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Kultur und Erziehung in der Waldorfpädagogik

Analyse und Kritik eines anthroposophischen Konzepts interkultureller Bildung

von Mandana Büchele (Autor:in)
©2014 Dissertation 330 Seiten
Reihe: Grundfragen der Pädagogik, Band 16

Zusammenfassung

Im Kontext der Diskussion um Interkulturelle Bildung wird in einer Zusammenhangsanalyse systematisch untersucht, ob und wie sich die Waldorfpädagogik / Anthroposophie Rudolf Steiners grundsätzlich für das Unterrichten und Erziehen in kultureller Vielfalt eignet. Auf dieser Basis wird das Verhältnis von Kultur und Erziehung neu bestimmt und ein transkulturelles Bildungskonzept entfaltet, das Orientierungen für die Gestaltung pädagogischer Praxis in multikulturellen Kontexten bietet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover Page
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung: Kulturelle Diversität als Herausforderung für die Pädagogik
  • 1.1 Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für das deutsche Bildungswesen
  • 1.2 Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die Wissenschaftliche Pädagogik
  • 1.3 Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für Bildung und Erziehung
  • 1.4 Zusammenfassung der Problemlage
  • 2. Zur Methodologie der Forschungsarbeit
  • 2.1 Zum Anlass: Eine interkulturelle Waldorfschule als Antwort auf kulturelle Diversität?
  • 2.2 Zum Forschungsstand: Defizite der Waldorfschulforschung und der Interkulturellen Pädagogik
  • 2.3 Zur Methodik der vorliegenden Forschungsarbeit
  • 3. Systematisierung des Diskursraums um Interkulturelle Pädagogik
  • 3.1 Der Assimilationsdiskurs und die Ausländerpädagogik
  • 3.1.1 Idee der Assimilation als kulturanthropologischer Hintergrund
  • 3.1.2 Ausländerpädagogik als pädagogische Antwort auf kulturelle Vielfalt in der Diskussion
  • 3.2 Der Gleichheitsdiskurs und die Interkulturelle Pädagogik
  • 3.2.1 Idee der Gleichheit (Divergenz) als kulturanthropologischer Hintergrund
  • 3.2.2 Interkulturelle Pädagogik als pädagogische Antwort auf kulturelle Vielfalt in der Diskussion
  • 3.3 Transkulturalitätsdiskurs und die Transkulturelle Pädagogik
  • 3.3.1 Idee der Synergie als kulturanthropologischer Hintergrund
  • 3.3.2 Transkulturelle Pädagogik als pädagogische Antwort auf kulturelle Vielfalt in der Diskussion
  • 4. Anthroposophische Grundlagen der Waldorfpädagogik
  • 4.1 Das Konzept der anthroposophischen Waldorfschule
  • 4.1.1 Zur Person und Bedeutung Rudolf STEINERs
  • 4.1.2 Waldorfpädagogik: Reformpädagogische oder anthroposophische Identität?
  • 4.2 Zur Systematik der Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik
  • 4.2.1 Anthroposophie: eine (Geistes-)Wissenschaft?
  • 4.2.1.1 Pädagogische und kulturanthropologische Konsequenzen der anthroposophischen Geisteswissenschaft
  • 4.2.2 Anthroposophie: eine sozialpolitische Bewegung?
  • 4.2.2.1 Pädagogische und kulturanthropologische Konsequenzen: Die Gründung der Waldorfschule aus dem Impuls der ,Freiheit im Geistesleben‘
  • 4.2.3 Anthroposophie: eine Metareligion?
  • 4.2.3.1 Kulturanthropologische Bezüge anthroposophischer Christologie
