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Zugewandert in die Schweiz und doch unterwegs

Zur erinnerten Migration in den Erzähltexten zugewanderter Autorinnen und Autoren der deutschen Schweiz

von Adam Sobek (Autor:in)
©2023 Monographie 342 Seiten

Zusammenfassung

Diese Studie beschäftigt sich mit den Werken und Lebenserfahrungen von zugewanderten Autorinnen und Autoren, die in der deutschen Schweiz ansässig sind. Im ersten Teil der Untersuchung werden verschiedene Themen wie kulturelle Identität, sprachliche Zugehörigkeit, postkoloniale Literaturkritik, autobiografisches Schreiben, Erinnerungskultur und die Darstellung von Räumen in den Erzählungen der Migrationsliteratur beleuchtet. Der zweite Teil der Studie widmet sich der Analyse von zehn Romanen, die nach 2000 veröffentlicht wurden. Hier steht vor allem die erinnerungsorientierte, interkulturelle Literatur im Fokus, geschrieben von Autorinnen und Autoren, die nicht aus der Schweiz stammen, oder von Personen, die als ‹Secondos› und ‹Secondas› in der Gesellschaft wahrgenommen werden. Das Ziel ist es, sich diesen literarischen Werken anzunähern und ihre Bedeutung zu erforschen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1. Zum Forschungsstand
  • 1.2. Zielsetzung und Methode
  • 2. Theorie der Migration im Grundriss
  • 2.1. Heimat- und Identitätskonzepte in neueren Theorien
  • 2.2. Zwischen kultureller und kollektiver Identität
  • 2.3. Zum Phänomen der kulturellen „Hybridität“: Wandel – Verschmelzung – Koexistenz
  • 2.4. Auseinandersetzung mit dem Postkolonialismus – die postkoloniale Literaturkritik
  • 2.5. Migranten- bzw. Migrationsliteratur als neue literarische Kategorie
  • 3. Merkmale der Migrationsliteratur
  • 3.1 Autobiografisches Schreiben als Kennzeichen der Migrationsliteratur
  • 3.2 Raumdarstellung
  • 3.2.1. Raumdarstellung als Kollektivvorstellungen von Eigenem und Fremdem
  • 3.2.2. Erinnerung auslösende Räume
  • 3.3. Literarische Texte als erinnerungskulturelles Medium der Migration
  • 4. Zur Deutschschweizer Migrationsliteratur
  • 4.1. Migrationsliteratur der ersten Einwanderergeneration als Zeichen Literatur der deutschen Schweiz
  • 4.2. „Secondos“ und „Secondas“: Autoren und Autorinnen mit Migrationshintergrund der zweiten Einwanderungsgeneration
  • 5. Catalin Dorian Florescu – Zwischen sprachlichem Nicht-Dazugehören und gesellschaftlichem Disloziert-Sein
  • 5.1. Autobiografisches Schreiben als Plädoyer für die migrationsbedingte Mehrfachzugehörigkeit
  • 5.2. Zum Disloziert-Sein: Zwischen Nicht-Dazugehören und Anerkennung
  • 5.3. Die Repräsentationen der Fremdheit und des Fremden
  • 5.4. Kritische Diagnose der Schweiz als eines Raums der Störung
  • 5.5. Erinnerung als treibende Kraft grenzüberschreitenden Handelns
  • 5.6. Imaginativer Raum der verlassenen Heimat – Rumänienbilder
  • 6. Irena Brežnás Zeugnis der Krisenerfahrung
  • 6.1. Ästhetisierung des erzählten Raums
  • 6.1.1. Zum Topos der verlorenen Heimat
  • 6.1.2. Das Aufnahmeland und dessen Raumwahrnehmung
  • 6.2. Die Wahrnehmung der Identität
  • 6.3. In der Sprache zu Hause
  • 6.4. Fremdheit als Vorlage der Identität
  • 7. Yusuf Yeşilöz’ Ansatz zur Kulturübersetzung
  • 7.1. Diverse Migrationsbiografien mit autobiografischem Hintergrund
  • 7.2. Das Fremde – eine kulturanthropologische Metapher der Wahrnehmung
  • 7.3. Interkulturelle Variationen der Einwanderung und der Rückkehr
  • 7.4. Heimatvorstellungen: Anatolien und die Schweiz
  • 7.5. Das autobiografische Narrativ bei Yusuf Yeşilöz
  • 8. Ilma Rakusas Variationen von Zugehörigkeiten
  • 8.1. Die wandernde Autorin der Grenzgängerproblematik
  • 8.2. Rakusas Schreiben zwischen Autobiografie und „poetisierter Biografie“
  • 8.3. Die Raumwahrnehmung als textuelle Architektur einer Nomadin
  • 8.3.1. Raumrepräsentation der neuen Heimat
  • 8.3.2. Die Schilderung der Tschechoslowakei – Heimatloses Erzählen
  • 8.3.3. Der Topos der Kindheit – identitätsstiftender Raum
  • 8.4. Die Reise als identitätsbestimmendes Moment
  • 8.5. Zur Wahrnehmung von Grenzen der transkulturellen Grenzgängerin
  • 8.6. Die Sprache der ihren Ursprung suchenden Wanderin
  • 9. Martin R. Dean. Protokollant des Eigenen und Fremden
  • 9.1. Martin R. Deans Schreiben als autofiktiver Bericht
  • 9.2. Die dargelegten Räume des Einheimischen und des Exotischen
  • 9.3. Topografien des Fremden
  • 9.4. Zwischen Unrast und Zugehörigkeit
  • 9.5. Multikulturelle Narrationen
  • 10. Francesco Micieli – Porträtist der Zuwanderer
  • 10.1. Katzenfresser und Gotthardchinesen: Facetten der Fremdheit
  • 10.2. Zwischen zwei Sprachen geraten – Sprachliches Minimum
  • 10.3. Identifikation, Distanznahme und Identitätsverlust
  • 10.4. Raumerkennung von Grenzgängern
  • 10.5. Autobiografisches Narrativ als Aufarbeitung der Migration
  • 11. Die „Migrationsliteratur“ als Bekundung der Mehrfachzugehörigkeit im „Zwischenraum“ und „Schwebezustand“. Schlussfolgerungen
  • 12. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit der Migrationsproblematik und dem Begriffskomplex der Grenzerfahrung stellt im Werk Deutschschweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller eine wichtige soziale, geistige, aber auch politische Konstante dar. Die Erschließung des Problemfeldes erfolgt vor der Kulisse der langandauernden Debatte über die ethno-nationalen Voraussetzungen der Deutschschweizer Literatur. Das Spannungsfeld, das solchen Aussagen entspringt, wie etwa: die Schweizer Literatur sei „ein Hirngespinst in den Köpfen der Germanisten“1 oder „Ich bin für die Abschaffung der Schweiz als Idee, als Wille und Wahn“2 – um nur zwei Beispiele aus der Unmenge kritischer Äußerungen bezüglich der „condition helvétique“ zu nennen –, spiegelt das schwierige Verhältnis zur Schweiz als einem Raum des intellektuellen, literarischen und kulturellen Diskurses wider, das sowohl von Literaturschaffenden als auch -kritik unentwegt empfunden, analysiert und erörtert wird.3 Zusätzlich wird der Schweizer Literaturdiskurs dadurch vertieft, dass manche die Existenz der Schweizer Literatur negieren – wie beispielsweise Urs Widmer in folgender These: „Es gibt keine Schweizer Literatur. Es gibt eine Literatur aus der Schweiz“4 – und vielmehr von vier Literaturen der Schweiz sprechen. Kritische Merkmale sind offensichtlich die vier offiziellen Sprachen der Schweiz sowie der Austausch mit den sprachverwandten Kulturräumen, auf den die Schweizer der jeweiligen Sprachregion angewiesen sind.5 Beatrice Sandberg erklärt die Spezifik der Schweizer Literatur mit folgender Feststellung:

