsstand gibt eine deutsche Arbeit zur liberation policy wieder.24

Im Zuge dieser Forschungen wurde vermehrt auf die Rolle kultureller Erzeugnisse als Exportträger amerikanischer Werte hingewiesen, was unter der Bezeichnung soft power gefasst wurde.25 Infolgedessen wurde der Begriff cultural diplomacy als Untergebiet der public diplomacy geprägt26 und auf die eigenständigen Formen der Wirksamkeit kultureller Erzeugnisse als Mittel von Diplomatie und Außenpolitik hingewiesen. In diesem Zusammenhang wurde auch über die Wirkungsmöglichkeiten von Musik als Mittel einer Kulturdiplomatie geforscht. Wegweisend für diesen Forschungszweig sind insbesondere die Untersuchungen zur sound diplomacy.27 Dabei ist zu berücksichtigen, dass jede Art von Musik – die sog. „klassische“ Musik, Pop, Rock, Jazz u. a. – jeweils nach anderen Gesetzmäßigkeiten im Prozess der Kulturdiplomatie funktioniert.28 Speziell mit Jazz beschäftigen sich in diesem Zusammenhang Arbeiten zur sog. jazz diplomacy,29 grundlegend sind hier die Arbeiten Penny van Eschens.30 Sie stellen den unmittelbaren Ausgangspunkt für die Untersuchungen dieser Arbeit dar.

Dabei grenzt sich dieser Arbeit von einigen, zumeist älteren Ansätzen der Forschungen zur public diplomacy ab. Während ältere Untersuchungen, aber auch noch viele neuere Arbeiten31 den Kalten Krieg in Analogie zu einem „heißen“ Krieg betrachten und danach fragen, wie man ihn gewinnen könne bzw. sogar zum Ergebnis kommen, die USA hätten den Kalten Krieg „gewonnen“, so erhalten in der Forschung mittlerweile Studien die Oberhand, die sich von dieser Analogie zum „heißen“ Krieg distanzieren und stattdessen offener, umfassender und differenzierter nach Optionen und komplexen Handlungszusammenhängen US-amerikanischer Kulturpolitik fragen. Neuere, für diese Arbeit richtungsweisende Untersuchungen zeigen auf, wie sich die amerikanische Kulturaußenpolitik seit den 1950er Jahren von den Vorstellungen einer per se gegebenen kulturellen Überlegenheit entfernte und im weiteren Verlauf die Idee eines wechselseitigen Austauschs zuließ.32

Heranzuziehen sind auch Studien, die mit dem Themenfeld Amerikanisierung operieren. Nachdem es mittlerweile in der jüngsten Forschung für das westliche Europa differenziert und in Wechselwirkung mit Paradigmen wie Westernisierung und Modernisierung diskutiert wird,33 erlebt dieses Paradigma seit einiger Zeit auch eine fruchtbare Anwendung auf das östliche Europa.34 Neuere Arbeiten beschreiben den in diesem Konzept impliziten Kulturtransfer nicht mehr nur ausschließlich als Einbahnstraße von West nach Ost, sondern betonen die Existenz eines wechselseitigen Kulturtransfers im östlichen Europa während des Kalten Kriegs. Die Aneignung des Jazz im Ostblock, wie sie als Folge von Conovers Radiosendungen und anderer Ereignisse stattfand, war nicht lediglich eine Adaption, sondern fand als wechselseitiger Austausch in beiden Richtungen statt. Besonders seit den 1970er Jahren wurde der US-amerikanische Jazz nicht unwesentlich auch durch europäische Jazzentwicklungen beeinflusst, und zwar auch durch solche aus den Ostblockländern. Statt also lediglich von Paradigmen wie Amerikanisierung zu sprechen, müssen die Prozesse als Beispiel für eine histoire croisée im Sinne Michael Werners und Bénédicte Zimmermanns aufgefasst und beschrieben werden.35

Der quantitativen und qualitativen Reichhaltigkeit der Diskussion über Kulturpolitik der USA und des „Westens“ steht eine im Verhältnis dazu verschwindend geringe Anzahl von Untersuchungen zur Kulturpolitik der Sowjetunion bzw. der Ostblockstaaten gegenüber.36 Erst in neuerer Zeit arbeiten Forscher die Kulturpolitiken ihres je eigenen Landes in der staatssozialistischen Periode auf.37 Diese Arbeiten lassen die für diese Arbeit zentrale Ausgangsthese zu, dass die Kulturpolitik der Sowjetunion und der Ostblockstaaten nicht nur ein ebenbürtiges Gegengewicht zur Kulturpolitik des Westen war, sondern auch strukturell ähnlichen Voraussetzungen unterlag. Die Untersuchungen zum Propagandabegrif38 verdeutlichen jedoch, dass es auch wichtige Unterschiede gab. In dieser Arbeit werden erstmals Strukturen der Kulturpolitiker beider Machtblöcke direkt gegeneinander gegenübergestellt und, wenigstens am Beispiel der Jazzverwendung, miteinander verglichen.

Moderne Diplomatiegeschichtsschreibung39 greift in veränderter Form das Genre der Biographie wieder auf. Während ältere Darstellungen Diplomatie vor allem auf das Wirken von Botschaftern und Gesandten konzentrierten und Diplomatiegeschichte folgerichtig in Form von Darstellungen des beruflichen Handelns von Einzelpersonen nach Art von Biographien betrieben, fokussierten spätere Arbeiten vor allem auf die Wichtigkeit politischer Konstellationen und internationaler Machtstrukturen. Erst in neuester Zeit werden die beiden Ansätze miteinander verbunden. Heute wird danach gefragt, welchen Einfluss die Persönlichkeit eines Diplomaten dabei hat, Konzepte von Außenpolitik oder Kulturpolitik zu kommunizieren oder mitzugestalten.40 Dieser kombinierte Ansatz von Diplomatiegeschichte ist für das Verständnis der Wirksamkeit Willis Conovers im Prozess der jazz diplomacy sehr wichtig, da es wesentlich seine Persönlichkeit war, die über ihre konkrete Ausgestaltung mitentschied.