  • 4.2.3.2 Pädagogische Konsequenzen theosophisch-christologischer Anthroposophie
  • 4.2.4 Anthroposophie: eine Kulturanthropologie?
  • 4.2.4.1 Die Rassismusdebatte: Rudolf STEINER, ein Rassist oder Philanthrop?
  • 4.2.4.2 Kulturanthropologische Bezüge: Das anthroposophische Kulturverständnis zwischen egalitärem Philanthropismus und Rassenideologie?
  • 4.2.4.3 Pädagogische Konsequenzen der anthroposophischen Kosmologie
  • 4.2.5 Anthroposophie: eine kulturübergreifende Anthropologie und Erziehungskunst
  • 4.2.5.1 Pädagogische Konsequenzen der Anthroposophie als praktische Anthropologie
  • 4.2.5.2 Kulturanthropologische Bezüge des anthroposophischen Menschenbildes
  • 5. Möglichkeiten und Grenzen der anthroposophischen Waldorfpädagogik
  • 5.1 Konkludierende Thesen zur anthroposophischen Begründung der Waldorfpädagogik
  • 5.2 Möglichkeiten und Grenzen der anthroposophischen Bildungs- und Erziehungstheorie: Zwischen freiheitlicher Erziehungstheorie und disziplinarischer Erziehungspraxis
  • 5.3 Zur Würdigung der Waldorfpädagogik: Die Schule als Institution im Spannungsverhältnis zwischen Theorie (pädagogischer Anspruch) und Praxis (fürsorgliche Funktion)
  • 5.3.1 Die pädagogische Aufgabe der Schule in Abgrenzung zur Disziplinierung
  • 5.3.2 Die fürsorgliche Aufgabe der Schule und ihre Entlastungsfunktion
  • 5.3.3 Konklusion: Die Institution der Waldorfschule zwischen ihrer pädagogischen und fürsorglichen Aufgabe
  • 5.4 Möglichkeiten der anthroposophischen Pädagogik für interkulturelle Bildung und Erziehung
  • 5.4.1 Zur Anschlussfähigkeit der Waldorfpädagogik an die Konzepte Interkulturelle Pädagogik
  • 5.4.2 Generalisierungsmöglichkeiten waldorfpädagogischer Erfolgs-prämissen?
  • 6. Grundzüge einer transkulturellen Bildungskonzeption in anthroposophisch-realistischer Perspektive
  • 6.1 Das transkulturelle Bildungskonzept in anthroposophisch realistischer Perspektive
  • 6.1.1 Das transkulturelle Bildungskonzept in anthroposophisch realistischer Perspektive
  • 6.1.2 Erziehung als Wertenlernen: ‚Erst binden, dann bilden‘
  • 6.1.3 Bildung als dualer Prozess zwischen Sozialisation und Kultivierung
  • 6.1.4 Zur anthropologischen Grundlage: Der Mensch als ganzheitliche Person
  • 6.1.5 Zur Aufgabe der Schule im Prozess (transkultureller) Bildung: Individualisierung – Gemeinschaftsbildende Schulkultur – universelle Religiosität als bildungstheoretische Eckpfeiler
  • 6.2 Das Handlungsfeld einer transkulturell orientierten Schule: Unterricht – Schulstruktur – pädagogische Professionalität
  • 6.2.1 Handlungsorientierung für die pädagogische Praxis: Realisierungsmöglichkeiten der Ziele transkultureller Bildung und Erziehung in der Schule
  • 6.2.1.1 Reflektierende transkulturelle Kompetenzen
  • 6.2.1.2 Werterziehung zwischen Wertebindung und Werturteilsfähigkeit
  • 6.2.1.3 Diversität als Normalfall und fächerübergreifendes Prinzip
  • 6.2.1.4 Partizipation als Integration
  • 6.2.1.5 Globale Verantwortungsethik durch einheitsstiftende Schulkultur
  • 6.2.2 Das Handlungsfeld Lehrerbildung: Pädagogische Professionalität im Kontext kultureller Vielfalt
  • 7. Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis

