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Sichtbare, denkbare und hörbare Töne

Inszeniertes Musikgeschehen im Tonfilm zwischen The Jazz Singer und Anora

by Tomi Mäkelä (Author)
Monographs 432 Pages

Summary

Das Buch erklärt, wie Musiksujets und Musikgegenstände sowie musikalische Handlungen die lebendige Filmgeschichte prägen. Dazu zählen Klassiker und Geheimtipps, Action- und Kultfilme aus aller Welt. Regiearbeit und schauspielerische Leistungen werden essayistisch erläutert und gewürdigt. Der Band kann auch als Kompendium gelesen werden. Ferner bietet sich – dank des Registerwerkes – die Nutzung als Konversationslexikon an. Jeder Verweis lädt zum erneuten Hinsehen und Hinhören ein – und zum Nachdenken. Zwischen den Zeilen werden triviale Fragen gestellt und beantwortet: In welchem Hitchcock-Streifen geht es um Musiktherapie? In welchem Film markiert The Rolling Stones’ «Sympathy for the Devil» mit 124 im Hintergrund gesungenen «woo-woos» die Zahl 55, die für die Handlung wichtig ist? Wer lässt die Hauptpersonen des Films über die beruhigende Wirkung von Musik auf Milchkühe sprechen?

Table Of Contents

  • Abdeckung
  • Titelseite
  • Copyright-Seite
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorspann
  • Grundsätze
  • Akzente und Abgrenzung
  • Gespräche, Geräusche und mehr
  • Gütige Charaktere
  • Lexikalische Versuche
  • Bildung und Persönlichkeit
  • Der Geist der Aufklärung
  • Viele Wege zur Sorgfalt
  • Seltene Verfehlungen
  • 100 Jahre Tonfilm
  • Die Pioniere
  • Hitchcock und die Folgen
  • Éric Rohmer
  • Fellini, Visconti, Leone und der Fortschritt
  • Kubrick, Kieślowski et al.
  • Woody Allen und die Coen-Brüder
  • Fincher, Minghella, Egoyan und Nolan
  • Fundstücke und Reflexionen
  • Exotismus und Ethnographie nach 1951
  • Das Unbekannte im Vertrauten
  • Fakt oder Fiktion im 21. Jahrhundert
  • Jane Austen im Kino
  • Sound of Metal und die Symbolkraft des Schlages
  • Gesang und Gemeinschaft
  • Wettstreit
  • Vertiefung
  • Die Semiologie der Tasten
  • Das analytisch relevante Klavierspiel
  • Die Meisterschaft der individuellen Lösungen
  • Musik und Bildung in Brennpunkten seit 1955
  • Liebe, Leben und Lust
  • Die Entdeckung der Einsamkeit
  • Kritische Familienporträts
  • Freundschaften und Gleichgesinnte
  • Grenzen des Heilkraft
  • Zusammenfassung
  • Zugaben
  • Der Vorlauf in Malerei, Literatur und Theater
  • Handlungsmusik und Musikalität in TV-Serien
  • Verzeichnisse
  • Literatur und Internetressourcen
  • Filme und Serien
  • Personen, Ensembles und Musik

Tomi Mäkelä

Sichtbare, denkbare
und hörbare Töne

Inszeniertes Musikgeschehen im Tonfilm
zwischen The Jazz Singer und Anora

Berlin · Bruxelles · Chennai · Lausanne · New York · Oxford

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Adobe Stock

ISBN 978-3-631-93589-7 (Print)

ISBN 978-3-631-93493-7 (E-PDF)

ISBN 978-3-631-93494-4 (E-PUB)

DOI 10.3726/b22738

Verlegt durch Peter Lang GmbH, Berlin (Deutschland)

Inhaltsverzeichnis

Vorspann

Grundsätze

Akzente und Abgrenzung

Gespräche, Geräusche und mehr

Gütige Charaktere

Lexikalische Versuche

Bildung und Persönlichkeit

Der Geist der Aufklärung

Viele Wege zur Sorgfalt

Seltene Verfehlungen

100 Jahre Tonfilm

Die Pioniere

Hitchcock und die Folgen

Éric Rohmer

Fellini, Visconti, Leone und der Fortschritt

Kubrick, Kieślowski et al.