Die Frage, ob Musik per se „politisch“ ist, durch bestimmte Prozesse mit politischen Inhalten „aufgeladen“ wird oder aber „unpolitisch“ ist und politische Erscheinungen bloßes Akzidens sind, ist für das Verständnis von Conovers Radiosendung zentral, da sie ja dezidiert als politisch wirksames Mittel geplant wurde. In den 1970er und 1980er Jahren war die Frage des Politischen in der Musik ein tagesaktuell diskutiertes Thema.41 Auf dem Gebiet der Kunstmusik kam es zu einem Ost-West-Disput: Während die auf marxistisch-leninistischer Grundlage argumentierende musikwissenschaftliche Forschung der Ostblockstaaten die politische Natur der Musik gleichsam axiomatisch an den Anfang setzte, entlarvten Vertreter der Musikwissenschaft im Westen diesen Ansatz als von der Ideologie geleitet. Sie wiederum mussten sich den Vorwurf anhören, auch im 20. Jahrhundert immer noch die These Eduard Hanslicks von Musik als „tönend bewegter Form“ ohne gesellschaftlichen Bezug zu vertreten.42 Auch Vertreter des Fachs im Westen teilten diese Kritik.43 Gleichzeitig wurde im Bereich der Popularmusikforschung auch im Westen fraglos von einem politischen Charakter der Musik ausgegangen, indem beispielsweise bekannte Werke als Ausdruck der politischen Aussagebedürfnisse der Musiker und des Publikums interpretiert wurden, ohne dass hier theoretische Erörterungen über die Möglichkeit des Politischen in der Musik abgehalten wurden. Im Zentrum standen hier Betrachtungen über den sog. Rechtsrock.44

Nach dem Ende einer staatlich geförderten Musikwissenschaft auf marxistisch-leninistische Grundlage wurde das Thema nicht mehr als brisantes Problemfeld betrachtet, sondern rückte in den Hintergrund, wurde dafür aber nunmehr theoretisch reflektierter und von tagespolitischen Ereignissen losgelöster behandelt, insbesondere in Form systematischer Untersuchungen über das politische Potential von Musik und Klängen allgemein – hierzu existiert eine weit zurückreichende Forschungstradition.45 Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Forschungen wird in dieser Arbeit der Streit von zeitgenössischen Kommentatoren über die „politische“ oder unpolitische“ Natur von Conovers Wirken, seiner Radiosendung und dem Jazz im allgemeinen beleuchtet.

5.3. Medienwissenschaften, speziell Forschungen zum Radio

Zum Verständnis der Entstehung und Wirkung einer Jazz-Radiosendung im Kalten Krieg ist zudem die Einbeziehung medienwissenschaftlicher Forschungsperspektiven zum Radio jener Zeit notwendig46 und zwar zum einen zum Themenkomplex Radio und Macht bzw. staatliche Herrschaft und zum andern zum Themenkomplex der Radiorezeption.

In den europäischen Staaten, nicht nur in den Ländern des späteren Ostblocks, wurde das Medium Radio unmittelbar bei seiner Entstehung vom Staat mit einem staatlichen Monopol belegt. Einzig in den USA entstanden kommerzielle Radiosender. Da jedoch der Radiosender Willis Conovers, Voice of America, als regierungsnaher Sender ebenso wie die Radiosender der Ostblockstaaten ebenfalls eine vom Staat unterhaltene Institution war, haben wir es in dieser Arbeit sämtlich mit von staatlichen Einrichtungen unterhaltenen Radiosendern zu tun.

Einen ersten Ausgang für diese Arbeit bilden daher Werke, die die Institutionengeschichte der einzelnen Radiosender sozusagen nach Art von „Biographien“ darstellen. Diese Arbeiten sind für die Gewinnung wichtiger Basisinformationen auch heute noch heranzuziehen, hier speziell die Arbeiten zu Voice of America einerseits47 und Werke zur Geschichte der staatlichen Radiosender der Ostblockstaaten andererseits.48 Auch nach Ende des Staatssozialismus entstanden Werke zur Geschichte einzelner Radiosender, die ebenfalls mit Gewinn heranzuziehen sind.49 Da es sich bei allen hier behandelten Radiosendern um staatliche oder vom Staat wesentlich geförderte Einrichtungen handelt, wird der Komplex Radio und Macht in diesen Arbeiten stets mitbehandelt, ohne jedoch immer als solcher thematisiert zu werden.50 Wichtig sind auch Arbeiten zur Kontrolle und Zensur des Mediums im Ostblock.51

Das Schrifttum zum Radio im Kalten Krieg wurde sehr stark von Arbeiten zu den sog. radio battles bestimmt. Vor allem die US-amerikanischen Sender RFE und RL, in geringerem Maße aber auch Voice of America, wurden als Instrumente staatlicher Außenpolitik beschrieben.52 Während westliche Autoren oft in hagiographischer Weise das Wirken dieser Sender als Propagandaerfolg im Kalten Krieg darstellten,53 polemisierten Autoren aus dem Ostblock, vor allem aus der Sowjetunion und Polen, gegen diese Darstellungen.54 Dabei sahen beide Parteien es als ihre Aufgabe an, der Erfolg bzw. Misserfolg dieser Radiosender in ihrer Funktion als Propagandainstrumente im Kalten Krieg zu beweisen bzw. zu widerlegen. Dabei wurde hauptsächlich mit der Beschreibung von Wortsendungen gearbeitet, und Musiksendungen wie etwa die Jazz-Formate Willis Conovers wurden lediglich am Rande behandelt.55 Erst in allerjüngster Zeit wird die Rolle von RFE und RL etwas differenzierter betrachtet. Hervorzuheben sind hier der Sammelband von Gene Parta,56 dessen Autoren auch Material aus Archiven des östlichen Europa miteinbeziehen, sowie die Arbeit von Paweł Machcewicz57 für die Reaktionen staatssozialistischer Regierungen am Beispiel Polens. Wichtig sind auch Untersuchungen zum sog. jamming (Störsender) der Ostblocksender, führend ist hier immer noch die Arbeit von Pleikys, der allerdings den Ostblockstaaten vorwiegend eine reaktive Rolle zuweist.58

Die hier geprägte Denkfigur, nämlich die des Radios als Waffe im Kalten Krieg, mit dessen Hilfe der Kalte Krieg auch auf dem Gebiet des Radios gewonnen werden könne, wurde auch in umgekehrter Betrachtungsweise für Beschreibungen staatssozialistischer Radiopolitiken prägend. Autoren wie Roth-Ey59 beschrieben die sowjetische Radiopolitik als unfreiwillig kontraproduktiv, da die Sowjetunion durch die Förderung des Radiohörens ihr eigenes Informationsmonopol untergraben hätten, nach Art eines trojanischen Pferdes sich den Gegner ins Land geholt und insofern auf dem Gebiet des Radios den Kalten Krieg verloren hätten. Auch andere Autoren interpretieren diese staatlichen Radiopolitiken beider Seiten mit Hilfe dieses Paradigmas.60

Diese aus dem Kalten Krieg ererbte Denkfigur verstellt jedoch den Blick auf die tatsächliche Funktion des Radios im Kalten Krieg. Badenoch61 macht darauf aufmerksam, dass es zwar allein schon aus radiotechnischen Gründen zu einer Vielzahl von gegenseitigen Beeinflussungen und blockübergreifenden Kontakten im Radiobereich kam, dass die Radiopolitiker der Ostblockstaaten deswegen aber keineswegs ausschließlich zum Reagieren gezwungen waren. Jüngere Forschungen vor allem zum sowjetischen Radio fragen darüber hinaus ergebnisoffen nach der Existenz einer eigenständigen staatssozialistischen Kulturpolitik auf dem Gebiet des Radios, ohne den Radiosendern des sozialistischen Machtbereichs und den Radiohörern dort bereits a priori eine bloß reaktive Rolle zuzuweisen.62 Auf der Grundlage dieses Ansatzes wird auch in dieser Arbeit der Umgang von Kulturfunktionären und Radiopolitikern der Ostblockstaaten mit Jazz im Radio, mit Conover und mit seinen Radiosendungen analysiert.