1.  Einleitung: Kulturelle Diversität als Herausforderung für die Pädagogik

Interkulturelle Pädagogik ist nicht erst seit den von der empirischen Bildungsfor-schung (z. B. OECD PISA-Studien 2000, 2003) attestierten ‚migrationsbedingten Disparitäten‘ im deutschen Bildungssystem zur Jahrtausendwende und auch nicht erst seit der ausdrücklichen Empfehlung der Kultusministerkonferenz (KMK) für ‚Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule‘ (1994) ein zentrales und viel diskutiertes Anliegen von Bildungspolitikern, Schulen und Pädagogen in einer pluralistischen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland. Im Kern geht es bei den bildungspolitischen Diskussionen um das Problem der Realisierung von Chancengleichheit zwischen Heranwachsenden deutscher und nicht-deutscher Herkunft. Denn trotz jahrzehntelanger Diskussionen weist das deutsche Schulsystem auch heute noch Defizite im Umgang mit Heterogenität und sprachlich-kultureller Vielfalt auf. Seit einiger Zeit dominiert die Zielvorstellung, den tendenziell selektiven Charakter des dreigegliederten Schulsystems durch die Gründung von (integrativen) Gemeinschaftsschulen aufzuheben, in der Hoffnung, das ‚Migrationsproblem‘ dadurch zu lösen.

Seitens wissenschaftlicher Pädagogik hatte das Phänomen der Heterogenität und die Suche nach interkulturellen Bildungskonzepten in den 1970er Jahren die Etablierung einer spezifischen neuen Fachdisziplin zur Folge, die Interkulturelle Pädagogik. In den letzten 50 Jahren entwickelten sich aus dieser kontroverse Konzepte und Programme, die selten einen kategorialen Bezugsrahmen bzw. einen Grundkonsens erkennen ließen und bis heute keine überzeugende Lösung offerieren können.

Überblickt man diese Situation, so bemerkt man, dass die freien Schulen bei der Suche nach Lösungsansätzen für das Lehren und Lernen unter der Bedingung sprachlich-kultureller Vielfalt bislang nicht berücksichtigt wurden. In den letzten Jahrzehnten stand ausschließlich das staatliche Schulsystem mit seinen Problemen und Antworten im Mittelpunkt der Diskussion.

Bei einem Blick über den ‚Tellerrand‘ fällt aber auf, dass der Bund der Freien Waldorfschulen, als einer der größten Anbieter freier Schulen in Deutschland (230 in Deutschland und über 1000 Schulen weltweit, Stand: 2012), hierbei eine besondere Rolle einnimmt. Allein strukturell betrachtet verkörpern die Waldorfschulen aufgrund ihres sozial-integrativen Ansatzes als Gemeinschaftsschule, ← 9 | 10 → ihrer Individualpädagogik und ihrem universell-menschenfreundlichen Ansatz (Anthroposophie) geradezu die aktuell proklamierten bildungspolitischen Ziele. Hierdurch ist die Annahme begründet, dass im Zuge der Diskussionen um die Kritik am selektiven Charakter des staatlichen Schulsystems und die daraus resultierenden Forderungen nach besseren Bildungschancen für Kinder ausländischer Herkunft durch integrative bzw. interkulturelle Pädagogik bereits über einen Zusammenhang zu den Waldorfschulen nachgedacht wurde. Diese Möglichkeit wurde bisher allerdings weder von erziehungswissenschaftlichen Forschern, noch von Seiten der Anthroposophie und Waldorfpädagogik untersucht.1

Wie kommt es zu einer solchen Forschungslücke? Könnten der Eindruck einer durchweg homogenen, privilegierten deutschen Klientel (BARZ 2007) der Waldorfschule und die mit einer Privatschule assoziierbaren Selektionsmechanismen die Ursache für das erziehungswissenschaftliche Desinteresse am Integrations-Argument sein?