Woody Allen und die Coen-Brüder

Fincher, Minghella, Egoyan und Nolan

Fundstücke und Reflexionen

Exotismus und Ethnographie nach 1951

Das Unbekannte im Vertrauten

Fakt oder Fiktion im 21. Jahrhundert

Jane Austen im Kino

SOUND OF METAL und die Symbolkraft des Schlages

Gesang und Gemeinschaft

Wettstreit

Vertiefung

Die Semiologie der Tasten

Das analytisch relevante Klavierspiel

Die Meisterschaft der individuellen Lösungen

Musik und Bildung in Brennpunkten seit 1955

Liebe, Leben und Lust

Die Entdeckung der Einsamkeit

Kritische Familienporträts

Freundschaften und Gleichgesinnte

Grenzen des Heilkraft

Zusammenfassung

Zugaben

Der Vorlauf in Malerei, Literatur und Theater

Handlungsmusik und Musikalität in TV-Serien

Verzeichnisse

Literatur und Internetressourcen

Filme und Serien

Personen, Ensembles und Musik

Vorspann

Die Arbeit an diesem Buch hat dem Autor viel Spaß gemacht. Entstanden ist ein Kompendium, das inspirieren will. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf das Musizieren im Rahmen der Filmhandlung, auf das sichtbare Musikhören, auf die Musik als Gesprächsthema und auf musikbezogene Gegenstände in der Filmkulisse. Die Deutung sowie die Auswertung der Drehbücher, der Regie und der schauspielerischen Leistung sollen das Bewusstsein für die Musik in allen denkbaren Erscheinungsformen als Filmsujet festigen und zeigen, warum Musik ein integraler Teil der Filmgeschichte und -gegenwart ist – und zwar nicht nur als eine Klangkulisse, die das Leinwandgeschehen untermalt und unterstützt.

Dem Kino- und Fernsehpublikum soll das Buch eine neue Perspektive auf den Film als Gesamtkunst1 oder – etwas moderner ausgedrückt, in den Worten des italienisch-französischen Filmkritikers Ricciotto Canudo – auf die zusammenfügende «septième art»2 eröffnen. Den Filmprofis, die auf unverbrauchte Effekte setzen, dient dieses Buch als Kompendium des Erprobten und somit Veralteten. Darüber hinaus bietet es eine Basis für Spezialstudien. Wer über neue Filme schreibt, wird auf Einzelheiten aufmerksam, die in der herkömmlichen Filmrezeption kaum beachtet wurden. Zu guter Letzt animiert das Buch Studierende aller am Filmgeschehen beteiligten Fachrichtungen, sich an den gehobenen Standards zu orientieren, die sich vielerorts das filmisch-sichtbare Musikgeschehen betreffend etabliert haben.

Zwischen den Zeilen werden triviale Fragen gestellt und beantwortet: In welchem Hitchcock-Streifen geht es um Musiktherapie? Welche Regisseurin lässt den jungen Protagonisten Mozarts Fantasia in d-Moll spielen? In welchem Film markiert The Rolling Stones’ «Sympathy for the Devil»3 mit 124 im Hintergrund gesungenen «woo-woos» die Zahl 55, die für die Handlung wichtig ist? Wer lässt die Hauptpersonen des Films über die beruhigende Wirkung von Musik auf Milchkühe sprechen, und in welchem Film spielt eine Schweinezüchterin ihren Tieren auf der E-Gitarre eigenhändig Heavy Metal vor, um die Fleischqualität zu verbessern? Wie heißt der Film, in dem der Protagonist die Militarisierung des Weltraums durch einen massiven Schallimpuls (sonic upload) mit viel Musik und anderen Geräuschen verhindert? In welchem Kriegsfilm sitzt Winston Churchill an einem schwarzen Flügel, und welcher Regisseur fokussiert – symbolisch schlagkräftig und musikhistorisch verdienstvoll – Joseph Wulfs in Auschwitz III Monowitz entstandenes Lied «Sonnenstrahlen» (1943)? Solche Fragen sind unterhaltsam und eindeutig zu beantworten.4 Warum eine Filmfigur in einem bestimmten Moment eine Trompete in die Hand nimmt5 oder über eine Komposition spricht,6 versteht sich hingegen selten von selbst, zumal wenn Musik nicht die Hauptsache des Films ist.

