Wege aus dem Krieg
Auf der Suche nach Frieden und Stabilität in Nordosteuropa nach 1918
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Einführung
- After the Finnish Apocalypse: The social groups in Finland after the Civil War of 1918
- Estlands Weg zum Staat in Revolution und Krieg: Die Einhegung der Gewalträume
- Auf dem Weg zur „Staatsgemeinschaft“: Kulturelle Autonomie der Minderheiten in Lettland 1919-1934
- Friede, Freude, Wasserkraft. Litauens Wege aus dem Ersten Weltkrieg und die Stabilität des Provisorischen
- Zwischen Konsolidierung und entglittener Reform: Die nordöstlichen Grenzgebiete Polens in den 1920er Jahren
- Friedenschance oder taktisches Manöver? Der Vorschlag einer Friedenskonferenz für Russland auf Prinkipo 1918/1919
- Eine Paris-Rigaer Friedensordnung? Zur historischen Verortung der Friedenskonferenz von Riga 1920-1921 nach dem Ersten Weltkrieg
- Im Blick der USA? Krieg, Kommunismus und die lettische Gesellschaft aus Sicht der amerikanischen Gesandtschaft in Riga. 1920/22-34
- Auf der Suche nach Sicherheit im Nordosten Europas – bilateral und multilateral (1918-1939)
- Autorinnen und Autoren
- Index
Svetlana Bogojavlenska / Benjamin Conrad / Jan Kusber
Einführung
In den letzten zwei Jahrzehnten ist das östliche Europa ab dem Ersten Weltkrieg durch Historiker wie Jörg Baberowski und Timothy Snyder als Gewaltraum konzeptualisiert worden.1 Fragile Gesellschaften in der Zwischenkriegszeit sowie die Herausforderungen multinationaler Gesellschaften, die durch das Pariser System keinesfalls abgemildert wurden, führten zu Gewaltbereitschaft in den Staaten und zwischen den Staaten. Der nachgelagerte Zweite Weltkrieg prägt dabei den Blick auf die Zwischenkriegszeit. Von 2024 aus gesehen, insbesondere vor dem Hintergrund des seit 2022 andauernden russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, ist es schwer, sich von dem ebenso essentialistischen wie einprägsamen Bild der „Bloodlands“ zu lösen. In der Tat entstand die neue Staatenwelt im Nordosten Europas im Ersten Weltkrieg und in seinen Nachfolgekriegen auf den Trümmern der Imperien. Die Friedensschlüsse der neuen Staaten insbesondere mit dem sowjetischen Nachbarn, bedeuteten zunächst nur die Abwesenheit von Krieg.
Der Erste Weltkrieg schuf dabei die Voraussetzungen für eine Nachkriegsgewalt, war aber natürlich nicht allein deren Ursache. Diese lag vielmehr in der Verknüpfung von Niederlagen, Revolutionen, Konterrevolutionen und imperialem Zerfall. Dass sich in den Bruchzonen der alten Reiche und in der Phase der Staatsneugründungen besonders viele und heftige Gewaltexzesse abspielten, ist seit längerem Gegenstand intensiver Forschungen. Dabei ist unter anderem gefragt worden, ob man, wie das für Deutschland getan worden ist, von einer Nachkriegsgewalt sprechen kann, oder ob man nicht von einem Krieg sprechen müsse, der in Nordosteuropa den Großen Krieg, Bürgerkrieg und Unabhängigkeitskriege zusammendenkt, in dem paramilitärische Gewalt, Vertreibung und Zwangsmigration sowie Pogrome eingewoben waren.2 Die analytische Trennung der Historikerinnen und Historiker ging keinesfalls immer mit der lebensweltlichen Erfahrung der Menschen einher.