Zugegeben erscheint diese Hypothese im Licht der Bemühungen um ‚Integration‘ und Interkulturelle Pädagogik tatsächlich zunächst nicht ganz offensichtlich – sind die Waldorfschulen doch wenig für die Thematisierung von kulturell-sprachlicher Pluralität bzw. für den Einbezug von Kindern aus Migrantenfamilien bekannt2. Darüber hinaus sieht sich die Waldorfpädagogik aufgrund der anthroposophischen ‚Wurzelrassenlehre‘ ihres Schulgründers Rudolf STEINER seit einiger Zeit sogar mit wiederkehrenden Rassismusvorwürfen (vgl. z. B. LIPPERT 2001 / ZANDER 2007) konfrontiert. ← 10 | 11 →

Sich im Zuge des Interesses an Interkultureller Pädagogik von wissenschaftlicher Seite dennoch mit den Freien Waldorfschulen und der dahinterstehenden antro-posophischen Pädagogik auseinanderzusetzen, hat folgende Gründe:

Zunächst einmal ist die Waldorfschule, unter der Gründung des Anthroposophie-Vaters Rudolf STEINER, als eine gemeinschaftliche Einheitsschule konzipiert worden. Unter der Vision von Chancengleichheit sollte sie auch für Arbeiterkinder zugänglich sein und damit zur „Demokratisierung des Bildungswesens“ (LEBER 1992: 17) beitragen. Des Weiteren pflegt der Bund der deutschen Waldorfschulen seit 2001 eine offizielle Beziehung mit der UNESCO, welche 25 Waldorfschulen aufgrund ihrer innovativen Projekte im Bereich der interkulturellen Erziehung, der Friedens-, Umwelt- und Demokratie-Erziehung in das Netzwerk der UNESCO-Projektschulen aufnahm.3

Konkreten Anlass für die Untersuchung jener scheinbaren Inkompatibilität bildet zusätzlich die Entstehung einer ersten interkulturellen Waldorfschule in einem sozialen Brennpunktviertel der Stadt Mannheim (2003), die sich gezielt der „kulturellen und sozialen Integration“ (BRATER et al. 2009: 31) von Kindern ausländischer Herkunft verpflichtet fühlt und scheinbar durchweg positive Resultate durch ihr besonderes Schulprofil erzielt. Initiatoren der Schule verfolgten mit der Schulgründung die Realisierung der transkulturellen Leitidee, nämlich „das Überwinden der sozialen, kulturellen und religiösen Grenzen, das pädagogische Arbeiten im Sinne des Bewusstseins, dass wir alle zwar verschiedenen Kulturen, aber nur einer Welt angehören“ (BRATER et al. 2007: 49). Da eine Schule, die sich explizit als interkulturell vermarktet, aufgrund anhaltender bildungspolitischer Diskussionen um die Notwendigkeit, interkulturelle Bildung als Querschnittsaufgabe im Bildungswesen zu realisieren, in der Öffentlichkeit für großes Aufsehen4 sorgt und mittlerweile auch für erste Erfolge bekannt ist, lässt sich die Hypothese ableiten, dass das besondere Schulprofil und der integrative und ganzheitlich-pädagogische Ansatz einer Waldorfschule besonders für interkulturelles Lernen ← 11 | 12 → geeignet ist und, dass sie gerade für Schüler nicht-deutscher Herkunft eine sinnvolle Alternative zum eher selektiven Charakter einer staatlichen Schule offeriert.