In diesem Buch werden die visuell nachvollziehbaren musikalischen Handlungsmomente, der Handlungsrahmen und die Zeichensprache der musikbezogenen filmischen Erzählung mit Blick auf Ursachen und Funktionen untersucht.7 Angestrebt wird eine Philosophie des inszenierten Musikgeschehens: Das Buch möchte einen Beitrag zur Phänomenologie der Filmgeschichte leisten – und zwar induktiv, von einzelnen Szenen ausgehend. Der Zeitrahmen beträgt über hundert Jahre, doch es geht weniger um die ausgewogene Darlegung des Materials, als um die historische Kontextualisierung der Details in der gegenwärtigen Produktion.8

Der visuell begründete, szenisch integrierte Sinn von Musik, Musizieren, musikbezogenen Gegenständen, Musikhören und Gesprächen über Musik soll verständlich werden. Das Material wird ohne regionale Schwerpunkte9 und frei von stilistischen oder Genre-Präferenzen betrachtet. Das Thema betrifft fast alle Bereiche der Filmproduktion: das Schreiben von Drehbüchern, die Regie, die Ausstattung, die Beratung der Regie im Hinblick auf die szenische Musik und nicht zuletzt die Schauspielkunst. Folglich geht es auch um den Einfluss instrumentaler und vokaler Vorbildung auf die Filmdarstellung und um die biographischen Hintergründe aller Filmschaffenden, die durch Affinität zu raffinierter Handlungsmusik auffallen. Es wird beispielsweise gefragt, ob musikalisch konnotierte Teile der Kulisse narrativ oder ästhetisch wichtig sind oder der Produktplatzierung dienen.10 Die Namen und die Herkunft der Fabrikate, der sichtbaren Klaviere usw., können eine Bedeutung haben, aber sie können auch austauschbar sein. Je aufwendiger eine Filmproduktion ist, desto wahrscheinlicher ist der sorgsame Einsatz der musikalischen Details. Allerdings können Filme, die in anderer Hinsicht flüchtig produziert wurden, kunstvoll inszenierte Musik und Musiksujets enthalten; auch diese sollten gewürdigt werden.

Den neugierigen Blick auf den filmischen Umgang mit musikbezogenen Symbolen, Anzeichen und Abbildern der Lebensrealität sowie mit narrativen Strängen – und zwar auch dann, wenn es laut Titel und Trailer nicht um Musik und Musizieren geht – entwickelte Siegfried Kracauer. Er studierte die Gemeinschaft der Geflüchteten, die in einer Pariser Pension «sehnsüchtig den Tönen ihrer heimischen, auf einem Klavier gespielten Volkslieder» lauschen, anhand von Gennaro Righellis HEIMWEH (1927).11 Dieses musikalische Gruppenporträt der Verzweifelten reflektiert das abstrakte Hauptthema dieses Stummfilms, zu dem Walter Ulfig die Begleitmusik schrieb. Im vorliegenden Buch wird die von Kracauer begonnene Suche nach filmischen Analogien zu etwas Nicht-Filmischem fortgesetzt.12

Hinsichtlich der Signifikanz einer Szene macht es keinen grundsätzlichen Unterschied, ob Musik gespielt, gehört oder besprochen wird oder ob sie durch eine Violine an der Wand verkörpert wird; erst die Analyse eines Details offenbart dessen Bedeutung. Was alles zur Musik zählt, ist freilich umstritten. In diesem Buch wird beispielsweise das Pfeifen thematisiert, wohingegen aus der Milieukritik von Peter Ustinov, der «Klang des Lachens» sei die «zivilisierteste Musik auf Erden»,13 keine Konsequenzen gezogen werden.

