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Haftautobiographik im 20. Jahrhundert

Hafterfahrungen in Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Gedichten, Dokumentationen und Erzähltexten

von Sandra Berndt (Autor:in)
©2016 Dissertation 291 Seiten
Reihe: Leipziger Gender-Kritik, Band 7

Zusammenfassung

Die Autorin behandelt Texte von Autorinnen, die Gefängnis- und vereinzelt auch Lagerhaft, zumeist aus politischen Gründen, erfahren haben. Sie untersucht in erster Linie, wie das Gefangensein subjektiv wahrgenommen und erlebt wird. Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf der Schreibweise der Autorinnen, die raum-zeitlich verzerrt ist. Anknüpfend an Hermann Schmitz’ phänomenologische Darlegungen zum Leib, kann die Autorin die bisherigen Körperkonzeptionen um die (geschlechtliche) Leibdimension erweitern. Sie zeigt auf, dass die Bedingung der Gefangenschaft, des gefangenen Subjekts, in diesem selbst liegt. Die Gefangenschaft legt sich im Subjekt als gefühlte Atmosphäre und atmosphärisches Fühlen ab.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung in die Untersuchung
  • 1.1 Zugänge zur Haft
  • 1.1.1 Textkorpus
  • 1.1.2 Forschungsstand
  • Historisierend-genealogisierender Zugang
  • Literaturwissenschaftlicher Zugang
  • Kulturwissenschaftlicher Zugang
  • 1.1.3 Erstes Zwischenresümee
  • 1.2 Ein alternativer Zugang: Die Neue Phänomenologie
  • 1.2.1 Körper-Leib oder das ursprüngliche Bezogensein des Körpers als Grenze der Macht
  • Leib
  • Körper-Leib
  • 1.2.2 Die Dynamisierung des Körper-Leibes als Gefühl
  • 1.3 Zweites Zwischenresümee
  • 2 Wie macht Gefangen(en)sein Gefangensein, den gefangenen Körper, und was ist das Subjekt darin?
  • 2.1 Der Raum des Gefangen(en)seins
  • 2.1.1 Kälte
  • 2.1.2 Licht, Weiß
  • 2.1.3 Kargheit, Leere, Stille
  • 2.1.4 Gegenstände des Raums
  • 2.1.5 Der Blick und die Blöße
  • 2.1.6 Übernahmen und Manipulierungen
  • 2.2 Die Zeit des Gefangen(en)seins
  • 2.2.1 Der Zeit-Raum als Erinnerungsraum
  • 2.2.2 Der Stillstand: Das Charisma der Einsamkeit (Rosa Luxemburg, Edeltraud Eckert)
  • 2.2.3 Kontinuen: Der Kreis des Lebens und das Rad der Zeit (Emmy Hennings, Gabriele Stötzer)
  • 2.2.4 Das Überzeitliche: Liebe (Lina Haag, Eva Müthel)
  • 2.3 Das Gefühl des Gefangen(en)seins
  • 2.3.1 Traum-a: Das Vergrößerungsglas des Schmerzes
  • 2.3.2 Schmerz: Erfahrung von Rettung und Auflösung
  • 2.3.3 Atmosphären des Gefangen(en)seins (Emmy Hennings, Lina Haag, Eva Müthel)
  • 2.3.4 Das Gewicht des Gefangen(en)seins (Rosa Luxemburg)
  • 2.3.5 Die Destabilisierung der Körperteile
  • 2.3.6 Das Hervordrängen der Sinne
  • 2.3.7 Die Verkrustung des Körperinneren
  • 2.3.8 Die Hülle des Gefangen(en)seins
  • 2.4 Der Rhythmus des Gefangen(en)seins
  • 2.4.1 Das Tagebuch der Haft (Luise Rinser, Marianne Herzog, Brigitte Heinrich)
  • 2.4.2 Der Brief der Haft (Rosa Luxemburg, Edeltraud Eckert)
  • 2.4.3 Das Gedicht der Haft (Edeltraud Eckert)
  • 2.4.4 Der Erzähltext der Haft (Lina Haag, Gabriele Stötzer)
  • 2.5 Die Zufluchten des gefangenen Körpers
  • 2.6 Drittes Zwischenresümee
  • 3 Schluss
  • 4 Literaturverzeichnis

← 8 | 9 →1 Einleitung in die Untersuchung

1.1 Zugänge zur Haft

Was ist Erinnerung?