Mit einem solchen induktiven Rückschluss der empirisch beobachteten Erfolge der einen Waldorfschule auf eine prinzipielle Möglichkeit der Waldorfpädagogik für die Herausforderungen sprachlich-kultureller Heterogenität erlangt man jedoch noch keine generalisierbare wissenschaftlich gültige Aussage. Denn die Möglichkeiten der Waldorfpädagogik im Hinblick auf die Ziele Interkultureller Pädagogik zeigen sich nicht anhand der evaluierten tatsächlichen Erfolge dieser einen interkulturellen Waldorfschule, d. h. sie lässt sich nicht alleine durch ihren Erfolg begründen, sondern in der Beziehung zu den Voraussetzungen für jene empirischen Phänomene, d. h. in den theoretischen Grundlagen und Geltungsansprüchen der Waldorfpädagogik insgesamt. Mit anderen Worten: Allein aus der deskriptiven Beschreibung der evaluierten Erfolge der Interkulturellen Waldorfschule kann noch keine gültige Aussage darüber erfolgen, inwiefern die anthroposophische Pädagogik der Waldorfschule grundsätzlich für die Ziele inter- oder transkultureller Pädagogik geeignet erscheint. Aufgrund des wissenschaftlichen Interesses an diesem Zusammenhang scheint es vielmehr notwendig, die pädagogische Praxis und die zugrundeliegende Erziehungstheorie der Waldorfschule insgesamt nach ihren Möglichkeiten und Grenzen für die Interkulturelle Pädagogik zu befragen.

In der vorliegenden Forschungsarbeit wird deswegen ein bisher nicht erforschter, aber im Zuge der Konsequenzen einer ‚multikulturellen Gesellschaft‘ dringend zu prüfender Zusammenhang von Waldorfpädagogik und Interkultureller Pädagogik untersucht. Die leitenden Forschungsfragen heißen deswegen:

In welchem Verhältnis stehen die theoretischen Konzeptionen der Waldorfpädagogik bzw. der Anthroposophie zu den Inhalten und Zielen inter- oder transkultureller Pädagogik?

In welcher Form werden diese in der pädagogischen Praxis der Waldorfschule realisiert, und: Lassen sich die ‚Erfolgskriterien‘ der Waldorfschule in praktischer Hinsicht auf das staatliche Schulwesen und in theoretischer Hinsicht auf bestehende Konzepte Interkultureller Pädagogik übertragen?

Um die Theorie der Waldorfschule aus ihren Prämissen heraus zu verstehen, müssen die wichtigsten Begründungszusammenhänge mit der anthroposophischen Waldorfpädagogik aufgedeckt und gewürdigt werden und sowohl in Bezug auf ihre pädagogischen, als auch auf ihre kulturanthropologischen Konsequenzen hinterfragt werden. Damit wird nicht nur die Absicht verfolgt, über die Möglichkeiten der Waldorfpädagogik für interkulturelle Bildung aufzuklären, indem die Anschlussfähigkeit an bisherige Konzepte Interkultureller Pädagogik geprüft wird, sondern auch im Durchgang der Waldorfpädagogik Inspirationen für die ← 12 | 13 → Grundlegung einer Bildungskonzeption zu finden, welche sowohl die aktuellen Herausforderungen einer pluralistischen Gesellschaft aufgreifen und vielleicht sogar positiv nutzen, als auch überzeitliche Geltung beanspruchen kann

1.1  Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für das deutsche Bildungswesen