Doch lässt sich hieraus folgern, Frieden, Sicherheit und zivilgesellschaftliche Entwicklungen hätten in der sogenannten Zwischenkriegszeit keine Chance gehabt? Robert Gerwarth jedenfalls hat in seinem Buch „Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkrieges“ davor gewarnt, die jeweiligen Kriegserfahrungen als Grund für die anhaltende Brutalisierung der Nachkriegsjahre zu überschätzen.3
Der vorliegende Band will die Konzeptualisierung von Gewalträumen und dem daraus abgeleiteten Narrativ von dysfunktionalen Staaten und Gesellschaften umdrehen und fragen, welche Wege aus dem Krieg zur friedlichen Entwicklung von Staaten und ihrer multiethnischen Gesellschaften sowie zur friedlichen Absicherung staatlicher Existenz gesucht wurden. Die Imperien, die ja in der „New Imperial History“ mit Blick auf die Möglichkeiten eines multinationalen und multireligiösen Staates überschätzt wurden, boten immerhin die Möglichkeiten eines wenn auch nicht immer gedeihlichen Miteianders, so doch eines Nebeneinanders.4 Wie sah dies aus in den neuen Staaten aus, die den Anspruch erhoben, Nationalstaaten zu sein und damit diesbezügliche Prozesse von Inklusion und Exklusion strukturierten, die die gesellschaftliche Teilhabe bedingten oder verweigerten? Wie sah dies auf der Ebene der internationalen Beziehungen aus? Bekannt ist, dass führende Vertreter des British Foreign Office beispielsweise die baltischen Staaten als ökonomisch und politisch nicht lebensfähig ansahen.
Die neue Weltordnung, die in Paris ausgehandelt und in seinen Vororten unterzeichnet wurde,5 entstand unter Einflussnahme oder versuchter Einflussnahme von 10.000 Personen als Sachverständige und Berater. Diese tagten in 50 Kommission und Ausschüssen sowie mit über 1.000 Delegierten in der Vollversammlung.6 Keinesfalls aber waren alle Interessierten gleichberechtigt, von der von vornherein vorgesehenen Ungleichbehandlungen von Sieger und Besiegten einmal abgesehen. So konnten sich die baltischen Regierungen ebenso wie finnische Repräsentanten ganz anders als Polen auf der Konferenz kaum Gehör verschaffen. Zudem blieb aufgrund des Bürgerkriegs Russland, in welcher Gestalt und Vertretung auch immer, „the missing party“ (Zara Steiner).7
Boris Barth hat in seinem Buch „Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der europäischen Demokratie“ eine Krise ausgemacht, die natürlich nicht nur für Nordosteuropa Geltung beansprucht. Eine Stärke von Traditionsbeständen, die zumeist eben nicht demokratisch war, eine Verbindung einer Nationsvorstellung, die an eine essentialistisch gedachte Vorstellung der Ethnie gedacht war, vor allem aber die labile ökonomische Entwicklung, machten seiner und nicht nur seiner Auffassung nach die Krise der Demokratie aus.8 Diesen Ansatz soll in diesem Buch mittels Aufsätzen mit jeweils unterschiedlichen Zugriffen hinterfragt werden. Manche schauen die Forschung zu ihrem Thema zusammen, andere arbeiten mit neuem archivalischen Material. Vollständigkeit kann und soll nicht erreicht werden, aber es soll ein vertiefter Blick auf jene Staaten im Ostseeraum geworfen werden, die aus den monarchischen Landimperien entstanden und sich nun zwischen Deutschland und Sowjetrussland bzw. der Sowjetunion befanden. Wenn im Titel vom Ostseeraum die Rede ist, so werden Dänemark und Schweden aus dem naheliegenden Grund ausgelassen, dass beide Staaten im Ersten Weltkrieg neutral geblieben waren, mithin keinen Weg aus dem Krieg zurückzulegen hatten. Alle anderen Staaten finden Berücksichtigung.
Im ersten Teil des vorliegenden Buches, „Frieden und gelingende Gesellschaften“, wird in die neuen Staaten hineingeschaut werden, dies von Norden nach Süden. Marko Tikka setzt in seinem Beitrag dabei den Schwerpunkt auf die Betrachtung der sozialen Gruppen unmittelbar nach Finnlands Unabhängigkeit. Karsten Brüggemann schaut auf das Wechselspiel zwischen Politik, Militär und Gesellschaft während und unmittelbar nach dem Estnischen Unabhängigkeitskrieg. Svetlana Bogojavlenska nimmt in ihrem Beitrag die demokratische Periode im Lettland der Zwischenkriegszeit bis 1934 aus Perspektive der nationalen Minderheiten ins Visier. Mathias Niendorf schlägt einen noch weiteren Bogen von der Proklamation der Unabhängigkeit Litauens 1918 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939. Werner Benecke schließt den ersten Teil des Bandes mit einer Betrachtung des nordöstlichen Teils der Zweiten Polnischen Republik mit einem Schwerpunkt in den 1920er Jahren ab.