Die Ausdruckskraft der Klassik, die einen Mikrokosmos der Gefühle bildet und die zwischenmenschliche Interaktion widerspiegeln kann,14 erklärte Nina Hoss mit Blick auf Ina Weisses DAS VORSPIEL (2019), in dem das musikalische Ausbildungsmilieu eine Metapher für die Welt außerhalb der Musikschulen ist:

Ich glaube, klassische Musik bietet einen Rahmen, in dem man Geschichten sehr gut zuspitzen kann. Weil man so viel Arbeit investieren muss, um überhaupt zum Moment der Schöpfung zu kommen. Man kann sich mithilfe dieser Welt auch gut die Frage stellen: Muss man eigentlich so streng sein? Oder: Gibt es andere Wege? Klassische Musik ist auch eine Passion, also etwas, das mit Leiden, aber auch Lust zu tun hat. All das sind Gefühle, die auch das Kino sucht.15

Das ist auch das Geheimnis von Emmanuel Courcols EN FANFARE (DIE LEISEN UND DIE GROSSEN TÖNE, 2024):16 Wer wegen des Titels und der Werbung eine Musikkomödie erwartet, ist auf das tiefsinnige Sozialdrama nicht vorbereitet. Das Musikgeschehen mit ungleich ausgebildeten Profis und Laien bildet einen möglichen Rahmen für die Gesellschaftsanalyse. Dieser ist allerdings sorgfältig gestaltet: Dass EN FANFARE der womöglich beste Film aller Zeiten über Facetten des Dirigierberufs ist, obwohl es in dem Film nicht primär um Musik und Musizieren geht, zeigt die professionelle Seriosität der französischen Film- und Schauspielkunst.17 Auch das Ende des Films erzählt nicht von einer realistischen Situation im Musikleben: In der letzten Szene musizieren ein Arbeiterchor aus der nordfranzösischen Provinz und ein Pariser Spitzenensemble Ravels Boléro im Grand Auditorium de la Maison de la Radio ganz spontan – und das Publikum stimmt mit ein. Die surreale Metapher der Wiedervereinigung von zwei Brüdern und deren gegensätzlichen Milieus wird am Ende des Films also monumental. So unrealistisch die Situation auch ist, wird sie perfekt ausgeführt – insbesondere auch musikalisch.18

Dass das Musikleben nicht der einzig mögliche Rahmen für solche Strukturmetapher ist, zeigt Marc Forsters THE KITE RUNNER (2007): Die Spielsituationen funktionieren ähnlich, wenn Amir (Zekeria Ebrahimi) und Hassan (Ahmad Khan Mahmidzada) miteinander spielen, die Jungen in Kabul weiträumige Spiele veranstalten und Hassans Sohn Sohrab (Ali Danish Bakhtyari) sich mit dem erwachsenen Amir (Khalid Abdalla) vergnügt. Die Papierdrachen im winterlichen Kabul sowie am Ende des Films am Himmel über San Francisco illustrieren Konflikte, Lust und Leid der Menschen.

Einige Passagen des vorliegenden Buches sind de facto Tagebucheintragungen, die das Zeichenarsenal am Einzelfall fokussieren. Die Register fassen das Material zusammen, was wichtig ist, weil einzelne, für das Thema des Buches besonders bedeutende Filme mehrfach betrachtet werden. Die genaue Beachtung der Fußnoten und Anmerkungen wird empfohlen, denn sie enthalten nicht nur Übersetzungen von Zitaten, Verweise auf Literatur und Spezifizierungen von Musikwerken, sondern auch Kommentare.