Man macht, was man war.

Das klingt so, als wäre man frei, es zu machen. Das ist man aber gar nicht, denn man erfindet nichts. Man macht Schritte und glaubt sie frei zu bestimmen, aber sobald sie gemacht sind, spürt man, daß sie vorgezeichnet waren.

Erst was durch Erinnerung gegangen ist, läßt sich wiedererkennen.

Das Traurige der Erinnerung: was sie verbraucht hat.

Das Heitere der Erinnerung: der Überschuß.

In der Steuerung besteht die Kunst der Erinnerung. Was man beiseite liegen läßt, was man umgeht.

Das Rare und das Gehäufte.

Was sich vordrängt: entstellte Figuren, die sich berichtigen müssen. Wie kommt es, daß man manches am Leben erhalten will und anderes gar nicht?

Das Verdünnte will sich runden, durch Sprechen. Aus einem einzigen Wort sollen wieder alle Sätze werden. Zusammenhänge, die man zum erstenmal begreift. Die Unwürdigkeit amorpher Aneinanderreihung. Was man anderen getan hat, holt sie zum Leben herauf. Man ist ein Schuldner wie aus vielen Existenzen, obwohl man nur diese eine gelebt hat.

Jeder Mensch weiß mehr, als sich in einem neuen langen Leben erzählen ließe.

Wovon ist die Auswahl bestimmt? Von einer einzigen Farbe des Gefühls: von Dankbarkeit oder Bitterkeit, Sehnsucht oder Haß.

In einer anderen Sprache würde man sich anders erinnern. Das wäre genauer zu untersuchen, und bist du nicht eben der Richtige, es zu tun?1

Gebunden an die Frage „Was ist Erinnerung?“, benennt Elias Canetti gleich zu Beginn das Gegenwärtige: „Man macht, was man war“, heißt auch, sich an dem zu orientieren, was man kennt. Canetti fasst es jedoch als ein diachronisches Verhältnis, als einen Einbruch des Vergangenen. Denn man erkennt zugleich, dass sich die alte Ordnung in die Neue hineinschiebt, der man sich nun wieder annehmen muss oder kann, was in der „Steuerung“ zwangsläufig zu einer veränderten Perspektive auf die Vergangenheit und die Gegenwart führt. In dieser Vermischung der Zeiten, der man verhaftet bleibt, tritt die Zukunft als von der Vergangenheit geprägte Zeit des Unbekannten hervor. Die Gegenwart wird sich selbst fremd, sie verwirrt ihren Träger, und es ist diese Schwäche der Gegenwart, ← 9 | 10 →durch die Vergangenes in die Zukunft hineinragt. Dieses Kontinuum ist ein ­Aspekt, der die Texte aus der Haft auszeichnet.