Der Begriff der Nation passt […] nicht so recht auf schweizerische Verhältnisse, weil die Schweiz kein Staat ist, der auf dem Konzept einer Sprach- und Kulturgemeinschafts- Nation begründet ist und von daher zu Recht als ein „Sonderfall“ im Rahmen des Staatsbildungsprozesses bezeichnet werden kann. Von daher gibt es weder das Kulturideal einer einheitlichen nationalen Sprache noch einer nationalen Volkskultur.6

Die schon an sich selbst unklare Situation der Schweizer Literatur bzw. der vier Literaturen der Schweiz wurde in den 1980er-Jahren noch zusätzlich durch die ersten Publikationen ‚fremdsprachiger‘7 Autorinnen und Autoren verkompliziert, die einen bedeutenden intergenerationellen Umbruch mit sich brachten, wodurch die literarische Bühne eine neue Optik und Sensibilität zu durchdringen begann. Der Rezeptionswandel lässt sich auf das Debüt von zwei italienischstämmigen Autoren zurückführen, Dante Andrea Franzetti und Francesco Micieli, die als Vertreter der zweiten Generation damals den Anfang der Migrationsliteratur in der Schweiz markierten. Unter der zweiten Generation versteht man die Randgruppe von „Secondos“ und „Secondas“, also „Kinder[n]‌ von jenen, die in den sechziger Jahren, von der Wirtschaft gerufen, als Fremdarbeiter ins Land kamen und die blieben, trotz Überfremdungsgeschrei“8. Kennzeichnend für die zweite Generation sind die Schwellenerfahrung der Migration und des Migrationshintergrunds sowie auch ihr spezifisches Verhältnis zur Schweiz. Da sie immer in zwei Sprachkonstellationen aufwuchsen, entwickelten sie eine besondere Sprachkreativität.9 Diese ist auf Kontakte und Besuche im Land der Vorfahren zurückzuführen, wo sie deren fremden Stimmen ausgesetzt waren. Unter den „Secondos“ und „Secondas“ lässt sich eine große Anzahl von Schriftstellerinnen und Schriftstellern beobachten, bei denen das transkulturelle Schreiben vorherrschend ist. Außerdem fühlen sich die „Secondos“ und „Secondas“ im Kampf um das Einbürgerungsrecht vereint, welches Schweizer Behörden ihnen jahrelang verweigerten.10 Dante Andrea Franzetti und Francesco Micieli dynamisierten als Vertreter von „Secondos“ und „Secondas“ die Literaturdebatten und haben neue, interkulturelle Sichtweisen auf die literarische Bühne gebracht. Sie markierten auch den entscheidenden Generationswechsel der Autorinnen und Autoren, die in den 1960er und 1970er-Jahren im Kielwasser von Frisch und Dürrenmatt schrieben11 und sich mit der ideologischen Grundlage der Schweizer Literatur, d. h. den Mythen und Märchen, der Geschichte und der Gegenwart, den Regionen und der Landschaft der Schweiz beschäftigten. Dante Andrea Franzettis autobiografisch fundiertes Erstlingswerk Der Grossvater (1985) thematisiert das Schicksal und die Migrationserfahrung der Einwanderer in der Schweiz, die Einsamkeit, Fremdenfeindlichkeit und Entfremdung – auch innerhalb der eigenen Familie – erfahren müssen.12 Francesco Micielis Ich weiß nur, dass mein Vater große Hände hat. Tagebuch eines Kindes (1986) bestätigte die einsetzende Welle der literarisch verarbeiteten, biografisch fundierten Fremdwahrnehmung. Die 1980er-Jahre können demnach als entscheidende Zäsur wahrgenommen werden, die von nun an die „Narrationen in Bewegung“ – also „Texte, die Mobilität zwischen Nationen und Kulturen […] widerspiegeln“13 – zum festen Element der Deutschschweizer Literaturproduktion und -geschichte macht. Die genannten Texte beleuchten Orte der mehrfach gespaltenen Identität und des sowohl räumlich als auch zeitlich sowie mental konzipierten Unterwegsseins. Die Deutschschweizer Prosa ist – auch maßgeblich durch die Werke von transkulturellen Autorinnen und Autoren – durch Vielgestaltigkeit, Fokussierung auf die Form und einen insgesamt experimentellen Ansatz gekennzeichnet, die die neuen Tendenzen der 1980er-Jahre widerspiegeln.14 Die Thematisierung des eigenen Außenseitertums, des ziel- und illusionslosen Dahinlebens der Generation ohne feste Bindungen, räumliche Distanz vom Heimatland, die Schilderung der zunehmenden Anonymität in der Gesellschaft, die erfahrene Fremdenfeindlichkeit sowie die schwer definierbare nationale Identität kennzeichnen die Werke der Schreibenden der zweiten Generation, aber auch die der Schweizer Autorinnen und Autoren ohne Migrationserfahrung.15

Aufgrund der unklaren Situierung der Deutschschweizer Literatur, die von der Literaturkritik entweder der deutschen Literaturgeschichte16 oder der separat und national aufgefassten Literaturgeschichte der deutschen Schweiz zugeordnet wird, markieren die Schweizer Publizierenden unterschiedlicher Herkunft und Sprachen mit ihrer literarischen Produktion eine bedeutende Zäsur. Eine andere Sehnsucht und Fremdartigkeit werden laut, die Konstrukte aus diversen Projektionen und Zuschreibungen sind und ein Kontrastprogramm zur nationalen Literatur verwirklichen. Seit den 1980er-Jahren entsteht eine neue Sichtweise der Literatur, die auf eine universelle Weise Erfahrungen von Grenzüberschreitungen zwischen den Kulturen vermittelt und den Begrenzungen der Sprache(n) auf den Grund geht. Die Metapher „Mit gefesselter Zunge schreiben“17 hinterfragt den mehrsprachigen Sprachgebrauch, der bei vielen Literaturschaffenden, neben der eingestandenen Bereicherung, auch Herausforderung und einen enormen Verlust bedeutet.