Wer musikhistorisch bewandert ist, kann anhand des Registers oder beim Lesen überlegen, wie sich Musikgeschichte in der Filmkultur widerspiegelt: Warum kommt gerade Puccini als Opernkomponist in szenisch-narrativen Zusammenhängen so häufig vor? Warum sind einige Klassik-Stücke, wie Bachs «Goldberg-Variationen»19, das Adagio sostenuto aus Beethovens «Mondscheinsonate»20 und das Adagietto aus Mahlers Sinfonie Nr. 5 sowie Beethovens «Für Elise» unter den Filmteams so beliebt, Ravels Boléro dagegen selten? Die meisten Kompositionen wurden in dem analysierten Material tatsächlich nur einmal gefunden. Dass die Vermeidung von Repertoire-Wiederholung die anderen musikkulturellen Sphären (Pop, Rock, Jazz etc.) betreffend noch konsequenter ist, bedarf einer Erklärung. Möglicherweise spielt die grundsätzliche und auch legitime Neigung der Klassik-Kultur zu individuellen Meisterwerken und zur Idealisierung von besonders wertvollen Kompositionen eine Rolle, während die meisten anderen Musikkulturen der Welt – abgesehen von religiösen und liturgischen Traditionen – etwas mehr auf die Lebendigkeit der Aufführungspraxis setzen. Damit ist nicht gemeint, dass die häufigsten Klassik-Stücke in szenischen Funktionen im Film besondere Meisterwerke seien; vielmehr sind Stagnation des Repertoires und Kanonisierung einer Auswahl wesentliche Qualitäten des Klassik-Milieus – auch der Aufführungs- und Interpretationspraxis, denn die Neigung zur Verherrlichung ausgewählter Produkte gefährdet die Varianz.

Der Versuch, die Filmgeschichte und -gegenwart als «Philosophie» der sichtbaren Musik zu erfassen, mag gewagt wirken. Insbesondere die repertoirehistorische Vollständigkeit bleibt ein Traum.21 Die professionelle Leserschaft wird womöglich eigene Beispiele für die behandelten Themen parat halten und manche einen favorisierten Filmtitel vermissen. Für viele großartige Filme bildet sich in den folgenden Kapiteln ohnehin nur ein Kontext. Diesem historischen Panorama müssen Spezialstudien folgen.

Die Grundidee des vorliegenden Buches ist konzeptionell zwischen Essay und Kompendium angesiedelt. Die Argumentation wird nicht anhand der üblichen Verdächtigen der Filmwissenschaft (den Filmklassikern) geführt, sondern es werden sehr viele Filme behandelt, die in Sachbüchern eher selten Erwähnung finden. Obwohl das Buch wegen der Materialdichte nicht zum schnellen Durchlesen einlädt, soll es – auch im Sinne eines Überblicks – auf größere Zusammenhänge aufmerksam machen und als Ganzes gelesen werden: Es ist kein herkömmliches Nachschlagewerk, wobei die ideale Leserschaft bei einzelnen Titeln und Szenen natürlich innehalten kann und sollte. Auf Filmmusicals sowie TV-Produktionen aller Art wird nur sporadisch eingegangen. Unproblematisch ist das nicht, denn das Fernsehen ist nicht mehr, weder technisch noch ästhetisch, vom hochwertigen Kino zu trennen, und gerade Serien werden heutzutage vergleichbar ambitioniert produziert wie Filme.

Alan Croslands THE JAZZ SINGER (1927) steht im Untertitel stellvertretend für Filme mit unübersehbaren musikalischen Handlungsmomenten, deren Sinn und Zweck jedoch weit über den unterhaltsamen Effekt hinausgehen, den sie zweifelsohne auslösen. Wie die meisten der analysierten Filme, setzt der zweite, der im Untertitel hervorgehoben wird – Sean Barkers ANORA (2024) –, nur an wenigen Stellen, aber markant auf Musiksujets.

Ursprünglich sollten Filmszenen der Analyse des latenten Unbehagens im gegenwärtigen Musiziermilieu als Illustration dienen, doch die musikbezogenen Situationen an sich begannen den Autor zu faszinieren – sogar bei TOM AND JERRY,22 beispielsweise mit den beiden Figuren als wetteifernde Dirigenten, dem Kater Tom als Opernsänger mit dem Mäuserich Jerry als Störenfried und Tom als Konzertpianist, während Jerry im Flügel haust. Außerdem spielt Tom in dieser Cartoon-Reihe einen begabten Klavierschüler, Orchestergeiger, verwirrten Dirigenten mit Machtfantasien, Multiinstrumentalisten, Opernsouffleur, Country-Sänger, Schlagzeuger, Jazz-Bassisten und -Sänger – Jerry dagegen einen gestörten Anwohner mit Racheplänen. Konsequent karikieren diese Cartoons die dunkle Seite des Musiklebens.