‚Haft‘ bezeichnet den Zustand der räumlichen, auf Dauer gestellten Separation von Individuen, die dies als eine körperliche Begrenzung erfahren. Mehr noch, die Überweisung ins Gefängnis führt zur Erfahrung einer lokalen, kommunikativen und existenziellen Desorientierung.2 Der Verlust der einstigen räumlichen Orientierung in der Freiheit muss nun in der Desorientierung der Gefangenschaft quasi ‚in Ordnung‘ gebracht werden. Im ‚Verhaftet-Sein‘ ist die Bedeutung dieselbe, über oder unter die sich aber eine zweite Bedeutung schiebt: diejenige des ‚Nicht-Loskommens‘ von etwas. Letzteres ist der Impuls, über die Haft zu schreiben, ‚nach‘ der Haft. Es sind die Fesseln der Erinnerung, das Verhaftetsein in der Vergangenheit, das sich im Kontinuum, dem unablässigen Fließen des Vergangenen in die Zukunft, fortschreibt. Fortschreibt deshalb, weil die Gegenwart keine andere Funktion hat, als dem Ausdruck zu verleihen. Figuren, die entstellt, nebulös oder fragmenthaft in der Erinnerung sind, sollen auch bei Canetti zusammenhängende Sätze in der Gegenwart bilden, angeleitet durch Emotionen beziehungsweise Gefühle. Somit ist auch die Schreibweise notwendigerweise raum-zeitlich ‚verzerrt‘. Man könnte auch sagen in Unordnung geraten, weshalb es bei den Gefangenen wiederholt zu Orientierungslosigkeit in der Gegenwart kommt. Die Vergangenheit schreibt sich in die Zukunft hinein und plündert deren Möglichkeiten aus. Dieses Kontinuum ist der (unauflösliche) Schrecken der Haft eines nie anderen, neuen Seins. Im Schreiben über die Gefangenschaft schieben sich die Erinnerungen in die Gegenwart und lassen erneut ein Gefühl des Gefangenseins im schreibenden Ich entstehen, das im und mit dem Schreiben das Gefangensein zu überwinden versucht. Dieser Punkt kennzeichnet die Texte, die nach der Entlassung aus der Haft in der Freiheit entstehen und auf die Gefangenschaft zurückblicken.

Diesen nachzeitigen beziehungsweise retrospektiven Texten stehen Texte gegenüber, die zeitgleich in der Gefangenschaft entstanden sind. In diesem zeitgleichen Schreiben ist eine gegensätzliche Situation ersichtlich. Die oben ← 10 | 11 →beschriebene Diachronie der Zeit wirkt sich hier anders aus. Die Schreibenden berichten nur vereinzelt und vergleichsweise wenig über ihre Gegenwart, an der es auf entsetzliche und grausame Art und Weise nichts zu begreifen gibt. Die Vergegenwärtigung des Zustands der Haft fällt mit der Verlängerung der Haft zusammen. Deshalb ‚flüchten‘ die Schreibenden oft aus der Gefangenschaft, um sich in Erinnerungen an die Freiheit wiederzufinden. Die Gefangenen verdrängen die gegenwärtige Ordnung des Gefangenseins, in der alles in Unordnung geraten ist, um sich im Horizont der Erinnerungen an die Freiheit Neuorientierung zu holen.

Das schreibende Subjekt schildert im Schreibprozess ein Stück Leben, das zuvor nicht ‚öffentlich‘ war. Häufig kommt die Erinnerungsarbeit einem Sich-­Freischreiben von Erlebtem nahe oder wird mit Ab- und Aufarbeitung verglichen. Insbesondere in der Notation von Grenzerfahrungen gleicht die Erinnerungsarbeit einem Durchstreifen und Durchleben der Vergangenheit. Die Gefangenschaft ist im (ehemals) gefangenen Menschen dauerhaft in seinen vielzähligen Gedächtnissen eingeschrieben, und deren Reflexion wird zum Durchlaufen der Haft in Bildern, die freigelegt werden, sowie zum Durchfühlen der Haft in Atmosphären, die im Körper-Leib eingeschrieben sind. Ein solch komplexer Schreibprozess figuriert sich in allen Gattungsformen. Sie zeugen somit von hoher Intensität, sprich durch die Darstellung von Gefühlswahrnehmung und -erinnerung an die Haft. Die Texte schaffen insofern Ordnung. Sie ermöglichen es, eine andere Perspektive einzunehmen, die Wertungen auf das Erlebte zulässt, ob es nun als das „Traurige“ oder als das „Heitere“ gesehen werden kann. Das Schreiben schafft damit auch Anhaltspunkte, an die in der Zukunft angeknüpft werden kann.