Der zweite für diese Arbeit wichtige medienwissenschaftliche Themenkomplex besteht in der Radiorezeption. Hier haben sich im Laufe der Geschichte des Mediums zahlreiche Konzepte herausgebildet, die als Untersuchungsansatz zum Verständnis von Hörgewohnheiten und Erscheinungen der Radionutzung dienten. Für dieses Projekt sind insbesondere Ansätze von Bedeutung, die auf nicht nur auf die Funktion des Hörers als Rezipienten, sondern auch auf seine Wichtigkeit für die Radiosender und für die politischen Machthaber aufmerksam machen63 und auf den Handlungsspielraum des Hörers in einer Situation gesellschaftlicher Zwänge hinweisen.64 Falkenberg65 hat für den NS-Staat und die frühe Bundesrepublik eine Untersuchung der privaten Radionutzung vorgelegt, Weiß / Hasebrink66 schlugen auf empirischer Grundlage eine Typologie von Radionutzungen vor. Ergänzend zu diesen Ansätzen sind alltagsgeschichtliche Untersuchungen zu sog. Domestizierungsprozessen, d. h. Prozessen der Radioaneignung, heranzuziehen,67 die die Beschränkung zahlreicher Studien auf das Hörerverhalten in Ausnahmesituationen (Unruhen in Ungarn 1956, Prager Frühling und Niederschlagung 1968) erweitern.

Das Verhältnis des Radiohörers zum Radiosender wird einerseits durch Forschungen zu Publikumsbindungen68 und andererseits zu Phänomenen der Radioaneignung69 beschrieben. Ein wichtiger Unterpunkt dabei ist die Erforschung der Gestaltung, Funktion und Rezeption einzelner Radioprogramme70 oder einzelner Sendungen. Vereinzelt liegen zu konkreten Fällen im Untersuchungsgebiet Arbeiten vor, so für den DDR-Jugendradiosender DT 6471 oder für das polnische Programm Fala 49,72 oder sind in Arbeit.73 Besonders intensive Publikumsbindungen treten nach den Erkenntnissen der Radioforschung in drei Bereichen auf, nämlich erstens den Kindersendungen,74 der Sportberichterstattung75 und dem Musik- und Unterhaltungsbereich.76 Hier kann diese Arbeit auf eigene Untersuchungen im Rahmen eines Forschungsprojekts zum „Jazz im Ostblock“ aufbauen.77

5.4. Jazzgeschichtsschreibung

Seit den 1950er Jahren begann sich die Vorstellung von Jazz als einer Musikrichtung durchzusetzen, die eine eigenständige Geschichte und Entwicklungsbiographie hat,78 nachdem zuvor auf Jazz Kategorien wie Geschichtlichkeit und stilistische Fortentwicklung auf das damals noch als minderwertig abqualifizierte Genre des Jazz nicht angewendet wurden. Zunächst jedoch dominierte eine personenzentrierte Sicht auf den Jazz, indem vorranging Autobiographien oder Biographien und Werkbeschreibungen einzelner Musiker entstanden, sehr oft von Szeneinsidern verfasst, die nicht immer frei von hagiographischen Tendenzen waren.79 Auch die erste Biographie über Willis Conover ist noch dieser Tradition verhaftet.80

Mit der Formulierung der Idee von Jazz als Musik mit eigenständiger Entwicklungsgeschichte ging eine Kanonisierung des Jazznarrativs einher, wie es sich beispielsweise an der Ikonisierung der jazz giants wie Armstrong oder Ellington ablesen lässt. Jazzgeschichtsschreibung erhielt einen statischen Charakter: Über Jahrzehnte besetzten einzelne Autoren ganze Themenfelder und Erzählstränge, oft gepaart mit einem beeindruckenden Fakten- und Detailwissen über musikgeschichtliche Stationen der Jazzentwicklung, was sie zwar unangreifbar machte, aber auch den offenen Meinungsstreit erschwerte – das beste Beispiel dafür ist der deutsche „Jazzpapst“ Joachim Ernst Berendt und sein Werk.81 In dieser Lage konnten sich Mythen ausbilden, die innerhalb einer hermetisch abgeriegelte Jazz-Fangemeinde ebenso liebevoll wie unkritisch gepflegt wurden. Der Mythos um Willis Conover und seine Radiosendungen ist ein Paradebeispiel hierfür: Unzählige Male wurden dieselben oder ähnliche Aussagen über ihn in den Zeitungen und Zeitschriften des Jazz-Milieus wiederholt, die ohne das Korrektiv einer wissenschaftlichen Analyse unhinterfragt als Tatsache angenommen wurden.

Für die akademische Forschung hingegen galt Jazz lange Zeit als zu vernachlässigende Marginalie, dessen Aussagewert für Prozesse der Kultur-, Sozial-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte kaum wahrgenommen wurde. Eine ernsthafte Beschäftigung mit Jazz galt in diesem Milieu lange Zeit als unschicklich, ganz ähnlich wie die Beschäftigung mit Sport: Sport und Jazz waren allenfalls interessante Freizeitbetätigungen, taugten aber nicht als Gegenstand des akademischen Diskurses. Selbst ein so gestandener Historiker wie Eric Hobsbawm musste seine Arbeiten zum Jazz anfangs noch unter einem Pseudonym publizieren.82

Es bedurfte einiger Veränderungen, bis der Jazz als Gegenstand akademischer Forschung ernstgenommen wurde, wobei die Forschung in den USA hier erheblich weniger Berührungsängste hatte als in Europa. In der Musikwissenschaft fand seit den späten 1980er Jahren eine Loslösung von der bis dahin streng gepflegten Fixierung auf die Musik der europäischen Hochkultur statt. Speziell im deutschsprachigen Raum wurde eine kontroverse Diskussion über die Rückständigkeit der Disziplin83 und über die Fragwürdigkeit der Fokussierung auf einen deutschzentrierten Musikbegriff geführt.84 Als Ergebnis dieser Debatte begann eine junge Forschergeneration, auch Jazz in ihre wissenschaftliche Arbeit einzubeziehen. Ergebnis sind eine Reihe von Untersuchungen, die sich dem Phänomen Jazz aus den unterschiedlichsten Perspektiven nähern. Auch der Diskurs der Kunstwissenschaften untereinander intensivierte sich und führte zur Aufdeckung wichtiger Bezüge zwischen Jazz und Film, Jazz und Literatur oder Jazz und Bildender Kunst. Für die Fragestellung dieser Arbeit von Bedeutung sind hier Arbeiten zur stilistischen Entwicklung des Jazz als Musikform, zur Frage der Rechtfertigung der Bezeichnung von Jazz als Popularmusik,85 der Problematik der Situierung dieser Musik im Paradigma von Hochkultur einerseits (und Subkultur andererseits)86 und zum Verhältnis zwischen Jazz und Rockmusik.87 Von besonderer Wichtigkeit für die Arbeit ist der Diskurs über die stilistische und soziale Beschreibung des Jazz in Europa bzw. der Existenz eines europäischen Jazz.88 Neuere Studien setzen sich kritisch mit dem Postulat der amerikanischen Natur des Jazz auseinander und erläutern dieses Postulat kritisch.89