Im heutigen Europa, welches durch einen gemeinsamen Binnenmarkt und ökonomische Interdependenzen geprägt ist, kommt es im Zuge beschleunigender Globalisierungs- und Migrationsprozesse und gesellschaftlicher Dynamik innerhalb aller europäischer Staaten zu Pluralisierungstendenzen hinsichtlich der auffindbaren Kulturen und Religionen. Gleichzeitig kommt es durch zunehmende Durchlässigkeit und Verflechtung (Hybridisierungsformen) zwischen den Kulturen zunehmend zur Auflösung solcher (traditioneller) Grenzen (vgl. Transkulturalität: 3.3). In Deutschland vollzieht sich hierdurch ein historisch einmaliger, tiefgreifender sozialer und kultureller Wandel. Da Multikulturalismus, wie er in modernen Gesellschaften als empirische Beschreibung darüber Auskunft gibt, wie die kulturheterogene Gesellschaft vorzufinden ist, gleichzeitig auch als (ideologische) Theorie verstanden werden kann, scheint es vielleicht auch von enormer Bedeutung, zu überlegen, wie das Zusammenleben in Kulturpluralität gestaltet werden soll. Im Zusammenhang mit der offiziellen Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland als Zuwanderungsland (im Jahr 2000) und dem Weg in eine multikulturelle Gesellschaft wird in der politischen Öffentlichkeit daher zunehmend diskutiert, wie in Deutschland das gesellschaftliche Zusammenleben in Kulturpluralität zu gestaltet ist (z. B. im Zusammenhang mit Schlagwörtern wie ‚Integrationskurse‘, ‚Kopftuchstreit‘, ‚Chancengleichheit‘ etc.). Zur Dringlichkeit solcher Diskussionen trägt auch die Erkenntnis bei, dass trotz der wohlwollenden Anerkennung Deutschlands als Zuwanderungsland und dem Aufruf zur Toleranz das Zusammenleben in Kulturenvielfalt nicht nur ein grenzenlos tolerantes, fröhliches ‚Multikulti-Paradies´ darstellt, sondern auch gewisse Spannungen und Konflikte mit sich bringt, die von Seiten der (Bildungs-)Politik zu spät als Herausforderung begriffen wurden.

Mit der Globalisierung und Intensivierung interkultureller Kontakte ergeben sich neben wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen auch Veränderungen für das private Leben aller Menschen einer modernen pluralistischen Gesellschaft. Die einst homogene, geschlossene Gesellschaft ist in unserer heutigen Zeit durch wachsende Mobilität gekennzeichnet und folglich nach allen Seiten offen. Dies ← 13 | 14 → führt dazu, dass die Begegnung zwischen Menschen anderer Traditionen, Wertvorstellungen und religiösen Überzeugungen zum Alltag gehört. Jegliche Form dieser interkulturellen Begegnung ist geprägt durch das Aushandeln zwischen dem so markierten ‚Eigenen‘ und dem anders markierten ‚Fremden‘, also bestimmt durch die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen (vgl. Kap. 3: Verhältnis: Eigenes – Fremdes). Die Art und Weise, wie innerhalb einer multikulturellen Gesellschaft dieses Aufeinandertreffen mit dem Fremden beurteilt und gestaltet wird, entscheidet darüber, ob kulturelle Vielfalt als Krise oder als Chance definiert wird.

Antworten auf diese Gestaltungsfrage werden bereits seit den ersten Reaktionen auf die Folgen der Gastarbeiterbewegung in den 1960er Jahren diskutiert, auch wenn die Frage nach dem Zusammenleben differenter Kulturen, Religionen und Völker keine Frage der Neuzeit darstellt. Der Breite solcher Theorien (von ‚Separation‘ über ‚Assimilation‘, ‚Integration‘ bis zum ‚Pluralismus‘) zum Trotz ergibt sich als Quintessenz seit einigen Jahren die Forderung nach einem Verständnis weg von der Vorstellung einer homogenen politischen Kultur und hin zur Anerkennung der Vielfalt und Förderung eines Zusammenlebens mit heterogenen Gruppen. Auf nationaler Ebene hat es die Integrationspolitik bislang jedoch versäumt, für ausreichende Teilhabe von Personen mit Migrationshintergrund am öffentlichen und politischen Leben zu sorgen. Trotz des Integrationsgipfels der Bundesregierung (seit 2007) und öffentlich- politischen Diskussionen, die beispielsweise zur Einführung von Integrations- und Einbürgerungskursen führten, welche in ihrer Wirksam- und Sinnhaftigkeit durchaus fragwürdig erscheinen, ist Deutschland zum großen Teil immer noch nicht anschlussfähig an die ‚Einwanderungssituation‘, was sich beispielsweise darin zeigt, wie wenig die Ressourcen der Migranten erkannt und genutzt werden. Die mit der Segregation und Exklusion von Migranten einhergehende geringe Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben in Deutschland manifestiert sich auch im Bildungssektor.