Einen einheitlichen Gattungsbegriff gibt es für die Texte der Haft nicht, aber Definitionsversuche.3 Rekurrierend auf Michaela Holdenried verwende ich im ← 11 | 12 →Folgenden den Begriff Haftautobiographik.4 Haftautobiographik umfasst literarische Zeugnisse infolge der Grenzerfahrung einer Gefangenschaft, und zwar Texte, die während einer Inhaftierung verfasst worden sind und retrospektive Erinnerungstexte an die Gefangenschaft. In dieser Verbindung steht das Ereignis – die Gefangenschaft – im Mittelpunkt, und nicht der Text über das Ereignis. Diese Unterscheidung ist freilich fragil. Es kann entgegengehalten werden, dass die Schilderungen über Sprache vermittelt sind und somit kein Kriterium ersichtlich ist, um die Texte von Gefangenen von Texten zu unterscheiden, die ← 12 | 13 →über Gefangenschaft handeln und deren Autorinnen nicht im Gefängnis waren. Weder Gefangene noch Nicht-Gefangene bilden die Gefangenschaft unmittelbar ab. Autorinnen, die nicht im Gefängnis waren, können dies zumeist besser als Gefangene, die keine Autorinnen sind und über die Haft schreiben. Die Schilderungen von Schreibenden, die nicht im Gefängnis waren, beruhen auf Einfühlungen, Interviews von Gefangenen, Literatur und Fiktionalisierung. Die Schilderungen von Gefangenen (die keine Autorinnen sind) verfügen nicht über einen solchen Grund. Der Schreibimpuls ist weniger kognitiv als sinnlich, weniger affirmativ als aversiv, ­weniger explorativ als hospital. Diesem Schreibimpuls und seiner Sedierung in den Texten soll durch eine Phänomenologie, die sich zugleich auf den Körper und den Text bezieht, nachgegangen werden. Behauptet wird nicht mehr und nicht weniger, dass sich der Textkörper von Gefangenen, die schreiben, von denen professioneller Autorinnen, die nicht in Haft waren und darüber schreiben, unterscheidet. Die Schreibenden, sofern sie schriftstellerische Erfahrungen haben, wie Rosa Luxemburg oder Marianne Herzog, beschäftigen sich zudem nachweislich mit der Tradition haftautobiographischer Erfahrungen. Die Wiederkehr der dort auftauchenden Topoi bekräftigt dies, wobei sich zugleich Tendenzen zur (schriftstellerischen) Fiktionalisierung zeigen.

Als Text einer Grenzerfahrung berichtet die Haftautobiographik in älteren Quellen selten von einem sinnlichen Trauma und von der Dialektik beziehungsweise dem Kontinuum der Haft, die ein raumzeitlich verzerrtes Schreiben erzeugt5, für die Haftautobiographik des 20. Jahrhunderts wird dies jedoch bestimmend. Dabei stehen das zeitgleiche subjektive Erleben von Gefangenschaft und Gefangensein und das nachzeitige Erleben in der (Wieder-)Erinnerung an die Grenzerfahrung als Gefühl des Gefangen(en)seins im Mittelpunkt, das, wie Canetti formuliert, zu „einer einzigen Farbe“ im schreibenden Subjekt wird.

Im Grunde rückt in der Haftautobiographik das gefangene Subjekt in den Mittelpunkt. Die Offenheit des Begriffs lässt sich für die Gegenstandsbestimmung fruchtbar machen. Als autobiographischer Diskurs umfasst die Haftautobiographik eine Vielzahl von Formen. Es werden hierunter Erzähltexte, Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Gedichte und Dokumentationen subsumiert, die zeitgleich während der Haft oder rückblickend aus der Erinnerung an die ← 13 | 14 →Haft sowohl in einem Zuchthaus oder Gefängnis als auch in einem Straf-, Arbeits- oder Konzentrationslager geschrieben wurden. In diesem Punkt erweitert diese Arbeit die in der Studie von Thomas Seiler eng gezogene Begriffsprägung Gefängnisautobiographik.6 In einem anderen Punkt wird das Untersuchungsfeld begrenzt, indem sich die zu analysierende Auswahl auf Texte von Autorinnen im 20. Jahrhundert – Rosa Luxemburg, Emmy Hennings, Luise Rinser, Lina Haag, Edeltraud Eckert, Eva Müthel, Brigitte Heinrich, Marianne Herzog, Ulrike Meinhof, Gabriele Stötzer – festlegt. Mit Blick auf das Desiderat der Erforschung des Erlebens der weiblichen Gefangenschaft in Auseinandersetzung mit autobiographischen Texten von Frauen wird diese Begrenzung zwingend notwendig, da sie den Fokus auf ein hypothetisch angenommenes spezifisch weibliches Wahrnehmen von Gefangenschaft legt. Dem geht gleichermaßen die Annahme eines weiblichen Geschlechtergedächtnisses voraus, das heißt die Gefangenschaft wird spezifisch weiblich erinnert.7