In der Geschichtswissenschaft führte etwa in derselben Zeit die Abkehr von der traditionellen politischen Geschichtsschreibung zu einer wesentlichen Erweiterung des Quellenbegriffs. Neben schriftlichen Quellen wurden nun auch vermehrt visuelle, akustische und andere Erscheinungen als Ausgangspunkte für wissenschaftliche Erkenntnisse anerkannt, was in Schlagwörtern wie etwa dem „pictorial turn“90 seinen Ausdruck fand. Damit einher ging eine vertiefte Reflexion über das Erkenntnisinteresse, was zum Erstarken von Teildisziplinen wie der Sozial- und Kulturgeschichte, der Alltags- und Mentalitätengeschichte führte. So entstanden wertvolle Studien zur Sozialgeschichte des Jazz91 oder über die soziale Funktion von Jazz als Merker für bestimmte gesellschaftliche Gruppierungen wie vor allem der Jugend92. Immer noch selten jedoch sind Arbeiten von Autoren, die sowohl historisches wie musikwissenschaftliches Instrumentarium in ihren Analysen benutzen.93

In den ehemaligen Ostblockländern war es entgegen einem im damaligen Westen weit verbreiteten Vorurteil keineswegs grundsätzlich unmöglich, über Jazz zu schreiben. In dem Maße, in dem Jazz auch hier als offizielle Musik anerkannt wurde, konnten schließlich auch Darstellungen zur Geschichte der Musik erscheinen, die jedoch immer von der augenblicklichen Stimmung der Obrigkeit zum Jazz abhingen.94 Die Auflistung der Fakten des Jazzlebens im eigenen Land in monographischer Form blieb jedoch erst der Zeit nach 1989 vorbehalten, als Jazz nicht mehr im Fokus staatlichen Interesses stand. Daher entstanden im ersten Schritt Kompilationen, die den Jazz des eigenen Landes als lineare Abfolge von Ereignissen beschreiben.95

Etwa später als im ehemaligen Westen fand auch in den Ländern des ehemaligen Ostblocks eine Hinwendung zum Jazz als akademischem Forschungsgegenstand statt. Wichtige Beihilfe hierzu leistete u. a. ein Forschungsprojekt zum Jazz im Ostblock an der FU.96 Insbesondere für die Sowjetunion existierte bereits vorher ein Forschungsstrang, der bei Untersuchungen zum Habitus jugendlicher und Subkulturen auch Jazz in die Beratungen miteinbezog.97 Eine junge Generation von Historikern ebenso wie Musikwissenschaftlern beschäftigt sich heutzutage unter verschiedensten Fragestellungen mit Jazz, so zur Stellung des Jazz in der Gesellschaft,98 sozialgeschichtlichen Aspekte99 oder in Form von Lokalstudien.100 An Diskurse in der osteuropäischen Geschichte knüpfen Untersuchungen zur Funktion des Jazz im autoritären Staat an101 sowie Untersuchungen zu Sowjetisierungs- und Aneignungsprozessen des Jazz in staatssozialistischen Gesellschaften.102

Willis Conover und sein Wirken wurden bislang erst zweimal monographisch behandelt. Wie bedeutend seine Wirksamkeit für die Jazzgeschichte des 20. Jahrhunderts aber gewesen ist, zeigt der Aufstand, dass in den meisten der hier angesprochenen Arbeiten Bezüge auf seine Tätigkeit genommen werden, die das Desiderat einer vertieften Beschäftigung mit dem Thema deutlich werden lassen.

6. Transnationale und vergleichende Vorgehensweise

6.1. Transnationalität

Seiner Natur nach ist das hier betrachtete Thema nicht anders betrachtbar als transnational und vergleichend. Dieser Umstand hat in beiden Fällen wichtige Konsequenzen:

Um zu befriedigenden Ergebnissen zu kommen, musste Conover idealerweise den gedanklichen Horizont seiner Gesprächspartner im Ausland ebenso gut kennen wie seinen eigenen, um die Praxis des Kulturtransfers bewältigen zu können. In einem so plurinationalen Kontext wie dem Wirken des Jazz im Kalten Krieg stößt dieses Konzept jedoch an Grenzen, die exemplarisch am Sprachproblem deutlich werden: Conover bewegte sich bei der ganz überwiegenden Anzahl seiner Auslandsreisen in nicht-englischsprachigen Räumen, ohne eine andere Sprache als Englisch sprechen zu können. Dieses offensichtliche Manko wurde ihm aus drei Gründen nicht zum Verhängnis: Zum einen zeigte er eine von den Zeitgenossen immer wieder außerordentlich bewunderte Bereitschaft, gerade die fremdsprachigen Namen seiner Ratgeber perfekt auszusprechen, was ihm spontan außerordentliche Wertschätzung garantierte, sodann hatte er Zugriff auf den US-amerikanischen diplomatischen Apparat, der ihm bei seinen Reisen für gewöhnlich Dolmetscher- oder Übersetzerservices gewährte (im Falle der Ostblockreisen erwies sich der Umstand, dass Besucher aus dem Westen zumeist von einer sprachkundigen Reisebegleitung sowohl begleitet als auch observiert wurden, wenigstens in dieser Hinsicht als hilfreich), außerdem sorgte drittens seine Autorität und seine Kompetenz in Sachen Jazz, um den es bei den Gesprächen im Ausland ja in erster Linie ging, für einen hohen Vertrauensvorschuss.

Conover war daher in der Lage, seine landeskundliche Unkenntnis in außerordentlich hohem Maße zu kompensieren. Immer wieder kam es jedoch zu Situationen, in denen Conovers mangelndes Verständnis der Kultur seiner Gastgeber, aber auch andersherum das mangelnde Verständnis seiner Gastgeber von der Kultur der USA, zu Missverständnissen führte. Für das Verständnis der kulturellen Prozesse, die sich im Jazzaustausch abspielten, ist die Kenntnis dieser Missverständnisse wesentlich, da es sich nicht um nebensächliche „Unfälle“, sondern um gewissermaßen strukturelle, stil- und politikbildende Sollbruchstellen handelt.103