Im zweiten Teil des Buches, „Friedensordnungen in Nordosteuropa“, wird auf die internationale Dimension eingegangen. Hierbei werden Deutschland und (Sowjet)-Russland, aber auch internationale Arenen mit einbezogen und chronologisch vorgegangen. Christian Müller beschäftigt sich unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mit den Diskussionen und Vorbereitungen einer Friedenskonferenz für den russischen Raum auf der Insel Prinkipo (Prinzeninsel) vor Konstantinopel, die nicht einberufen werden konnte. Benjamin Conrad widmet sich der innerpolnischen Forschungsdiskussion, ob sich eine stärkere Berücksichtigung der Friedenskonferenz von Riga zwischen Polen und den Sowjets in dem Begriff einer „Paris-Rigaer Friedensordnung“ für die Zwischenkriegszeit niederschlagen sollte. Timo Nahler betrachtet die US-amerikanische Botschaft in Riga während der demokratischen Periode Lettlands bis 1934, die eine weit über das Baltikum hinausreichende Rolle für den Ostseeraum einnahm. Jan Kusber beschließt den Band mit einem übergreifenden Beitrag zu bi- und multilateralen Sicherungsmaßnahmen der Zwischenkriegszeit im östlichen Ostseeraum.
Nicht nur Wege aus dem Krieg können, wie in dem vorliegenden Band dargelegt, mehrjährig, windungsreich und langwierig sein. Auch ungleich unwichtigere Vorhaben wie ein Sammelband nehmen mitunter solche Wege. Dieses Buch basiert auf Referaten des 70. Baltischen Historikertreffen, das im Juni 2017 in der Universität Göttingen auf Einladung der Baltischen Historischen Kommission und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Mitveranstalter stattfand. Anders als der für die Produktion typische Bearbeitungszeitraum von zwei oder drei Jahren vergingen bis zur Drucklegung sechs Jahre. Ein Publikationsstau, der in den Geisteswissenschaften häufiger als wünschenswert auftritt, gepaart mit der Bewältigung der Corona-Pandemie ab 2020 führten wieder und wieder zu Verzögerungen. Das Werk erschien schließlich 2024 unter für die Region Ost- und Ostmitteleuropa völlig veränderten Rahmenbedingungen: Am 24. Februar 2022 schlug Russlands Präsident Vladimir Putin den Weg in den Krieg ein, in dem er dem Nachbarland Ukraine einen unprovozierten Angriffskrieg aufzwang – ein Krieg, der europa- und weltweit für schwere Verwerfungen und Veränderungen sorgte und noch sorgen wird. Die Betrachtung von historischen Wegen aus dem Krieg erhielt durch diese jüngsten Ereignisse eine nochmals höhere Bedeutung.
Die Herausgeber danken den Autoren der Beiträge für ihre Werke sowie ihre Geduld und die Bereitschaft, alle Windungen klaglos hinzunehmen. Semjon Kaul, Anna Rammonat, Ronja Ringleben-Fricke und Caroline Schmidt halfen eifrig bei der Herstellung des Bandes. Der Peter Lang Verlag ermöglichte die Aufnahme der Publikation in der Reihe „Transformationen – Differenzierungen – Perspektive. Mainzer Studien zur Neuzeit“.
1 Dietrich Beyrau Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin, Göttingen 2000. = Kleine Reihe V & R.; 4021; Jörg Baberowski Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003; Timothy Snyder Bloodlands. Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011.
2 Jan Kusber Wegscheide Krieg. Defekte Imperien, defekte Nationalstaaten, in: Osteuropa 64 (2014), Nr. 2–4, S. 233-246; Joshua Sanborn Imperial Apocalypse: The Great War and the Destruction of the Russian Empire, Oxford 2014; Martin Aust Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium, München 2017; Jeffrey Veidlinger Mitten im zivilisierten Europa. Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust, München 2022.
3 Robert Gerwarth Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkrieges, München 2017.
4 Jane Burbank/Frederick Cooper, Empires in World History: Power and the Politics of Difference, Princeton 2010; Jane Burbank Empires after 1919. Old, new transformed, in: International Affairs 95 (2019), Nr. 1, S. 81-100.