Das neue Kapitel der Deutschschweizer Literaturgeschichte wurde von der Literaturhistorikerin und -kritikerin Elsbeth Pulver bereits 1988 wahrgenommen. Sie verwies auf junge Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Schweiz, deren Namen auf „Doppelbürgerschaft, auf ein Leben zwischen Kulturen“18 hindeuteten. Mitte der 1980er-Jahre setzte eine Wende ein, die sich im „Kurswandel“19 der Deutschschweizer Literatur äußerte und sich in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, der eigenen Biografie, dem eigenen Selbstbild und dessen Erschütterungen auch bei Schreibenden mit fremdklingenden Familienamen vollzog. Der Umbruch in Themen und Gesten, der Sprache und dem Zugehörigkeitsempfinden schien keine zeitweilige Mode- und Randerscheinung20 zu sein. Mitte der 1990er-Jahre wurde der Kurswandel mit einem weiteren Prosatext bestätigt, der zum Zirkulationsmedium in der helvetischen Gemeinschaft von Einheimischen und Zugewanderten aufgestiegen ist: Die Verstärkung der neuen Tendenz, die die Entstehung der Migrationsliteratur in der Schweiz zur Folge hatte, ging mit dem Erscheinen von Franco Supinos Roman Musica Leggera (1995) einher. Mit seinem Erstling entwirft der Vertreter der „Secondos“ und „Secondas“ mit Autobiografemen verflochtene Vergangenheitsfiktionen, die im Modus der erinnerungshistorischen Narratologie den Abbruch und die Rückkehr als existentielle und thematische Hauptanliegen der kulturellen Übersetzung und Verpflanzung fokussieren.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der literarisch verarbeiteten und dargestellten Figur des/der Fremden, der Migrationsproblematik und Erinnerungskonzepten in ausgewählten Texten von Autorinnen und Autoren der Deutschschweizer Literatur. Die Zugehörigkeit bzw. nationale Zuordnung muss man allerdings um einige Bemerkungen ergänzen: Es werden Werke von ausgewählten Literaturschaffenden behandelt, die in die Schweiz zugewandert sind und die Schweizer Staatsangehörigkeit besitzen. Daraus resultiert das nötige Element des Migrationshintergrunds, der als Schwellenerfahrung und Diskontinuität in der Biografie der Schreibenden gedeutet wird. Es werden in der Analyse insgesamt sechs Autorinnen und Autoren diverser Herkunft und Generationszugehörigkeit und unterschiedlichen Alters berücksichtigt. Das sind: Catalin Dorian Florescu, Irena Brežná, Yusuf Yeşilöz, Ilma Rakusa, Martin R. Dean und Francesco Micieli. Ihre Biografien sind Zeugnisse einer Veränderung ihrer Lebenswelten und ihre Werke thematisieren deterritorialisierte Kulturräume. Die Problematik der ethno-nationalen und sprachlichen Zugehörigkeit bei zugewanderten Schreibenden wird vor der Folie der Entgrenzung, des Identitätsverlusts und des sprachlichen Reifungsprozesses in sozialen Partizipationsräumen geschildert. Das von ihnen umfassend erörterte Erinnerungsprogramm, das sich gegen Ausgrenzung und Nivellierung richtet und vielmehr bei der Selbstfindung und der Selbsterkundung des reflektierenden Ich helfen soll, dokumentiert die gesellschaftlichen Wandlungen der Migranten und die Position der schreibenden Zugewanderten in der helvetischen Literaturlandschaft. Darüber hinaus soll das Medium der Sprache in den untersuchten Erzähltexten berücksichtigt werden. Bei den in die Schweiz zugewanderten Autorinnen und Autoren nimmt Französisch und Italienisch auch einen hohen Stellenwert ein, hier werden jedoch lediglich auf Deutsch verfasste Prosatexte von zugewanderten Schreibenden analysiert. Übersetzungen ins Deutsche – wie dies etwa bei Yusuf Yeşilöz der Fall ist – werden nicht berücksichtigt.

1.1. Zum Forschungsstand

Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Migrationsnarrativen in der deutschsprachigen Schweiz setzte im Vergleich zu den in der BRD andauernden Migrationsdiskursen mit einer gewissen Verspätung ein. Um die literarische Auseinandersetzung mit dem Fremden und der Migration in beiden sozio-kulturellen und politischen Räumen vergleichend und zeitlich zu konturieren, müssen vorab zwei Eckdaten herausgestellt werden: Anfang der 1970er-Jahre wurden das Leid und die Identitätskrise der Migranten zum Thema der deutsch-türkischen Literatur der BRD.21 In der deutschsprachigen Schweiz hingegen lässt sich der Ansatz, die Erfahrung der Migration und das Leben im ‚Dazwischen‘ bzw. ‚Anderswo‘ zu inszenieren, erst Mitte der 1980er-Jahre verzeichnen.22 Indem Dante Andrea Franzetti und Francesco Micieli mit ihren Debüts die ‚andere‘ Schweiz entdecken ließen, brachte der Diskurs vom ‚unverstandenen Abseitssteher‘ ein neues Paradigma der Heterogenität und des Fremden hervor.23 In den 1990er-Jahren folgte ihnen auch Franco Supino. Damit vertraten die schreibenden Migranten, Angehörige der zweiten Ausländergeneration, im Diskurs des ‚anderen Schreibens‘ „die andere Literatur der Schweiz“24. Bei der Reflexion über das spätere Debüt von Schreibenden der interkulturellen Narrative in der Deutschschweizer Gegenwartsliteratur fällt auf, dass ihre öffentliche und literarische Tätigkeit mit der Reifung und Entwicklung des Sprachlichen einherging. Dadurch, dass die erste Generation der Zugewanderten noch keine Zweifel an ihrer Identität und Zugehörigkeit hegte und die Konturen zwischen dem Eigenen und dem Fremden innerhalb der helvetischen Gesellschaft deutlich markiert waren, wurden die Stimmen der zweiten Generation umso hörbarer, weil sie den ,Ausländerstatus‘ anders als die Generation ihrer Eltern wahrnahm. Mit der zunehmenden Migration seit den 1960er-Jahren25 mussten nämlich die gebrochenen Biografien endgültig zum leitenden Thema der zweiten Generation gemacht werden. Die Lektüre einschlägiger Literaturgeschichten lässt dabei erkennen, dass Analysen des Schaffens zugewanderter Autorinnen und Autoren entweder durch ihre Bündigkeit gekennzeichnet oder gar nicht vorhanden sind. Auch diverse Anthologien der Schweizer Literatur erweisen sich in Bezug auf die Berücksichtigung der Werke von „Secondos“ und „Secondas“ als defizitär.

Im Jahr 1988 erschien im Sonderband Bestandsaufnahme Gegenwartsliteratur der Beitrag von Elsbeth Pulver Von einem nächtlichen Fassadenkletterer, von Ambrosio, dem Spanier, und der neuen Lindauerin. Das Fremde als literarische Figur in der deutschschweizerischen Gegenwartsliteratur,26 der im Kontext der Migrationsliteratur wichtige Bezüge beinhaltet. Die Autorin umreißt Schweizer Kontexte, in denen der ‚Fremde‘ in der deutschschweizerischen Literatur als literarische Figur auftritt. Das Migrantenschicksal wird zwar nicht an Migrationsnarrativen von zugewanderten Schreibenden im Hinblick auf ihre Betroffenheit erörtert, es wird allerdings auf das Fremde in den Prosatexten von Deutschschweizer Autoren wie Matthias Diggelmann, Otto F. Walter, Adolf Muschg, Jürg Federspiel, Kurt Marti und schließlich Beat Sterchi und Christoph Geiser hingewiesen. Beat Sterchis ungewöhnlicher und bislang einziger „Fremdarbeiterroman“ Blösch, in dem „verschiedene Arten des Fremdseins und die Erfahrung der Selbstentfremdung“27 thematisiert werden, gilt seit seinem Erscheinungsjahr 1983 als ein Wendepunkt, mit dem der Fremdarbeiter dem Schweizer Lesepublikum zunehmend in literarischen, seine Sprach- und Heimatlosigkeit thematisierenden Werken vorgestellt wurde.28

Die 1990er-Jahre scheinen eine wichtige Zäsur in der Wahrnehmung der ‚fremdsprachigen‘ und ‚anderen‘ Literatur aus der Schweiz zu sein. Der 1997 von Corina Caduff herausgegebene Band Figuren des Fremden in der Schweizer Literatur29 nähert sich der Metapher der ‚Fremdheit‘, den Verkörperungen des ‚Andersseins‘ sowie der Grenze und ihren Ästhetisierungsformen an. Funktionen des Antagonismus und die ethnologische Dialektik30 werden an zahlreichen Prosawerken solcher Schweizer Autoren, wie z. B. bei Robert Walser, Gottfried Keller, Beat Sterchi31 oder Thomas Hürlimann erörtert. Es wird auch die weibliche Sicht des Fremden berücksichtigt: Beiträge zu Werken von Erica Pedretti, Monique Saint-Hélier und Catherine Colomb, deren Ästhetisierungsversuche des Fremden dem „Erkennen beim Schreiben“32 gleichgesetzt werden können, fanden ebenfalls Eingang in den Band.