Um solche Missverständnisse als Forscher aufzudecken, ist eine differenzierte Kenntnis der kulturellen Ausgangslage des Gegenübers notwendig. In der Diplomatiegeschichte wurde in Erkenntnis dieses Umstands das Konzept des Multiarchivarischen formuliert, worunter die Notwendigkeit verstanden wurde, über die Grenzen des Eigenen hinauszugehen, immer auch das Archivmaterial der anderen Seite zu Rate zu ziehen und auch mit Dokumenten und Informationen in der Sprache des Gegenübers zu arbeiten.104 Beispiele aus der älteren Literatur zeigen, wie groß die trügerische Verführung ist, sich bei der Beurteilung der Rezeptionssituation der US-amerikanischen Jazz-Diplomatie lediglich auf englisch- oder westsprachige Werke zu verlassen, das fremdsprachige Archivmaterial nicht zu berücksichtigen und im ungünstigen Fall dadurch nationale Unterschiede weitgehend einzuebnen, auch wenn sie so groß sind wie etwa zwischen Polen und der Sowjetunion, in denen Jazz sich jeweils völlig unterschiedlich entwickelte – und Conovers Stellung deswegen auch jeweils ganz anders war.105

Besonders der Fall Conovers ist trügerisch, weil ein Kenner ausschließlich der US-amerikanischen Quellen zunächst den Eindruck bekommen kann, dass in diesen Quellen auch die „andere Seite“ berücksichtigt sei. Der Conover-Mythos war auch deswegen so stabil, weil Protagonisten, die eigentlich der „anderen Seite“ zugehörig waren, „mitgemacht“ hatten: Conover erhielt große Mengen an Hörerbriefe aus vielen Ostblockländern, die auf Englisch geschrieben waren, in denen die Briefschreiber in lobenden, enthusiastischen Worten die bedeutende Rolle seiner Sendung hervorhoben. Ein amerikanischer Beobachter, der ausschließlich Conovers Nachlass sichtet, kann also zum Schluss kommen, auch die Gegenseite unterstütze den amerikanischen Conover-Mythos. Die Zeitzeugen werden nicht widersprechen, da sie selbst ja am stabilen Conover-Mythos mitgearbeitet haben. Aus dem Blick gerät dabei, dass zur Funktionsweise des Jazz als Mittel der Einflussnahme im Kalten Krieg auch die internen Diskurse der gegnerischen staatlichen Kulturpolitik betrachtet werden müssen, und diese sind mit den Materialien der USA und der Zeitzeugen nicht oder nur ansatzweise greifbar, sondern nur mit der erwähnten multiarchivarischen Vorgehensweise.106

6.2. Vergleich und Verflechtung

Bereits der Ausgang von der Feststellung, dass Jazz gleichermaßen ein Mittel der Kulturpolitik der USA und des Westens wie auch der Sowjetunion und des Ostblocks war, erzwingt die Anwendung der Methode des Vergleichs. Anstatt also das sattsam bekannte Interpretationsschema von Jazz als US-amerikanischer Musik anzuwenden, auf die die Kulturpolitiker des Ostblocks lediglich abwehrend und letztlich erfolglos reagiert hätten, erzwingt der Wille zu einem echten Vergleich die Suche nach Strategien des Umgangs mit Jazz in den Ostblockstaaten, die nicht nur defensiv waren – als Hypothese muss insbesondere auch der Gedanke zugelassen werden, dass diese Strategien denen der USA auch überlegen gewesen sein könnten. Betrachtet werden muss der Ansatz, dass auch die Staaten des Ostblocks nicht nur Jazz im allgemeinen, sondern auch Conover im speziellen als Mittel der Kulturpolitik einsetzten, und dass es neben denen der USA auch ihre kulturpolitischen Handlungen waren, die Conovers Handeln und die weitere Entwicklung seiner Radiosendung wesentlich mitbestimmen sollte.107 Immer noch ist ein solcher Ansatz keineswegs selbstverständlich, steht aber im Einklang mit der neueren Forschung, die mehr und mehr die Zusammenschau der Ereignisse auf beiden Seiten verlangt.108

Vergleich muss allerdings gerade in dieser Untersuchung noch etwas anderes bedeuten als lediglich das schematische Nebeneinanderstellen zweier als monolithisch gedachter Blöcke und das Abzählen, welche Phänomene sich bei beiden, bei keinem oder nur bei einem von beiden beobachten lassen. Die Betrachtung beider Seiten ergibt zwingend das Vorhandensein gegenseitiger Beeinflussungen, die Ergebnis der oben erwähnten Kultur des Kalten Kriegs waren. Nicht nur auf politischer, sondern auch auf kultureller Ebene gehörte zu dieser Kultur des Kalten Kriegs eine Art wechselseitiges Reiz-Reaktions-Schema: Eine Seite beantwortete das Verhalten der anderen umgehend mit einer Gegenmaßnahme, auf die dann wiederum reagiert wurde. Nicht nur eine, sondern beide Seiten ergriffen also wechselseitig die Handlungsinitiative, und ein Zustand in der Zukunft ist nicht aus dem Verhalten einer einzigen, sondern nur aus dem Zusammenspiel des Verhaltens beider Seiten erklärbar. Tatsächlich belegt der Umgang der Kulturpolitiker beider Seiten mit dem Jazz und mit Conover, aber auch umgekehrt Conovers und der Anhänger der Jazzmilieus mit den Kulturpolitikern beider Seiten, dass diese enge Verflochtenheit eine Grundgegebenheit im Kalten Krieg war. Jazzgeschichte im Kalten Krieg ist also nicht anders zu denken als ein Neben- und Miteinander von wechselseitig verflochtenen Handlungssträngen, als entangled history.109 Im Gegensatz zu diesen faktischen Verhältnissen steht jedoch konträr dazu das Selbstbewusstsein der vollkommenen Trennung der beiden Seiten voneinander. Erst die kritische Reflexion über diesen Zusammenhang führte in allerjüngster Zeit zu einer wahren Flut von Konferenzen, Forschungsprojekten und Sammelbänden, die die Durchlässigkeit des Eisernen Vorhangs entdecken und auf die gegenseitige Bezogenheit der Seiten aufeinander aufmerksam machen.110

7. Untersuchungsort und -zeit

7.1. Betrachtete Länder

Die differenzierte Darstellung der weltweiten Rezeption Conovers würde nicht nur der Analyse seiner eigenen Bemühungen und der Ausgangssituation in den USA, sondern auch die Analyse der kulturellen und politischen Rahmenbedingungen in sämtlichen Ländern erfordern, in denen er rezipiert wurde. Anstatt diesen Aspekt zu vernachlässigen, wie es viele Arbeiten zur cultural diplomacy – Forschung vor allem aus den USA immer noch tun, wird hier eine bewusste Auswahl der Länder getroffen, in denen Conovers Rezeptionssituation bearbeitet wurde.