Ein Ort, an welchem sich solche Diskussionen besonders verdichten, ist die Bildungsinstitution Schule, die sich mit der Frage konfrontiert sieht, welche Herausforderungen sich durch sprachlich-kulturelle Heterogenität5 für das Bildungswesen ergeben. Seit der gesellschaftlich zu beobachtenden zunehmenden Pluralität in ← 14 | 15 → Deutschland wird auf bildungspolitischer Ebene durchaus kontrovers diskutiert, wie Schüler ausländischer Herkunft integriert, bzw. wie die Kulturenvielfalt im Schulalltag berücksichtigt werden soll, und wie dem Anspruch auf Gleichheit bzw. dem Anspruch auf Verschiedenheit gerecht zu werden ist. Konjunkturen bestimmter Diskurse hängen dabei mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen zusammen, da die Bildung und Erziehung der jungen Generation immer in die Interessenkonstellationen der Politik eingebunden ist. Vor allem in die jeweiligen Forderungen der Integrationspolitik, welche zwischen Assimilations- und Integrationsforderungen changiert und in den letzten Jahren zunehmend die Anerkennung der kulturellen und religiösen Minoritäten in Deutschland proklamiert. Doch im Bildungssektor verläuft dieser „Prozess der Anerkennung der Realität […] keineswegs ohne Widersprüchlichkeiten, Kontroversen und Konflikte“ (KRÜGER-POTRATZ 2005: 17), sondern ist weiterhin von aktueller Relevanz.

Neben der Notwendigkeit, auf allen Ebenen pädagogischer Forschung und Praxis (Bildungswesen, Erziehungsinstitutionen, Lehrerausbildung und Erziehungswissenschaft) die interkulturelle Dimension als Querschnittsdimension zu realisieren, ist in Anlehnung an die internationalen Schülervergleichsstudien (PISA 2001/2003; TIMSS; IGLU) seit der Jahrtausendwende eine weitere Wendung zu verzeichnen: der Migrationshintergrund als Risikofaktor für Bildungschancen im deutschen Schulsystem.

Im Bildungsbericht des Konsortiums für Bildungsberichterstattung zum Sonderthema ‚Bildung und Migration‘ (2006) wird Deutschland aufgrund der gegebenen Migrationspopulation als „Staat mit starker Arbeitsmigration“6 klassifiziert und fällt im internationalen Vergleich besonders negativ auf, denn „nirgendwo ist dieser Unterschied zwischen Familien mit und ohne Migrationshintergrund [aber] so stark wie in Deutschland“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 172f.). Im gesamtgesellschaftlichen Kontext geht diese differenzierte Erfassung des Migrationshintergrundes mit einem Umbruch der statistischen Erfassung von Migration durch die differenziertere Erfassung der in Deutschland lebenden Personen mit einem ← 15 | 16 → Migrationshintergrund7 (Mikrozensus 2005) einher. Nach dem Migrationsbericht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BAMBF) (2010) entspricht der Anteil in Deutschland lebender Menschen mit Migrationshintergrund derzeit ca. einem Fünftel (20 %) der Gesamtbevölkerung. Bei Kindern im Grundschulalter (bis zum 11. Lebensjahr) ist sogar bei jedem dritten Schüler von einem Migrationshintergrund auszugehen.8