Eine deutliche Wende in der Wahrnehmung des ‚anderen Schreibens‘ wurde aber insbesondere mit der Veröffentlichung der Anthologie mit Texten von in die Schweiz zugewanderten, fremdsprachigen Literaturschaffenden bestätigt. Der 1998 publizierte Band Küsse und eilige Rosen. Die fremdsprachige Schweizer Literatur33 umfasst dreißig transkulturelle Sichtweisen von Migrantinnen und Migranten, Flüchtlingen und Fremden aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa. Schon die im Titel vermittelte grenzüberschreitende Idiomatik deutet interkulturelle Begegnungen und eine lebhafte Auseinandersetzung mit der Herkunft und dem Ankommen in den hybrid arrangierten Erfahrungsräumen der neuen Heimat an. Die Herausgeberinnen Chudi Bürgi, Anita Müller und Christine Tresch bemühten sich, über die essayistische Darstellung von Schreibenden sowie deren Texte, Porträts und Interviews „den Blick auf die Schweizer Literatur und hiesige Horizonte zu weiten“34 und zu zeigen, dass diese Autorinnen und Autoren „Teil unserer Gesellschaft“35 sind. Mit der Herausgabe des Bandes kamen die Herausgeberinnen den jungen und noch unbekannten Schreibenden entgegen, nahmen ihre Erwartungen wahr, halfen ihnen ihre Fragen: „Für wen schreibe ich? Wer wird jemals mein Werk lesen?“36 zu präzisieren und ihr Schreiben vor dem Schicksal eines kaum vernehmlichen Monologs zu bewahren. Auch wenn die Bezeichnung Die fremdsprachige Schweizer Literatur von manchen Literaturkritikerinnen und -kritiker als „irrenführend und daher auch unangebracht“37 bewertet wurde, weil ein Teil der Schreibenden der Deutschschweizer Migrationsliteratur, vor allem diejenigen der zweiten Generation, das Deutsche als ihre Schreibsprache bestimmte, so kann der Band doch als ein bedeutender Annäherungsversuch an die Komplexität der gegenwärtigen Deutschschweizer Literatur gelten. Außerdem werden die Zusammenhänge zwischen der sprachlichen, kulturellen und thematischen Vielfalt, die den unterschiedlichen Kulturkreisen der Schreibenden entspringt, sowie die für die Schweiz typische Heterogenität erörtert.

Ebenfalls 1998 erschien der von Heinz Ludwig Arnold herausgegebene Sonderband Literatur in der Schweiz,38 in dem im Kontext der vorliegenden Arbeit auf zwei wertvolle Beiträge hinzuweisen ist: Heinz Schafroth stellt in seiner Untersuchung Mutmaßungen über die Langweiligkeit der Schweizer Literatur den Sonderfall, als welcher die Schweizer Literatur nicht selten betrachtet wird, als eine „Misere“39 hin und macht dafür Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch – sowie ihren ‚unkoordinierten‘, fast gleichzeitigen Tod – verantwortlich.40 Neben dem Sonderstatus der Schweizer Literatur, die stets als „plurikulturelle Literaturlandschaft“41 mit vier Sprachen charakterisiert wird, stellte der Tod der zwei ,großen‘ Schriftsteller eine wichtige Zäsur dar. Sie galten als „Garanten dafür […], daß sie [die Schweizer Literatur, Anm. d. Verf.] niemandem langweilig vorkommen konnte“42, und mit ihrem Tod begann man die Befürchtungen zu äußern, dass sie als provinziell und langweilig wahrgenommen werden könnte. Seitdem schien die literarische Produktion mit interkultureller Prägung zuzunehmen. Wie Daniel Rothenbühler in seinem Aufsatz Vom Abseits in die Fremde. Der Außenseiterdiskurs in der Literatur der deutschen Schweiz von 1945 bis heute43 vermerkt, brachten die 1980er und 1990er-Jahre den Diskurs des ‚anderen Schreibens‘ und der fremden Stimmen hervor. Die verschärfte Wahrnehmung der fremden Literaturproduktion im Standort Schweiz belegte auch das den ausländischen, in der Schweiz lebenden Autorinnen und Autoren zuerkannte eigene Forum. Während der Solothurner Literaturtage 1997 traten Schriftstellerinnen und Schriftsteller albanischer, libyscher, tunesischer und türkischer Herkunft mit ihrer Poetik der Transgression an die Öffentlichkeit. In seinem Beitrag analysiert Daniel Rothenbühler das Paradigma des Fremden, der – wie es normalerweise ‚Ausländer‘ sind – ein Außenseiter ist. Der Autor verweist kritisch auf die soziale Stellung des Fremden und dessen Ausgrenzung aus den gesellschaftlichen Partizipationsräumen. Das Nomadenhafte, das den Migranten eigen sei, wurde in dem Sonderband Literatur in der Schweiz auch von Martin R. Dean, der selbst wegen seines Migrationshintergrunds „schwerlich urschweizerisch“44 aussieht, in dem Beitrag Das nomadische, das hypertrophe und das mythologische Ich. Begegnungen mit Paul Nizon, Hermann Burger und Guido Bachmann45 anhand von Beispielen aus den Werken der drei Autoren besprochen.

Den ersten wissenschaftlichen Studien über das Schreiben von Migrationsautorinnen und -autoren in der Schweiz schloss sich im selben Jahr 1998 der Band Frauen schreiben die Schweiz von Beatrice von Matt46 an. In der Anthologie wurde unter anderem auf die Texte von Autorinnen mit der Schwellenerfahrung der Migration verwiesen. In diesem Kontext wurden die Werke von Ilma Rakusa, Mariella Mehr, Erica Pedretti, Zsuzsanna Gahse und Christina Viragh in Bezug auf das Schaffen von Frauen und die Konzeptualisierung von Raum- und Grenzüberschreitungen erörtert.

Einen hohen Erkenntniswert hat darüber hinaus der Beitrag von Daniel Rothenbühler Im Fremdsein vertraut. Zur Literatur der zweiten Generation von Einwanderern in der deutschsprachigen Schweiz: Francesco Micieli, Franco Supino, Aglaja Veteranyi47 aus dem Jahr 2004, in dem die Positionierung der Schreibenden der zweiten Generation, der sogenannten „Secondos“ und „Secondas“, analysiert wird. An mehreren Beispielen führt Daniel Rothenbühler die Rekonfiguration der Metapher des ‚Fremden‘ an und beleuchtet die literaturgeschichtliche Entwicklung des Fremden- und Migrantennarrativs. Die literaturwissenschaftliche Analyse der Werke von den drei genannten Autorin und Autoren fokussiert sich auf die Sprachsituationen, die Relativität des Kulturverständnisses sowie die identitätsverunsichernde Zerrissenheit.

Mit dem Band Literatur und Migration,48 der in der Serie „Text + Kritik“ als Sonderband 2006 erschienen ist, betrachtet Heinz Ludwig Arnold das Phänomen und den Begriff ‚Migration‘ als historische und aktuelle Wanderungsbewegungen von Menschen, die Grenzüberschreitungen implizieren. Die Beiträge dieses Bandes beleuchten unterschiedliche Aspekte der Migration aus verschiedenen, literaturwissenschaftlichen sowie soziologischen Blickwinkeln. Während aber Bearbeitungen aus dem Bereich der deutsch-türkischen Migrationsnarrative den Band dominieren, fehlen auffälligerweise Stimmen und Charakterisierungen der Migrationsliteratur aus der Deutschschweiz.