Die Auswahl hier der betrachteten Länder folgt den Aktivitäten Conovers. An erster Stelle steht daher Polen, dasjenige Ostblockland, das er mit Abstand am häufigsten besuchte, und die Sowjetunion, deren Jazzpolitik aus herrschaftspolitischen Gründen im Ostblock einen bestimmenden Einfluss hatte und, ebenso wie in anderen Bereichen der Politik, die Möglichkeiten ihrer Satellitenstaaten dadurch definierte. Dabei werden wichtige Stationen und Themenkomplexe der Jazzgeschichte im europäischen Staatssozialismus überhaupt sichtbar. In Anwendung einer Denkfigur von Klaus Zernack könnte man von Polen und der Sowjetunion als Länder sprechen, die stellvertretend für zwei diametral unterschiedliche Wege des Umgangs mit Jazz im Ostblock stehen.111

An zweiter Stelle steht die Betrachtung von Conovers Wirken und seiner Rezeption in der Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien. Conovers anfänglich sehr starkes Interesse am Jazz in der Tschechoslowakei erlosch in den 1970er und 1980er Jahren weitestgehend, während er im selben Zeitraum in Ungarn ständiger Gast der Jazzfestivals in Debrecen war. Nicht nur aus herrschaftspolitischen Gründen, sondern auch wegen des dortigen Jazz bezog Conover Jugoslawien ebenfalls in sein Reiseprogramm mit ein. In diesen drei Ländern waren die politischen Rahmenbedingungen, der Konsolidierungsgrad der Jazz-Szenen und ihre musikalische Ausrichtung jeweils vollkommen unterschiedlich. All diese Faktoren bestimmten mit darüber, wie sich die Rezeption Conovers dort gestaltete.

An dritter Stelle steht die Betrachtung weiterer Länder wie etwa Rumäniens, Westdeutschlands, Österreichs und der skandinavischen Länder. Conover war hier überall zu Gast, die Kenntnis der Jazzpolitik und die Anatomie der Szenen in diesen Ländern ist aber für das Verständnis seines Wirkens von zweitrangiger Bedeutung, weswegen es hier lediglich punktuell, mittels Referats der vorliegenden Sekundärliteratur dargestellt wird.

In einigen Fällen erweist es sich als notwendig, auch die Situation in Ländern einzubeziehen, in denen Conover nicht war wie etwa in der DDR. Trotz des Interesses auch von DDR-Hörern an Conover war in seinem Bewusstsein die DDR ebenso abwesend wie Polen präsent war. Angesichts der geostrategischen zentralen Stellung der DDR und ihrer unbestreitbaren großen herrschaftspolitischen Bedeutung sowohl im Denken der Kulturpolitiker der Sowjetunion als auch der USA ist diese Leerstelle bei Conover sehr bemerkenswert. Die punktuelle Einbeziehung der Jazzpolitik, des Jazz und der Hörersituation in der DDR und der Vergleich mit Polen helfen, diese Phänomene zu verstehen.

Die differenzierte Betrachtung jeder einzelnen Rezeptionssituation ist auch auf dem eingeschränkten Gebiet der Wirkung Conovers im ehemaligen Ostblock nur mit Einschränkungen möglich. Daher wurde hier oft ein zusammenfassendes Referat der bisherigen Forschungsergebnisse zur Rezeptionssituation in bestimmten Ländern gewählt und die intensivere Betrachtung den Stellen vorbehalten, an denen die Rezeption für die Jazzgeschichte oder für Conovers Wirken von etwas größerer Bedeutung ist.

7.2. Betrachteter Zeitraum

Diese Arbeit betrachtet die gesellschaftliche Funktion von Jazzmusik im ehemaligen Ostblock über einen längeren Zeitraum, nämlich vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende des Ost-West-Gegensatzes des Kalten Krieges. In dieser Zeitspanne veränderten sich nicht nur die Gesellschaften der Ostblockländer erheblich, sondern auch die Musik, die Jazz genannt wurde. Jazzmusik änderte ihr stilistisches Erscheinungsbild in diesem Zeitraum unaufhörlich. Wenn also von bestimmten Funktionen „des Jazz“ gesprochen wird, muss es immer auch darum gehen, welcher Stil konkret angesprochen ist. Das ist deswegen wichtig, weil stilistische Änderungen auch meist mit Änderungen der gesellschaftlichen Wirkmechanismen der Musik einhergehen. Das zeigt sich besonders deutlich am Umgang mit dem Phänomen des Free Jazz: Diese Musik stellte viele der bisherigen, bei den Hörern liebgewordenen Hörgewohnheiten wie etwa die Orientierung an vertrauten tonalen oder rhythmischen Strukturen oder Ordnungsprinzipien der Form radikal in Frage. Somit provozierte sie auf eine ganz andere Weise, als das der Jazz der 1950er Jahre getan hatte. Das Aufkommen eines neuen Jazz-Stils ließ unversehens ältere Stile gefällig, gemütlich und mitunter sogar langweilig erscheinen, was wiederum erheblichen Einfluss auf ihre Entwicklung hatte. Die einfache Rede von der provokativen Funktion des Jazz ohne weitere Differenzierung verfehlt den Blick auf diese Phänomene vollkommen.

Viele Studien setzen eine provokative Wirkung des Jazz als gegeben voraus112 und untersuchen dann lediglich den Zeitraum, in dem diese Komplexe beobachtbar sind, d. h. also die 1940er und 1950er Jahre, ohne jedoch in Rechnung zu ziehen, dass diese Komplexe bereits zehn Jahre später nicht mehr vorhanden sind und die Wirkung von Jazz eine ganz andere ist. Die Betrachtung von Conovers Radiosendungen über den längeren Zeitraum hinweg muss also in Betracht ziehen, dass die gesendete Musik gegen Ende des Sendezeitraums ganz anders wirkte als am Anfang. Durch die Betrachtung des langen Zeitraums von den 1950er Jahren bis zum Ende des Ostblocks wird der Wandel des gesellschaftlichen Ortes des Jazz deutlich sichtbar.

8. Quellen

Für diese Arbeit wurden Forschungen in staatlichen und nichtstaatlichen Archiven in den USA, Deutschland, Polen, der Tschechischen Republik, Ungarn, Russland und Estland durchgeführt. Basis bildete dabei der Nachlass Willis Conovers in der University of North Texas, Denton, TX.113 In den Sammlungen des NARA Washington D.C. konnten die Unterlagen des Radiosenders Voice of America, der übergeordneten Behörde (USIA, wechselnde Bezeichnungen und Strukturen über den betrachteten Zeitraum hinweg) sowie die Akten der US-Regierungen eingesehen werden. Der Besuch in den europäischen Archiven diente hauptsächlich der Nachzeichnung der Rezeptionssituation und der Kulturpolitiken der Länder. Dabei wurden sowohl die staatlichen Archive besucht und das Regierungsschriftgut gesichtet, als auch die Archive der Radiostationen. Zusätzlich wurden nichtstaatliche, kleinere oder private Archive und Sammlungseinrichtungen besucht.