5 Zum weiteren Kontext umfassend: Jörn Leonhard Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923, München 2018; Eckart Conze Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 2018.
6 Boris Barth Europa nach dem Großen Krieg Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918–1938, Frankfurt am Main/New York 2016, S. 26.
7 Zara Steiner The lights that failed. European international history 1919-1933, Oxford 2005, S. 131.
8 Barth, Europa nach dem Großen Krieg, S. 294-296.
Marko Tikka
After the Finnish Apocalypse: The social groups in Finland after the Civil War of 1918
The well-known Finnish historian Jaakko Paavolainen finished his classic book “Valkoinen terrori”, 1967, on the violent events of Finland’s Civil War with the words: “against the backdrop of the violence during the spring of 1918, the unified domestic front in Finland in the Winter War was not just a miracle; it was the miracle of all miracles.”1 What did he mean by this?
Finland’s Civil War in the winter of 1918 was, in proportion to the country’s population, one of Europe’s most destructive internal conflicts of the 20th century.2 In a war that lasted only for three and a half months, the acts of terror and the prison camps took the lives of more than one per cent of Finland’s 3,5 million population at the time, some 36.400 Finns. As a consequence of the Civil War, Finland got politically divided into two: the Finland of the vanquished Reds and the Finland of the victorious Whites. It is difficult to believe that a country so severely sundered could present a unified front against the attack of the Soviet Union in the fall of 1939 after the start of WW2. The national integration called the “miracle of the Winter War” was indeed like a miracle especially to the Finnish right wing that had during the 1920s and 1930s mainly striven to exclude the left wing, the losers of 1918, from the society. Those aspirations did not succeed, and that failure had a decisive impact on Finland’s development after the Civil War.
Finland had detached from Russia after the Russian Revolution of 1917. The country’s Civil War was the first European conflict in which national revolutionary and conservative forces confronted each other. The war fought between two paramilitary political armies, Finland’s Reds and Whites, became brutal particularly as regards acts of terror. 11,000 Finns lost their lives to terror. The legacy of the war was gigantic humanitarian suffering and destruction, after which one could have imagined it impossible to make peace between the social groups which had been killing each other en masse in the winter of 1918 for decades to come. For the Finns, the war was an internal power struggle, but for the troops of Russia and especially imperial Germany that were involved it was a part of WW1. When Finland had declared independence and been liberated in November 1918 and imperial Germany had lost the war also as regards the German troops in Finland, the construction of the independent Republic of Finland could commence.
After the world war and the civil war, the development during the post-war years was nothing short of astonishing. Already in the following year Finland became a parliamentary republic as one of the first among the new European states; a representative democracy governed by political parties.
Parliamentary election was arranged only half a year after the Civil War, and representatives of the losing side could also participate. Only a few months after the end of the war Finland adopted municipal suffrage, and as the result, municipalities and towns switched to universal suffrage from the earlier voting right based on property. As a consequence of the election reform, Social Democrats, that is the losing Red side in the Civil War, gained the majority in the councils in several municipalities, among them Finland’s second largest city of Tampere.
After the Civil War, free formation of political parties was allowed in Finland, although the activities of both fascists and Communists were restricted during the time between the world wars. In a European context, it was exceptional that fascist movements did not grow into a significant political factor.
Although political extreme factions were discriminated, for the most of the population the 1920s and 1930s meant an improvement in social circumstances: universal compulsory education, freedom of religion, significant improvements to the rights of farmers, workers, and women.
How was all this possible only after a few years after the Civil War? In recent years, this historical period has been studied in Finnish historical research in the wake of the Civil War history. The research has been constructing an idea of strongly divided cultures, looking at the ideology and construction of the so-called White Finland, but also sketching the crucial role of the Social Democrats in the detente politics following the Civil War.3
Details
- Seiten
- 258
- Erscheinungsjahr
- 2024
- ISBN (PDF)
- 9783631915035
- ISBN (ePUB)
- 9783631915042
- ISBN (Hardcover)
- 9783631907740
- DOI
- 10.3726/b21580
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2024 (Juli)
- Schlagworte
- Finnland Lettland Polen Friedenskongress diplomatische Beziehungen Estland Litauen Sowjetunion nationale Minderheiten Zwischenkriegszeit
- Erschienen
- Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 258 S., 3 Tab.
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