Einen relevanten Forschungsstrang zur Deutschschweizer Literatur mit deren Perspektiven und Situierung stellt der von zwei spanischen Literaturwissenschaftlerinnen, Isabel Hernández und Ofelia Martí-Peña, herausgegebene Band Eine Insel im vereinten Europa? Situation und Perspektiven der Literatur der deutschen Schweiz (2006)49 dar, in dem einige Aufsätze wichtige Denkanstöße und Anregungen für Diskussionen und Reflexionen über die Migrantenliteratur lieferten. Der Beitrag von Anne-Marie Gresser Verpflanzung und Multikulturalität in der heutigen Schweizer Literatur50 stellt die Multikulturalität als eine subjektive und persönliche Prägung dar, die in den Werken von Martin R. Dean und Ilma Rakusa spürbar ist. Gresser untersucht auch den Zusammenhang zwischen der Mehrsprachigkeit und der kulturellen Mehrfachzugehörigkeit und legt ihn am Beispiel des Novellenbands Die namenlose Geliebte (1999) von Eveline Hasler dar. Weitere Beiträge, die sich mit der neuen literarischen Realität in der Schweiz und mit der Migrationsliteratur auseinandersetzen, stammen von Jeroen Dewulf mit Die Schweizer – ein Volk von Migranten? Überlegungen zu einer kreolischen Schweiz,51 von Juan-Antonio Albaladejo mit Die Migrantenliteratur der Deutschschweiz: Ausdruck einer neuartigen literarischen Realität am Beispiel des Romans „Musica Leggera“ von Franco Supino52 sowie von Francesco Fiorentino mit Wie die deutschsprachige Literatur der Schweiz europäisch wird.53 Alle Beiträge beleuchten die Paradigmen der Migrationsliteratur und verweisen darauf, dass sich diese – sowohl thematisch als auch sprachlich – von der literarischen Produktion der Schreibenden Schweizer Herkunft wesentlich unterscheidet. Ihre Autorinnen und Autoren verweisen auch auf die Sprachproblematik bei der ersten und der zweiten Generation der Einwanderer, auf die Fragen der Zugehörigkeit der Erzählerinnen und Erzähler und der Schreibenden selbst, wie auch auf den Einfluss der Zugewanderten auf die Herausbildung und Wahrnehmung des literarischen Genres. Auch Klaus Pezold vermerkt in seinem Aufsatz Die Literatur der deutschen Schweiz am Ende des „kurzen 20. Jahrhunderts“ – ihre veränderte äußere und innere Situation nach 1989/90 in literaturgeschichtlicher Sicht eine neue Tendenz innerhalb der deutschsprachigen Prosa, die seines Erachtens künftig zunehmend an Bedeutung gewinnen könnte.54 Er verweist in dieser Hinsicht auf die Werke von Franzetti und Micieli, die ihm zufolge bereits 1991 einen Paradigmenwechsel in der Deutschschweizer Literatur mit sich brachten.

Diesen literaturwissenschaftlichen Studien zum „heimatlosen Erzählen“55 schlossen sich 2007 Patrick Studer und Sabine Egger mit der Veröffentlichung des Bandes From the Margins to the Centre56 an. Auch wenn in den Fokus der Untersuchungen und Analysen die irische Perspektive in Bezug auf die Schweizer Literatur und Kultur gerückt wird, erweist sich Teil III des Bandes „Inside Views“ für die vorliegende Studie von großem Erkenntnisnutzen. Das Spektrum von solchen Themen, wie Swiss minority literatures: A struggle for acknowledgement57 oder A portrait of Swiss immigrant writers as laureates of the German Adelbert-von-Chamisso prize58 und The inner European border: Swiss German writersʼ metaphors on Switzerland and Europe,59 lässt erkennen, dass die Literatur der Migrantinnen und Migranten zu einer festen Sparte der Deutschschweizer Literaturgeschichte geworden ist. Beate Laudenberg unterstreicht die Rolle der Wahrnehmung von Adelbert von Chamisso, der als französischer Adeliger aus der Sicht der Literaturwissenschaft als deutscher Dichter behandelt wird, und sie verweist auf ähnliche Akkulturationsprozesse von Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund, wobei sie kritisch vermerkt: „Nevertheless, their works are still not sufficiently appreciated by academics and the reading public.“60 Sie stellt die Chamisso-Preisträgerinnen Dragica Rajčić, Aglaja Veteranyi und Ilma Rakusa, die als Zugewanderte in ihren Werken die Poetik der Bewegung und des Verlusts zur Geltung bringen, in den Kontext der écriture féminine.61 Sie nennt auch die männlichen Chamisso-Preisträger: Catalin Dorian Florescu, Francesco Micieli und Dante Andreas Franzetti.

Im Jahre 2008 erschien Dorota Sośnickas Habilitationsschrift Den Rhythmus der Zeit einfangen. Erzählexperimente in der Deutschschweizer Gegenwartsliteratur unter besonderer Berücksichtigung der Werke von Otto F. Walter, Gerold Späth und Zsuzsanna Gahse,62 in der im Hinblick auf die sprachlich und erzähltechnisch innovativen Ausprägungen der Werke der aus Ungarn stammenden Autorin Zsuzsanna Gahse u. a. Migrationsakzente herausgestellt werden. In dem von Dariusz Komorowski 2009 herausgegebenen Band Jenseits von Frisch und Dürrenmatt. Raumgestaltung in der gegenwärtigen Deutschschweizer Literatur63 sind im Kontext der Migration drei Beiträge beachtenswert: Dem Phänomen der Schweizer Migrationsliteratur wendet sich Leena Eilittä in ihrem Beitrag Schweizer Migrantenliteratur: Die Identität in der Fremde64 zu, indem sie die in der Fremde wahrgenommene Identität im Schaffen von Radka Donnell, Aglaja Veteranyi und Catalin Dorian Florescu analysiert. Während Bettina Spoerri in ihrem Aufsatz Der hybride (Kultur-)Raum in den Romanen von Yusuf Yeşilöz, Aglaja Veteranyi und Catalin Dorian Florescu65 die Raumrepräsentationen in den Werken von in die Schweiz zugewanderten Literaturschaffenden beleuchtet, beweist Isabel Hernández im Beitrag „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?“ Der Süden als Schauplatz im neuen Schweizer Roman66 an mehreren Beispielen aus der Deutschschweizer Literatur, dass im neuen Schweizer Roman dem Süden als Schauplatz der Handlung eine Sonderstellung zuerkannt wird.

2010 erschien der sehr aufschluss- und anregungsreiche Sammelband Diskurse in die Weite. Kosmopolitische Räume in den Literaturen der Schweiz,67 der das Produkt eines interdisziplinären Forschungsprojektes war. Die Herausgeberinnen und Herausgeber des Bandes und zugleich Autorinnen und Autoren der Beiträge Martina Kamm, Bettina Spoerri, Daniel Rothenbühler und Gianni DʼAmato beleuchten darin aus sozial- und literaturwissenschaftlicher Sicht die biografischen Kontexte und Ursachen für die dargestellte kulturpolitische Position von Schweizer Schreibenden mit Migrationshintergrund. Die Autorinnen und Autoren der Beiträge gehen den dialogischen Prozessen zwischen Kulturen im literarischen Schaffen von Zugewanderten nach und versuchen, Antworten auf die Frage zu geben, inwieweit die Erfahrung der Migration, die Einwanderung, Fremdheit und Erinnerung sich gegenseitig bedingen und in den Werken einen konstitutiven Niederschlag finden.