Im Januar 2012, als INTOUCHABLES (ZIEMLICH BESTE FREUNDE)23 die Kinos eroberte, sah der Autor den Film mit einer musik- und musiktheateraffinen Kollegin, und als sich zwölf Jahre später die Gelegenheit ergab, den Film erneut gemeinsam zu sehen, gestand sie verblüfft: «Ich hatte alle Szenen mit Musik vergessen!» So ging es dem Autor auch. Und doch ist zumindest die Sequenz, in der Le Capriccio Français unter dem Dirigenten Philippe Le Fèvre zum Geburtstag von Philippe Pozzo di Borgo (François Cluzet) musiziert24 und der Pfleger Driss25 (Omar Sy) «Boogie Wonderland»26 aus einer mobilen Anlage tönen lässt und dazu tanzt, lang, komisch, brillant produziert und dramaturgisch auffällig.27

Dem Autor geht es um einen musikwissenschaftlichen Beitrag zur Filmkritik, nicht um das Fach Medien- und Filmwissenschaft. Die Fragen, die er stellt, ergeben sich aus seiner musikkritisch-hermeneutischen Haltung: Am Anfang war es nicht leicht, die eigenen Kino-Konventionen (Hör- und Sichtweisen) zu ignorieren, doch er wollte unbedingt einen Zugang entwickeln, der seiner Ausbildung eher entspricht als die gängige Rezeptionspraxis, die er sich vor diesem Projekt als Kinobesucher, Student der Theaterwissenschaft und in Filmgesprächen angeeignet hatte.28

An dieser Stelle möchte der Autor den Personen danken, die ihm im Laufe der Jahre dabei geholfen haben, Carl Dahlhaus’ Doktrin zu deuten und umzusetzen: Wissen und Einfälle in einer «menschenwürdigen Sprache» zu artikulieren.29 Seine Studentischen und Wissenschaftlichen Hilfskräfte am Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg waren (in chronologischer Reihenfolge) Henrike Alscher, Anneliese Branke, Thea Plath, Clara Hoheisel und Jan Malte Fragel. Ihre Hinweise und Kritik haben den Autor beflügelt. Georg Maas und Susanne Vollberg entdeckten seine Arbeit 2023 im fortgeschrittenen Stadium; sie animierten ihn dazu, seine Perspektiven einem Fachpublikum im Rahmen der 16. Filmmusiktage in Halle vorzustellen.30 Ermutigend war insbesondere das Interesse der Komponistin Annette Focks. Wichtig waren aber auch Gespräche mit den Mitgliedern der European Piano Teachers Association in Köln 2022, denn einige von ihnen hatten bei Filmproduktionen gewirkt. Abschließend – aber nicht weniger herzlich – möchte der Autor noch den Kollegen und Kolleginnen danken, die es ihm früher schon ermöglichten, sich als musikalischer Filmkulturforscher öffentlich zu profilieren: Horst Weber, Matthias Hansen, Eva Fritsch und Frieder Reininghaus.

Details

Pages
432
ISBN (PDF)
9783631934937
ISBN (ePUB)
9783631934944
ISBN (Softcover)
9783631935897
DOI
10.3726/b22738
Language
German
Publication date
2025 (July)
Keywords
Kulturgeschichte Medien Dramaturgie Schauspiel Drehbuch Regie Musikgeschichte Musik Filmmusik Film
Published
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2025. 432 S.
Product Safety
Peter Lang Group AG

Biographical notes

Tomi Mäkelä (Author)

Tomi Mäkelä, finnisch-deutscher Musik- und Kulturwissenschaftler, Publizist und Pianist, ist Preisträger von «Geisteswissenschaft international» der Fritz-Thyssen-Stiftung, der VG Wort, des Auswärtigen Amtes und des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (2008) sowie der Schwedischen Literaturgesellschaft in Finnland (2023).

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