← 14 | 15 →1.1.1 Textkorpus

Das Korpus der Arbeit setzt sich aus der Auswahl von Texten von weiblichen Gefangenen im 20. Jahrhundert zusammen. Es werden sowohl Texte von ­Autorinnen, die schon vor der Haft schrieben, untersucht, als auch Texte von Autorinnen, die erst nach der Gefangenschaft und mitunter nur einmalig publiziert haben. Dabei hat sich mir die Frage gestellt, warum diese Texte, die, mit Michel Foucault gesprochen, als Diskurseffekte zu werten wären, im kulturwissenschaftlichen und mehr noch im literaturwissenschaftlichen Diskurs nicht aufgenommen worden sind. In der Literaturwissenschaft werden die genannten Autorinnen oft eher als Gefangene oder Häftlinge denn als Literaten wahrgenommen. Für die Kulturwissenschaft sind Gedichte und andere literarische Zeugnisse wiederum oft nicht aussagekräftig genug. Gefühle sind so nicht sichtbar und treten hinter die Beschreibung und Analyse von Gefängnisanlagen, Statistiken, ärztlichen Befunden und anderem zurück.

Mitunter bezeugen die Texte, wie im Fall der Gedichte von Edeltraud Eckert, dass die Haft als Grenzerfahrung nicht zwangsläufig im Text erfahrbar wird. Oft wird thematisiert, was im poetischen Gefangensein als Quintessenz des verdichteten Gedichts lesbar wird. Einsamkeit und Gefangensein sind gleichsam Bewusstseinslagen des modernen Künstlers. Das Gefängnis ist nicht unbedingt notwendig, um über Selbstentfremdung, Verlust und Einsamkeit zu sprechen. Anders Erzähltexte, die in ihrer Form die Haft tatsächlich als Bedingung haben. Hier entsteht die Zelle und der Haftalltag erst mit dem Kapitel, wird die Haft quasi protokolliert.

Das Tagebuch der Haft gestaltet sich in dieser Hinsicht vergleichsweise ‚echter‘ und ist wesentlich kürzer als rückblickende Erzähltexte. Es handelt sich innerhalb der Haftautobiographik um ein seltenes Aufschreibsystem, das, wie auch Eckerts Gedichte, zeitgleich in der Gefangenschaft verfasst wurde. Es strukturiert dabei den Haftalltag in einer relativen Nachzeitigkeit und hält insofern Momente fest, die das gefangene Subjekt raum-zeitlich unmittelbar körper-leiblich angehen. Es ist ein Medium in der Rhythmisierung des Gefangen(en)seins, dem der Rhythmus scheinbar augenblicklich eingeschrieben ist. Das Tagebuch ist aber, wie die zeitgleiche Gattung Brief der Haft, möglicherweise stark von Zensur und Selbstzensur beeinflusst. Für die zeitgleichen Texte gilt generell, dass die Möglichkeit des Auffindens, beziehungsweise bei den Briefen, sogar die Gewissheit der Kontrolle besteht.