Das konfliktbehaftete Verhältnis von natio-ethno-kulturellen Narrativen wird auch in den Beiträgen thematisiert, die sich mit den Fragen der Repräsentation von Erinnerungen oder der Rekonstruktion von Familien- und Migrationsgeschichten befassen. In diesem Kontext soll auf den Band Ein neuer Aufbruch? 1991–2011: Die Deutschschweizer Literatur nach der 700-Jahr-Feier (2012) von Dorota Sośnicka und Malcolm Pender68 hingewiesen werden. Die Herausgeberin wertet in ihrem Aufsatz die erzählerischen Experimente von Zsuzsanna Gahse aus, die als „Transmigrantin mit verwickelter Biografie“ in deutscher Sprache schreibt und sich in dieser Sprache in den Donauwürfeln (2010) und ihren sonstigen Werken „ihre ganz eigene, unverwechselbare […] Poetik“69 schuf. Auch in Vesna Kondrič Horvats70 Beitrag zum Roman Tauben fliegen auf (2010) von Melinda Nadj Abonji werden einerseits das Pendeln zwischen den Zugehörigkeitsräumen und andererseits die „Grammatik der Identität“ aus der Sicht der zugewanderten Autorin hervorgehoben. Das Thema der Hybridisierung und gegenseitigen Beeinflussung der Weltkulturen im Zeitalter der global wahrgenommenen Migration sowie die Gestaltung neuer „abenteuerliche[r]‌ Gegenentwürfe zum normierten Schweizertum“71 durch transnationale Wirklichkeiten wird von Isabel Hernández aufgegriffen. Die Autorin des Beitrags wendet sich dem Schreiben von Alex Capus, Markus Werner und Daniel Goetsch zu und verweist auf die von den Autoren ästhetisierte Identitätssuche außerhalb des eigenen Erfahrungsraums. Auch Urs Bugmanns Fragestellung, „wie das schwierige Verhältnis von Erinnerung und Wahrheit im Gange des Erzählens befragt wird“72, scheint vor dem Hintergrund der Migrationserfahrung relevant zu sein. Der Autor meint dazu, dass die „kleinen und persönlichen Geschichten als Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit und der Identität“73 – auch derjenigen des Landes – ausgelegt werden müssen. Auf diese Weise zeigt der Autor, dass das Schreiben zum Lebensinhalt vieler zugewanderter Autorinnen und Autoren wurde, was u. a. das Schaffen von Catalin Dorian Florescu und Aglaja Veteranyi kennzeichnet, die glauben, ihre Heimat gerade im Schreiben gefunden zu haben.74

Einen bedeutenden Beitrag zum Kontrastprogramm der Nationalliteratur stellt der Band Wie viele Sprachen spricht die Literatur? Deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa, der von Renata Cornejo, Sławomir Piontek, Izabela Sellmer und Sandra Vlasta 2014 in Wien herausgegeben wurde.75 Mit Beiträgen zum Schaffen von Libuše Moníková,76 Sabrina Janesch,77 Herta Müller,78 Melinda Nadj Abonji,79 Catalin Dorian Florescu80 und Julya Rabinowich81 wurde das differenzierte Panoramabild einer transnationalen Literatur an der Peripherie ausgewertet, die universelle menschliche Erfahrungen und Grenzübergänge zwischen Kulturen und Begrenzungen der Sprache thematisiert.

Vesna Kondrič Horvat behauptet in der Einführung des von ihr 2017 herausgegebenen Sammelbandes Transkulturalität der Deutschschweizer Literatur. Entgrenzung durch Kulturtransfer und Migration (2017), dass die Deutschschweizer Literatur schon längst transkulturell geworden sei, „also Elemente vieler Kulturen in sich trägt, die nicht nebeneinander bestehen, sondern ineinander übergehen und sich verflechten“82. Mit 21 Beiträgen zur Transkulturalität der Deutschschweizer Literatur wurde die von der Herausgeberin in der Einführung aufgestellte These hinlänglich belegt. Die Beiträge konturieren im Hinblick auf die transkulturellen Schwerpunkte und die grenzüberschreitende Poetik das Schaffen von solchen Schreibenden wie Francesco Micieli,83 Yusuf Yeşilöz,84 Zsuzsanna Gahse,85 Martin R. Dean,86 Franco Supino87 u. a. Außer den zugewanderten Autorinnen und Autoren wurden auch Ansichten der ‚typisch schweizerischen‘ Autoren berücksichtigt, wie z. B. von Robert Walser, Fritz Ernst, Peter Weber, Hugo Loetscher, Urs Widmer u. v. m.

Corinna Jäger-Trees und Hubert Thüring lassen als Herausgeber des Bandes Blick nach Süden. Literarische Italienbilder aus der deutschsprachigen Schweiz. Schweizer Texte88 die Autorinnen und Autoren der Beiträge die Erinnerung sowohl an den verlassenen Kindheitstopos der italienischstämmigen Dichter als auch an den besuchten Topos „Italien“ bei Schweizer Autoren wie Max Frisch, Paul Nizon oder Markus Werner untersuchen. Der Sammelband steigert die Positionierung der Migrantenliteratur, zumal er 2019 erschienen ist und neben literatur- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen auch Autorenbeiträge u. a. von Christina Viragh,89 Francesco Micieli,90 Dante Andrea Franzetti91 und Franco Supino92 umfasst.

Über die literarische Produktion deutsch-ungarischer Autorinnen schreibt Eszter Pabis in ihrer 2020 publizierten Arbeit Migration erzählen. Studien zur „Chamisso-Literatur“ deutsch-ungarischer Autorinnen der Gegenwart,93 der jüngsten Untersuchung zur Migrationsliteratur deutschsprachiger Autorinnen im Kontext des „eastern turn“. Translokale Dimensionen, Grenzgänge, Aspekte der Fremdheit sowie Mehrsprachigkeit und Stummheit werden von Pabis bei Zsuzsa Bánk, Terézia Mora, Melinda Nadj Abonji und Ilma Rakusa untersucht, denen die Autorin der Untersuchung „Repräsentations- und Produktionspraktiken mehrschichtiger transnationaler Gedächtnisräume“94 zuerkennt.

Trotz der angeführten Vielzahl von Beiträgen und Studien im Spektrum der Migration und der Migrationsliteratur wurden in diesen literaturwissenschaftlichen und -geschichtlichen Analysen bestimmte Aspekte in den Werken der in die Schweiz zugewanderten Autorinnen und Autoren weniger ausführlich behandelt. Aus diesem Defizit ergibt sich der vorliegende Versuch, die literarische Produktion von zugewanderten Schreibenden im Hinblick auf ihre autobiografischen Spuren, räumlichen Bewegungen, Raum- und Zeitdarstellungen sowie die sozio-kulturelle Funktion des Gedächtnisses und individueller Erinnerung zu analysieren.

1.2. Zielsetzung und Methode

Seit 2000 erscheinen in der deutschsprachigen interkulturellen Literatur der Schweiz Texte, die sich sowohl thematisch als auch sprachlich von den ersten Werken der Migrationsliteratur in den 1980er und 1990er-Jahren unterscheiden. Im Kontext der ersten Werke der Deutschschweizer Migrationsliteratur sind die Romane von Andrea Dante Franzetti Der Großvater (1985) und Cosimo und Hamlet (1987) sowie von Francesco Micieli Ich weiß nur, dass mein Vater große Hände hat (1986) zu nennen. Diese Werke behandeln die schwierige soziale Lage der Einwanderer aus dem Süden Europas, deren anstrengenden Arbeitsalltag sowie die Anonymität in der Gesellschaft und die zunehmende Fremdenfeindlichkeit. Als Söhne nichtschweizerischer Eltern zeigen die Autoren in ihren autobiografisch fundierten Texten „die Unsicherheit ihrer nationalen Identität in den Augen der anderen“95 sowie ihr spezifisches Verhältnis zur Schweiz und zur deutschen Sprache. Als dritter Autor der ‚frühen‘ Migrationsliteratur ist Franco Supino zu nennen, der mit dem Debüttext Musica Leggera (1995) neben den sozialen Aspekten der ersten Generation von Einwanderern den Zwischenraum der „Secondos“ aufzeigte. In den nach 2000 erschienenen Werken ist ein subtiler Wandel beobachtbar. Zwar nähern sich die analysierten Texte dem einschneidenden Ereignis der Migration, dennoch werden der Gastarbeiteralltag, die erschwerte finanzielle Absicherung sowie Erschütterungen im Sozialisationsprozess weniger thematisiert als in den Romanen aus den 1980er und 1990er-Jahren. Allerdings lassen sich weiterhin zahlreiche Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen den beiden Gruppen von veröffentlichten Texten nachweisen. So werden etwa sowohl in den vor als auch nach 2000 publizierten Büchern konfliktreiche Konfrontationen der Zuwanderer mit den Einheimischen geschildert, jedoch in den neueren Texten wird dies mittels einer neuen erzählerischen Perspektivierung erreicht. Die Migrationsnarrative werden nun häufiger in umfassende Familiengeschichten eingebettet, sodass Erinnerungsprozesse und kollektive Gedächtnisse gruppenspezifischer, ethnischer Minderheiten fokussiert und Zusammenhänge zwischen Migration, Erinnerung und Literatur festgehalten werden.