Seit der Veröffentlichung des Program of International Student Assessment (PISA 2000) der OECD wird hinzukommend über ‚migrationsbedingte Disparitäten‘ und ‚Schieflagen im deutschen Bildungswesen‘ (vgl. z. B. AUERNHEIMER 2003) diskutiert. Anlass dafür sind die Ergebnisse der internationalen Schülervergleichsstudien (PISA 2000, 2003; TIMSS 2000; IGLU 2004, etc.) bei denen neben dem dürftigen Abschneiden Deutschlands insgesamt besonders die ethnischen Bildungsungleichheiten9 im deutschen Bildungswesen auffielen.10 Im Zusammenhang mit der Problematik herkunftsbedingter Disparitäten (Leistungsdifferenzen aufgrund unterschiedlicher sozialer und sprachlich-kultureller Herkunft der Schüler) wird in öffentlichen Debatten fortwährend betont, dass die soziale und kulturelle Herkunft der Schüler in kaum einem anderen Land so erheblich über den Bildungserfolg entscheidet wie in Deutschland.11 Wenngleich es keinem Teilnehmerland der internationalen OECD- Schulleistungsvergleichsstudien ← 16 | 17 → seit PISA 2000 gelingt, Schülerleistungen vollkommen von der ‚sozialen Herkunft‘12 zu entkoppeln, weise das deutsche Bildungssystem den signifikant engsten Zusammenhang zwischen kulturell-sozialer Herkunft und Bildungserfolg auf (vgl. auch BAUMERT 2001).

Als wichtigster Befund der empirischen Bildungsforschung der letzten Jahrzehnte gilt daher, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund deutlich geringere Bildungserfolge13 und Bildungschancen aufweisen und insgesamt im deutschen Bildungssystem benachteiligt erscheinen, auch wenn es erhebliche Unterschiede in der Bildungsnähe zwischen den unterschiedlichen Zuwanderungsgruppen gibt. Außerdem sorgte die Evaluierung der Bildungsverläufe14 für Aufsehen, da sich im Hinblick auf die Verteilung der Schüler mit und ohne Migrationshintergrund auf das dreigliedrige deutsche Schulsystem folgende Disparität zeigte: Es besteht eine signifikante Unterrepräsentierung von Schülern mit Migrationshintergrund auf mittleren und oberen Bildungsgängen, vor allem ← 17 | 18 → auf den Gymnasien, und gleichzeitig eine Überrepräsentanz auf Haupt- und Sonderschulen (vgl. KORNMANN 2010: 71–87). Diese Bildungsverläufe spiegeln sich in den Disparitäten der Bildungsabschlüsse zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund wider. So weisen Jugendliche aus Migrantenfamilien insgesamt ein niedrigeres Bildungsniveau auf.

Ursachen- und Erklärungsansätze für die attestierten Unterschiede sind durch hohe Komplexität und niedrige Validität gekennzeichnet15. Defizitzuschreibungen reichen von Vorwürfen gegenüber den Zuwandererfamilien, über angeblich doppelt oder dreifach benachteiligte Migrantenkinder (kulturelle und sozioökonomische ‚Mängel‘), bildungspolitische Versäumnisse, bis hin zu einer Grundsatzkritik am deutschen dreigegliederten Schulsystem, z. B. durch Effekte der Segregation und Selektion, Formen institutioneller Diskriminierung etc. Die verschiedenen Erklärungsansätze lassen sich systematisieren in [a] personenbezogene Defizite der Migrantenfamilien und [b] institutionelle Defizite des Bildungssystems:

Details

Seiten
330
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653043020
ISBN (ePUB)
9783653992359
ISBN (MOBI)
9783653992342
ISBN (Hardcover)
9783631647165
DOI
10.3726/978-3-653-04302-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (März)
Schlagworte
Interkulturelle Pädagogik Waldorfpädagogik Anthroposophie Integration Waldorfschule Transkulturalität
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 330 S., 6 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Mandana Büchele (Autor:in)

Mandana Büchele studierte Allgemeine Pädagogik und Angewandte Kulturwissenschaften in Karlsruhe. Sie forschte am Institut für Allgemeine Pädagogik des Karlsruher Instituts für Technologie zu Fragen der Interkulturellen Bildung und Erziehung.

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Titel: Kultur und Erziehung in der Waldorfpädagogik
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