Modelltransfer im Schatten des Krieges
«Deutsche» Bildungs- und «Preußische» Militärreformen in Chile, 1879–1920
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Cristina Alarcón López
1. Der Kampf um die Schulpflicht und das „deutsche Argument“
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Aus der Perspektive des soziologischen Neoinstitutionalismus stellt die aus Zentraleuropa ausgehende weltweite Durchsetzung der modernen Massenschule eine wahrhaftige Erfolgsgeschichte dar. Die ab dem 19. Jahrhundert einsetzende globale Verankerung der Norm „Schulpflicht“ wird als unverzichtbares Kapitel dieser Geschichte betrachtet.1403 Sie beinhaltet eine regelrechte „soziale Revolution“, die mit dem Ausbau eines staatlichen Bildungswesens, dem Streben nach Fortschritt, dem Anspruch nach einer aktiven Beteiligung aller Bürger und nicht zuletzt mit der steigenden Hegemonie des Nationalstaats verbunden ist.1404 Wie bereits thematisiert variierte trotz ihrer globalen Expansionskraft die gesetzliche Verankerung der Schulpflicht je nach dem politischen, sozialen und kulturellen Kontext im Zeitablauf (variability in the timing).1405 Innerhalb Europas steht beispielsweise die „frühe“ gesetzliche Regelung Preußens (1794) dem „verspäteten“ Gesetz der Niederlande (1901) und Belgiens (1914) gegenüber. In Lateinamerika war es nicht anders – die mexikanische Richtlinie ley orgánica de instrucción pública von 1867 oder die von Argentinien (1884) war der chilenischen ley de educación primaria obligatoria von 1920 weit voraus. Wie konnte es innerhalb der „Neuen Welt“ trotz des gemeinsamen kolonialen Erbes und der kulturellen Verwandtschaft zu diesen starken Variationen kommen? ← 367 | 368 → Die Antwort auf diese Frage findet sich in den nationalspezifischen Kombinationen von „Hindernissen“ (obstacles), wie sie Ramirez und Boli definiert haben, die sich dem Erlass der Schulpflicht entgegenstellten.1406 Für den chilenischen Fall ist als eines dieser dominierenden Hindernisse der Konservatismus anzusehen, was im Folgenden näher betrachtet werden soll.
Was den originären Kern des konservativen Denkens im...
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