Das Schrifttum über Conover ist zum ganz überwiegenden Teil von hagiographischen Texten bestimmt. Daher werden oft Superlative zur Beschreibung einzelner Musiker benutzt, die Differenzierungen gehen darüber aber verloren. Andere Sekundärliteratur als diese hagiographischen Beschreibungen ist aber kaum vorhanden. Auch die Zeitzeugenerinnerungen sind zumeist emotional eingefärbt, so dass die Aufgabe darin besteht, die hinter diesen emotionalen Beschreibungen liegende Wahrheit wieder sichtbar zu machen. Zur allgemeinen Kontextualisierung des Jazzhörens und der Jazzpolitik unter verschiedensten Aspekten ist jedoch umfangreiches Schrifttum vorhanden, das zu dieser Aufgabe herangezogen werden konnte.

Wenn es richtig ist, dass Jazzgeschichte eine Geschichte persönlicher Begegnungen ist (so Wolfram Knauer)114, dann hat das zur Folge, dass die Kenntnis persönlicher Begegnungen, d. h. wer wann mit wem wo was gemeinsam veranstaltet hat, eine hohe Wichtigkeit für die Jazzgeschichtsschreibung hat. Eine von Willis Conovers Stärken war das Knüpfen persönlicher Beziehungen, so dass an seinem Kontaktnetz Entwicklungslinien der Jazzgeschichte abzulesen sind, wobei es genauso wichtig ist, diejenigen Kontakte zu benennen, die zu Ergebnissen geführt haben, wie diejenigen, die fruchtlos blieben, aber auch Zusammenhänge und Konstellationen aufzuzeigen, die dazu führten, dass es nicht zu Kontakten kam. Für die Nachvollziehung dieses Networking waren die Gespräche und schriftliche Kontakte mit Zeitzeugen sehr hilfreich.

9. Aufbau der Arbeit

Willis Conover wirkte sowohl als Radiomoderator von zu Hause aus als auch als umherreisender Botschafter in Sachen Jazz – eine Doppelfunktion, die nur wenige andere Radiomoderatoren innehatten und die ihn auch von den anderen Jazz-Diplomaten der US-Regierung ganz wesentlich unterschied. Während Conover zunächst als Radiomoderator in den USA begann, verwob sich diese Tätigkeit immer mehr mit seinen Auslandsreisen, bis beides schließlich eine Einheit bildete. Dieses Verwachsen spiegelt sich auch in der Struktur dieser Arbeit wider. Sie umfasst zehn Kapitel, in denen es sowohl um Jazz-Radiopolitik (Kapitel 1–5) als auch um Jazz-Reisediplomatie (Kapitel 6–10) geht.

Nach einer Vorstudie über Begriff und Konzept der Propaganda geht es im ersten Kapitel einführend um grundlegende Verwendungszusammenhänge von Jazz als Mittel der Diplomatie angefangen vom „Vorspiel“ des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn von Conovers Sendung. Behandelt wird hier die diplomatische Konzeption der USA als auch der Ostblockstaaten, die sich allesamt in der kurzen Zeit von 1945 bis ca. Ende 1960 mehrfach fundamental wandelten: Auf beiden Seiten reichte das Panorama der Beurteilungen des Jazz von scharfer Ablehnung als Mittel der Politik bis hin zu enthusiastischer Zustimmung zu seiner kulturpolitischen Verwendung. Deutlich sichtbar wird die gegenseitige Bezogenheit der Parteien des Kalten Kriegs aufeinander: Diese Wandlungen vollzogen sich nämlich nicht unbeeinflusst voneinander, sondern zumeist in Reaktion auf das Verhalten der Gegenseite. Gezeigt wird, wie unter dem sich ausbildenden Ost-West-Gegensatz noch ein zweiter Gegensatz, nämlich der zwischen der alten Kulturmacht Europa und den neuen „Emporkömmlingen“ USA und Sowjetunion lag. Bei alldem wird der Charakter des Themas als entangled history eindringlich deutlich.

Das zweite Kapitel stellt US-amerikanische Radiopolitik in Bezug auf Jazz und die Jazz-Radiopolitik der Ostblockstaaten einander gegenüber. Hierbei traten ähnliche diametral gegensätzliche Verwendungsstrategien des Jazz im Radio auf, wie im ersten Kapitel bei der Beschreibung der kulturpolitischen Instrumentalisierung des Jazz im Allgemeinen. Auch das zweite Kapitel weist auf gegenseitige Beeinflussungen und die Funktion dieser Beeinflussungen als Motor der Weiterentwicklung hin. Gezeigt wird, wie Jazz von Radiostationen auf beiden Seiten wohlüberlegt eingesetzt wurde, um ganz bestimmte Wirkungen beim Gegenüber zu erzielen – insbesondere, wie Conovers Sendung am Beginn eines reziproken Reiz-Reaktions-Mechanismus standen. Waren Conovers Sendungen der Endpunkt einer Metamorphose der Jazzverwendung im Radio, die noch ein Jahrzehnt vorher in dieser Form kaum jemand für möglich gehalten hätte, so zeigt sich ein gleicher, ähnlich intensiver Wandel in den Radiosendern der Ostblockstaaten, in denen Jazz im Radio zur Zeit des Stalinismus ebenso konsequent bekämpft wurde, wie er als Reaktion auf Conovers Sendungen Ende der 1950er Jahre im Radio gefördert wurde. Anhand der Jazzverwendung in den Radiostationen von Ost und West lässt sich zeigen, wie das gegenseitige Lernen vom Gegner den Modernisierungsprozess des Mediums vorantrieb, aber auch welche Faktoren vorhanden sein mussten, damit Jazz zu diesen Zwecken eingesetzt werden konnte.

Das dritte Kapitel fokussiert auf die Radiosendungen Willis Conovers selbst und zeigt, wie diese Sendungen als virtuelle Kontaktorte zwischen den Machtblöcken fungierten und von beiden Seiten für ihre Zwecke eingesetzt wurden. Außerdem wird hier die Attraktivität der Sendungen anhand einer Betrachtung ihres Aufbaus analysiert. Ebenfalls wird gezeigt, wie anhand der Sendungen schon bald ein Kulturtransfer auch von Ost nach West einsetzte, als nämlich immer mehr Musiker aus dem Ostblock durch Conovers Hilfe die Möglichkeit erhielten, in den USA zu studieren oder als Musiker zu arbeiten. Das vierte Kapitel stellt die wesentlichen Eigenschaften der Person Conovers in den Vordergrund, die für die Ausführung seiner Jazz-Diplomatie in dieser Form verantwortlich waren. Seine Stimme, die für die Hörer ein Faszinosum war, seine menschlichen Eigenschaften, seine Vorlieben im Jazz und seine eigentümliche Mittlerstellung einerseits als Beauftragter der US-amerikanischen Kulturpolitik, andererseits als Jazz-interessierter Szenenbeobachter bestimmte über seine Stellung in der Jazzwelt und über die Beurteilung seiner Person, die zwischen hemmungsloser Bewunderung und Vergötterung vorrangig in den 1950er und 1960er Jahren bis hin zu einer Ernüchterung nach dem Ende des Kalten Krieges reichte und daher immer wieder von latentem Misstrauen geprägt war, da seine eigentümliche Mittlerstellung nicht leicht zu begreifen war.