Das Hauptanliegen der vorliegenden Untersuchung ist vor diesem Hintergrund die Analyse facettenreicher Konzeptionen von Migrantenfiguren sowie deren Zugehörigkeitsproblematik, die sich in die Repräsentationen von Fremdfiguren und deren Fremdbestimmung einschreiben lassen. Es sollen die komplexen und nuancierten Verflechtungen zwischen Migrationserfahrungen und erinnerungskulturellen Praktiken erörtert werden. Bei der Konzeptualisierung der literarisch konstruierten Fremdfiguren werden nämlich nicht nur die fiktionalen Repräsentationen von Migrationserfahrungen der handelnden Figuren kritisiert, sondern gleichzeitig poetisch-ästhetische Perspektiven und Kontexte der zugewanderten Erzählenden/Schreibenden über das Autobiografische aufgezeigt. Über die Migrationsästhetik wird in den analysierten Werken auch das Problem der Verortung bzw. der Deplatzierung aufgegriffen, das vielfach als das ungewisse ‚Anderswo‘ in den ‚dritten Raum‘ mündet.

Der nächste Aspekt der vorliegenden Studie gilt dem Phänomen der Sprache. Es soll aufgezeigt werden, mit welchen Anpassungsprozessen Autorinnen und Autoren mit „gebrochener Herkunft und Biografie“96 die Sprache und das Schreiben als „Eigen-Artikulation“ definieren und inwieweit ihren sprachlichen Äußerungen der Modus der Identitätsfindung oder des Identitätsverlusts anhaftet. Es wird dabei der Versuch unternommen, folgenden Fragenstellungen nachzugehen: Fokussiert die Fügung „Identität durch Sprache“97 die Abgrenzbarkeit von anderen Sprachen oder die Zugehörigkeit der Erzählenden in Bezug auf ihre Sprache? Inwieweit kann die Sprache als ein Instrument in der Zugehörigkeitsbildung bzw. als ein Kennzeichen und Symbol von Zugehörigkeiten und Identitätsbestimmungen angesehen werden? Diese Fragen beleuchten gleichzeitig den Nexus zwischen den literarischen Texten, dem Symbolsystem der Literatur und der außerliterarischen Erinnerungskultur. Demzufolge wird danach gefragt, wie die Migration im erinnerungskonstituierenden Medium der narrativen Texte inszeniert und in ihren ästhetischen, didaktischen, erinnerungskulturellen Gedächtnisfunktionen ästhetisiert und festgehalten wird.

Das Verhältnis zwischen Migrationserfahrung und Schreibimpuls wirft zugleich die Frage nach der Rolle und der Zweckmäßigkeit des autobiografischen bzw. autofiktionalen Schreibens der zugewanderten Autorinnen und Autoren auf. Aufgrund der analysierten Texte soll die Polyphonie der Migrationsnarrative und das breite Spektrum von divergierenden Sichtweisen dargelegt werden. Die variantenreichen Inszenierungen von interkulturellem und transnationalem Bewusstsein der auto- bzw. homodiegetisch situierten Erzähler mittels der soziokulturell geprägten individuellen Erinnerung der Schreibenden konturieren die autofiktionalen Momente des autobiografischen Schaffens.

Von großer Relevanz erweisen sich schließlich auch die Darstellungs- und Wahrnehmungsmodi des kulturellen, identitätsstiftenden und erinnerten Raums. Im Vordergrund der Analyse steht die Dialogizität der Räume mit der Frage, inwieweit die erinnerten Räume die Konstitution der erzählenden Instanzen prägen und in welchem Ausmaß sie die Wahrnehmung von Raum seitens der Aufnahmekultur beeinflussen. Der Erforschung der Migrationsnarrative schließt sich somit die Fokussierung der Wechselwirkungen zwischen den Texten und der identitätsstiftenden Erinnerungskultur an.

Die Arbeit besteht aus zwei Teilen: Im ersten werden – nach der Einleitung (Kapitel 1) – theoretische Aspekte der Migrationsliteratur vorgestellt. Zuerst wird in Kapitel 2 die Theorie der Migration im Grundriss dargelegt. Es werden Konzepte der Heimat und der Identität – sowohl der kulturellen als auch der kollektiven – erörtert. In Anlehnung an theoretische Ansätze von Homi K. Bhabha, Iain Chambers und Aleida Assmann werden Begriffe von Hybridität, kultureller Verschmelzung, Akkulturation und Zwischenraum erörtert. In diesem Kontext wird auch auf die postkoloniale Literaturkritik und die Migrationsliteratur als eine neue literarische Kategorie hingewiesen. Anschließend werden im dritten Kapitel die medialen und formalen Aspekte der Migrationsliteratur besprochen. Weil die im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit folgende Untersuchung der Werke von zugewanderten Autorinnen und Autoren unter besonderer Berücksichtigung des Autofiktionalen und Autobiografischen98 erfolgt, wird zunächst im ersten Unterkapitel das autobiografische Schreiben im Allgemeinen charakterisiert, wobei insbesondere auf die Zusammenhänge und Implikationen zwischen Erinnerungen, Zugehörigkeiten und Sprache verwiesen wird. Da Erinnerung und Identität in der heutigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskussion als feste Paradigmen präsent sind, werden im Zusammenhang mit dem Autobiografischen auch die Wechselwirkungen und vielfältigen Schnittstellen zwischen den beiden kulturstiftenden Elementen beleuchtet. Literarische Texte, unter anderem die der Migrationsliteratur, werden mit der Konstruktion von Vergangenheitsversionen, Geschichtsbildern, Identitätskonzepten im erinnerungskulturellen Kontext als Zirkulationsmedien wahrgenommen. Deswegen wird über die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und kollektivem Gedächtnis auf die literarische Gedächtniserzeugung verwiesen. Ein anderes, sehr wichtiges Merkmal der Migrationsliteratur ist die Wahrnehmung und Inszenierung von Räumen. Deswegen werden im nächsten Unterkapitel einige Ansätze zur Rauminterpretation und Raumvorstellungen angeführt, um für die weiterfolgende Werkanalyse theoretische Grundlangen zu schaffen. Aufgrund von verschiedenen Modellen zur Konstruktion des erzählten Raums sowie zu dessen Beschreibung und Erfassung wird ferner versucht, das Relationale im Raum und zwischen den dargestellten Räumen hervortreten zu lassen. Im Fokus der Raumanalyse steht dabei die Bewegung von individuellen Figuren, die wiederum Überschreitungen der gesetzten und skizzierten Grenzen provoziert. Von autobiografischem Schreiben und Raumdarstellungen ausgehend wird im vierten Kapitel die Deutschschweizer Migrationsliteratur umrissen, wobei die erste und zweite Einwanderungsgeneration, die sogenannten „Secondos“ und „Secondas“, zur Darstellung gelangen. In diesem Kapitel erfolgt auch eine genauere Erklärung der Merkmale, nach denen bestimmte Literaturschaffende der ersten oder der zweiten Einwanderungsgeneration zugeordnet werden.