← 15 | 16 →Die Darstellung einer Momentaufnahme wird in verdichteter Gestalt neben dem Tagebuch und dem Gedicht auch im Brief erfahrbar. Er steht hier an der Schnittstelle zwischen strukturierender und verdichteter Momentaufnahme. Zugleich überschreitet er in seiner, wie bei Lina Haag, ausführlichen Form die Grenze zu den Erzähltexten, in denen sich der Rhythmus des Gefangen(en)seins zur Wiederholung gewandelt hat. Haags Brieftext ist allerdings bereits ein nachzeitiges Dokument. Im Tagebuch, Brief oder Erzähltext spiegelt sich überdies Trauer über alles, was dort hineinschrieben wurde; es ist verloren, indem es ankommt, es ist raum-zeitlich verzögert ‚nach‘ der Erfahrung. Das Gedicht hält, wie bei Eckert, das Verlorene im Augenblick fest und schafft zugleich Projektionsfläche für Zukünftiges.

Wichtiges Charakteristikum der Texte ist die in der Forschungsliteratur seit Martin Scheutz verbreitete Unterscheidung nach zeitgleicher und nachzeitiger Niederschrift8, was vordergründig mit Lese-, Schreib- und Sprechverbot begründet werden kann. Die meisten der Texte, die erst Jahre nach der Haft entstanden oder publiziert wurden, betrachten das Erlebte aus der Distanz. Dies trifft vor allem auf Texte von Autorinnen zu, die das nationalsozialistische Gewaltregime überlebten oder Lagerhaft – wie im sowjetischen Lagersystem – erfuhren. Es betrifft zugleich all jene Texte, die aufgrund von Zensur und Schreibverbot ihre Form erst außerhalb der Gefängnismauern fanden. Individuelle Gründe, wie die Erziehung und die Stellung einer Person in der Gesellschaft, können das ­Schreiben über die Haft ebenso beeinflussen. Im Fall der zeitgleichen Niederschrift erfordern die unsicheren Bedingungen in der Gefangenschaft, die Schreiberlaubnis oder das Schreibverbot, der Mangel an Schreibmaterial und Schreibzeug erhebliche Flexibilität.

Für die rückblickenden Texte können überdies noch einmal zwei Zeiten der Aufzeichnung und der Schreibbedingungen konstatiert werden. Erstens konnte der Schreibakt kurz nach der Haft und im selben politischen System, wie zum Beispiel während des Nationalsozialismus oder in der DDR, gelingen oder zweitens unter neuen Bedingungen, wie nach Kriegsende 1945 oder nach dem Weggang aus dem Land der Inhaftierung beziehungsweise aus einer sehr großen zeitlichen Distanz heraus, die den Zugang zur Erinnerung und zur Vergangenheit verändern kann. Neue Perspektiven, Arbeit, das Gestalten der Umwelt überlagern Vergangenes und erschweren eventuell den Zugriff auf das Erlebte. ← 16 | 17 →Was ein Merkmal für Texte ist, die in der Haft entstehen konnten, trifft für die Retrospektive in verstärktem Maße zu. Neben Reden ist Schreiben eine Form der Verarbeitung von extremer Erfahrung. Andreas Eberhardt setzt das Schreiben gar als Anfang zur Überwindung des Schweigens. Seine Gespräche mit ehemals inhaftierten Frauen und Männern der SBZ/DDR bilden die Fortsetzung der Vergangenheitsbewältigung.9

Details

Seiten
291
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653047622
ISBN (ePUB)
9783653980448
ISBN (MOBI)
9783653980431
ISBN (Paperback)
9783631654910
DOI
10.3726/978-3-653-04762-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Gefangenschaft Wahrnehmung Gefühl Phänomenologie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 291 S.

Biographische Angaben

Sandra Berndt (Autor:in)

Sandra Berndt ist Kultur- und Literaturwissenschaftlerin sowie Lehrbeauftragte an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsinteressen sind deutschsprachige Literatur- und Kulturgeschichte, Frauenliteratur, Autobiographik, Literatur der DDR, Frauen- und Geschlechterforschung sowie Kulturphilosophie und -ästhetik. Sie ist Vorsitzende des FraGes-Vereins e.V. Leipzig und der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V.

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