Im fünften Kapitel steht der Hörer im Mittelpunkt: Zunächst bestand die Problematik, überhaupt zu Beschreibungen der Hörerschaft zu kommen, was für den US-amerikanischen Sender genauso schwierig war wie für die Radiosender des Ostblocks. Hörerforschung entwickelte sich, nicht nur hinsichtlich Conovers Sendung, zu einer Spezialdisziplin der Soziologie, die aber auch ganz praktische, tagespolitische Auswirkungen haben konnte. Für die Ostblockstaaten ergab sich dabei ein latenter Konflikt zwischen herrschaftspolitisch motiviertem Erkenntnisinteresse und ideologischen Barrieren. Im Falle von Conovers Sendungen bildeten sich spezielle Hörpraktiken aus, die mittels einer qualitativen Analyse der Hörsituationen beschrieben werden. Bedeutsam sind dabei sowohl soziale und kulturelle Faktoren als auch die technische Seite, d. h. die zur Verfügung stehenden Radioempfangsgeräte, die Aufnahme- und Überspielmöglichkeiten sowie die technischen Möglichkeiten der Behinderungen des Radioempfangs, insbesondere die Funktion der sowjetischen Störsender.

Das folgende sechste Kapitel behandelt vorrangig nicht mehr den Radiomoderator, sondern den Jazz-Diplomaten Conover. Von 1959 bis 1968 unternahm er mitunter mehrere Reisen in das europäische Ausland jährlich. Diese „Eroberung des Ostblocks“, wie es die Kulturpolitiker der USA enthusiastisch formulierten, war Ergebnis eines fortwährenden Interessenausgleichs zwischen der US-Kulturpolitik, den Vorstellungen über Jazz-Politik in den Ostblockstaaten, den Wünschen der Jazz-Szene im Land sowie Conovers selbst. Anhand einer auf die Musik bezogene Betrachtung zeigt das folgende siebte Kapitel auf, auf welchen Grundlagen diese Reisetätigkeit Conovers beruht hatte, aber auch, welche Wandlungen sich seit Ende der 1960er Jahre ergaben: Jazz wurde sowohl stilistisch als auch im Hinblick auf seinen gesellschaftlichen Ort eine andere Musik, die stilistische Diversität im Ostblock weitete sich aus, und all das sollte Conovers Handeln in den Folgejahrzehnten nachhaltig bestimmen. Der Kulturtransfer war nicht nur wechselseitig geworden, sondern hatte auch das Transportmedium qualitativ verändert: Die Musik, die man Jazz nannte, war stilistisch und hinsichtlich ihrer sozialen Funktion kaum noch mit der Musik gleichen Namens der ausgehenden 1950er Jahre zu vergleichen.

Das achte Kapitel zeigt, welche Auswirkungen das hatte: Jazzmusik hatte, nicht zuletzt aufgrund der Konkurrenz des Rock, einen erheblich unsichereren Stand, als das noch zu Beginn von Conovers Sendetätigkeit der Fall gewesen war. Dennoch gewann Jazz auch unter diesen Umständen für die Kulturpolitiker beider Seiten eine gewisse Wichtigkeit, was sich beispielsweise in der Fortdauer geheimdienstlicher Observation des Jazz-Milieus zeigte. Im neunten Kapitel wird die Funktionsweise von Conovers Netzwerk angesichts dieser neuen Umstände beschrieben. Nicht zuletzt dank dieses Netzwerks, das er in den 1960er Jahren geknüpft hatte, konnte Conover in den 1970er und 1980er Jahren sowohl seine Sende- als auch seine Reisetätigkeit fortsetzen. Ein Ausblick auf die Situation nach seinem Ende erweist, wie sehr Conovers Sendungen, ihre Rezeption und seine Reisetätigkeit an das Koordinatensystem der Zeit vor 1989 gekettet war. So bedeutete das Ende des Ostblocks auch das Ende des Funktionssystems von Conovers Moderatoren- und Reisetätigkeit in der bisherigen Form.

Das zehnte Kapitel weist darauf hin, wie einige der zentralen mit dem Jazz verbundenen Ideen im kompetitiven Diskurs der Parteien des Kalten Kriegs eine Funktion als produktive Missverständnisse erhielten: Die Gedanken von Jazz als Musik der Freiheit und Demokratie, als Musik Amerikas und als Musik der unterdrückten farbigen Bevölkerung in den USA wurden sowohl zu Kampfelementen in der kulturdiplomatischen Auseinandersetzung, als auch übten zugleich eine wichtige fördernde Rolle für die Jazzentwicklung insgesamt aus. Zugleich zeigt dieses Kapitel anhand dieser Beispiele die Grenzen der kulturpolitischen Einsatzmöglichkeiten des Jazz auf.

Abschließend wird Conovers Wirken und der Jazz im allgemeinen als ein Feld gesellschaftlichen Handelns im Kalten Krieg dargestellt und die abschließende These vorgestellt, nach der der Umgang mit Jazz sich nach bestimmten, von der politischen Rahmensituation vorgegebenen Spielregeln vollzog, so dass der Kalte Krieg der Jazzentwicklung in den Ostblockstaaten nicht schadete, sondern sie im Gegenteil beförderte.


1 Das Standardwerk hierzu schrieb Penny van Eschen: Satchmo blows up the world. Jazz ambassadors play the Cold War, Cambridge, MA: 2004.

2 So beispielsweise Arch Puddington: Broadcasting Freedom. The Triumph of Radio Free Europe and Radio Liberty, Lexington: The University of Kentucky Press, 2000.

3 Dieser Gedanke steht im Zentrum des Sammelbands von Alexander Badenoch / Andreas Fickers / Christian Henrich-Franke (Hg.): Airy Curtains in the European Ether. Broadcasting and the Cold war, Baden-Baden: Nomos, 2013 (vgl. Einleitung, S. 11 f.).

4 Vgl. Frank Bösch / Manuel Borutta (Hg.): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2006.

5 Dies ist insbesondere beim wissenschaftlichen Umgang mit Jazz im ehemaligen Ostblock der Fall.

6 F. Newton [i.e. Eric Hobsbawm]: The Jazz Scene, London 1959.

Details

Seiten
906
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631908235
ISBN (ePUB)
9783631908242
ISBN (Hardcover)
9783631889756
DOI
10.3726/b21162
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (August)
Schlagworte
Jazz Kalter Krieg Cultural diplomacy Soft power Kulturtransfer Radio Hörerforschung Kulturpolitik Willis Conover Rüdiger Ritter Waffe oder Brücke?
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 906 S., 3 Tab.

Biographische Angaben

Rüdiger Ritter (Autor:in)

Rüdiger Ritter ist Osteuropahistoriker, Musikwissenschaftler und Privatdozent an der TU Chemnitz. Er forscht zu Themen der vergleichenden Kultur- und Musikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mit einem Schwerpunkt auf Polen, Russland/Sowjetunion und dem Baltikum.

Zurück

Titel: Waffe oder Brücke?
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
908 Seiten