Auf der Basis der im theoretischen Teil angesprochenen Problemfelder wird anschließend im zweiten Teil der vorliegenden Studie eine Annäherung an die erinnerungsorientierte, interkulturelle Literatur der deutschen Schweiz angestrebt. Im Zentrum dieses analytischen Teils steht die Untersuchung von zehn Romanen, die nach 2000 erschienen sind. Die Jahrhundertwende soll als eine Zäsur markiert werden, auch wenn sie in der literarischen Produktion keine thematisch relevante Trennlinie darstellt. Es lassen sich dennoch bestimmte inhaltliche Unterschiede in den Werken nach dem Jahr 2000 im Vergleich zu Texten aus den 1980er-Jahren feststellen. Zunächst werden Werke von Autorinnen und Autoren der ersten Einwanderungsgeneration besprochen: Wunderzeit (2001) und Der blinde Masseur (2006) von Catalin Dorian Florescu (Kapitel 5), Die undankbare Fremde (2012) von Irena Brežná (Kapitel 6) sowie Lied aus der Ferne (2007) und Die Wunschplatane (2018) von Yusuf Yeşilöz (Kapitel 7) und danach die Werke von „Secondos“ und „Secondas“: Mehr Meer (2009) von Ilma Rakusa (Kapitel 8), Meine Väter (2003) und Ein Koffer voller Wünsche (2011) von Martin R. Dean (Kapitel 9) sowie Mein Vater geht jeden Tag vier Mal die Treppe hinauf und herunter (2007) und Schwanzzenbach. Schlaflos in Lützelfüh (2012) von Francesco Micieli (Kapitel 10). Die Auswahl der Prosawerke erfolgte nach inhaltlichen Kriterien sowie nach kritischer Erörterung der Forschungsliteratur. Es wurden auf Deutsch verfasste Romane von Schweizer Schreibenden mit Migrationshintergrund aus unterschiedlichen sozio-politischen und kulturellen Kontexten gewählt: Irena Brežná ist tschechoslowakischer Herkunft, Catalin Dorian Florescu wanderte als rumänischer Flüchtling und Yusuf Yeşilöz als türkisch-kurdischer Flüchtling in die Schweiz ein. Bei den „Secondos“ und „Secondas“ lassen sich folgende Migrationshintergründe nennen: Ilma Rakusa ist slowakisch-ungarischer, Francesco Micieli italo-albanischer Herkunft und Martin R. Dean weist indo-trinidadische Wurzeln auf. Die Auswahl soll also erlauben, nicht so sehr die individuelle Entwicklung der einzelnen Autorinnen und Autoren zu dokumentieren, als vielmehr die erinnerungsorientierten, migrationsrelevanten, transkulturellen und identitätsstiftenden Spielarten in den ausgewählten interkulturellen Texten von Schreibenden unterschiedlicher Herkunft als eine Gesamtveränderung der Deutschschweizer Literatur in den Blick zu bekommen. Es lassen sich bei den genannten Schriftstellerinnen und Schriftstellern viele Gemeinsamkeiten festhalten: Erstens spielen außerliterarische Faktoren – wie die Biografie der Literaturschaffenden – eine besondere Rolle. Alle können das Migranten-/Migrationsschicksal, die damit verbundene Empfindung der Fremde, die konfliktreiche Konfrontation der Zuwanderer mit Einheimischen sowie die Auseinandersetzung mit fremdkulturellem Leben und mit der Sprache nachweisen. Während die Migrationsschriftstellerinnen und -schriftsteller die eigene Auswanderung und den Verlust des bisherigen Bezugsraumes persönlich erfuhren, reflektieren die Vertreter der „Secondos“ und „Secondas“ die soziale Stellung ihrer Eltern, deren übermäßigen Drang zur Anpassung sowie deren Verstummung, denn die „Secondos“ und „Secondas“ haben als Kinder bei ihren Eltern enorme Sprachdefizite festgestellt. Zweitens ist die autobiografisch motivierte Beschäftigung mit dem Ursprungsland in den analysierten Werken der Migrationsliteratur eine Konstante. Es fällt dabei die Kritik am Erfahrungsraum der Schweiz – trotz deren großzügiger Aufnahmebereitschaft – auf. Kennzeichnend für die analysierten Werke ist ferner die Gegenüberstallung der Räume der verlassenen und verlorenen Heimat mit der neuen Wahlheimat. Zu untersuchen bleibt, inwieweit sich die Schreibenden der ersten Generation mit dem Raum-Paar auseinandersetzen und ob die „Secondos“ und „Secondas“ ebenso eine offene Kritik am Auswanderungsland und der Wahlheimat ihrer Eltern üben. Drittens wird in den untersuchten Romanen dem Topos der Rückkehr viel Aufmerksamkeit eingeräumt. Alle genannten Autorinnen und Autoren besprechen den Akt der Rückkehr, bzw. der Rückfahrt in die einst verlassene Heimat und stellen ihn als einen notwendigen Versuch dar, die eigene Identität und die eigene Vergangenheit, den Ursprung und die Wurzeln zu bestimmen. Die besprochenen Romane verdeutlichen auch eine wesentliche Diversität von ,Identitäten‘ im Einwanderungsland. Hinzu kommt die Arbeit der Erzählenden an Erinnerungen, die sehr oft im Dienst des Autobiografischen die persönlichen Lebensinhalte der Schreibenden selbst widerspiegeln. Im Fokus der Untersuchung stehen darüber hinaus individuelle Aufarbeitungsprozesse, das Bedürfnis der Speicherung der Migrationsgeschichte sowie die Gegenüberstellung der erzählten Räume. Neben der geografischen und sprachlich-kulturellen Varietät der Herkunft spielt die Migrationsmotivation bei der ersten Generation eine vorrangige Rolle. Zu den Hauptgründen der Einwanderungswelle zählen die Arbeitsmigration sowie auch politisch motivierte oder durch ethnische Konflikte ausgelöste Wanderbewegungen. Alle drei Migrationsgründe finden in den gewählten Werken ihren Niederschlag. Neben den Schnittstellen lassen sich jedoch auch grobe Unterschiede in den besprochenen Büchern festhalten, denn die Migrationserfahrungen werden von den Autorinnen und Autoren auf ihre jeweils eigene Art und Weise literarisch verarbeitet. Auffällig ist dabei, dass die Werke der weiblichen Autorschaft fast natürlich der Problematik der weiblich bedingten Erfahrungsräume der Migration nachgehen. So thematisiert beispielsweise Irena Brežná die von zugewanderten Frauen in der Fremde erfahrene Gewalt und Unterdrückung, die oft zu psychischen Störungen bei diesen Frauen führen. Dorian Catalin Florescu schildert demgegenüber markante Unterschiede in der Wahrnehmung der Geschlechterrollen, die geschwächte Position von rumänischen unterdrückten Frauen sowie unterschiedliche Fluchtversuche aus dem autoritär regierten Land. Ungleich ist auch die Skala der beschriebenen Fluchtversuche: Während Catalin Dorian Florescu und Yusuf Yeşilöz den Lesenden detaillierte Beschreibungen der Flucht und Grenzüberquerung anbieten, beschränken sich Irena Brežná und Ilma Rakusa lediglich auf einige Momentaufnahmen vage erinnerter Grenzüberschreitung.

Details

Seiten
342
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631907559
ISBN (ePUB)
9783631907566
ISBN (Hardcover)
9783631873038
DOI
10.3726/b21549
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Februar)
Schlagworte
Migration Identität Zugehörigkeit Fremdheit Raumdarstellung Autobiografie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 342 S.

Biographische Angaben

Adam Sobek (Autor:in)

Adam Sobek studierte Germanistik in Poznań (Polen), Bamberg und Potsdam (Deutschland) und Basel (Schweiz). Seit 2008 arbeitet er am Institut für Germanische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań (UAM).

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Titel: Zugewandert in die Schweiz und doch unterwegs