Modelltransfer im Schatten des Krieges
«Deutsche» Bildungs- und «Preußische» Militärreformen in Chile, 1879–1920
Series:
Cristina Alarcón López
3. Wehrpflicht: „Schule der Nation“ oder „Schule der Armen“?
Extract
Nach der Historikerin Ulrike Frevert verkörpert die Wehrpflicht, verstanden als staatsbürgerliche Pflicht und gleichzeitig als Bürgerrecht, eine Institution der Moderne. Sie soll als Bewusstsein einer nationalen Zugehörigkeit die Inklusion fördern sowie zur Konsolidierung eines bestimmten Territoriums unter einer zentralen Regierung beitragen.1499 Die Institution „Wehrpflicht“ entstand im aufstrebenden Trubel der Französischen Revolution – im Jahre 1789 war die obligatorische conscription, die leveé en masse in Frankreich gesetzlich verankert worden.1500 Diese damit entstandene Möglichkeit einer umfassenden und schnellen Massenrekrutierung hatte Napoleon zu einem rasanten Siegesfeldzug über ganz Europa verholfen. In Preußen hingegen war die allgemeine Wehrpflicht als Antwort auf die katastrophale Niederlage bei Jena und Auerstedt von 1806 und im Rahmen der „Preußischen Reformen“ im Jahre 1813 realisiert worden.1501
Als am 5. September 1900 das Wehrpflichtgesetz Nr. 1362 namens „Rekruten und Reservisten in Heer und Kriegsmarine“ (ley de reclutas y reemplazos) verabschiedet wurde, verwandelte sich Chile, wie bereits erwähnt, in die erste lateinamerikanische Nation, die eine derartige „Institution“ gesetzlich verankerte. Im Unterschied zu der parallel verlaufenden und äußerst langwierigen Schulpflichtdebatte, wurde das Wehrpflichtprojekt ← 391 | 392 → bereits nach fünfzehnmonatiger parlamentarischer Diskussion in Folge eines breiten politischen Konsenses eingeführt. Dieser Konsens ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass bereits 1886 der soeben von einer Militärkommission in Europa zurückgekehrte Boonen Rivera die Regierungsbeamten auf die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes aufmerksam gemacht hatte.1502 Ähnliche Empfehlungen waren anschließend auch von Seiten anderer Militärreformer in den Militärzeitschriften...
You are not authenticated to view the full text of this chapter or article.
This site requires a subscription or purchase to access the full text of books or journals.
Do you have any questions? Contact us.
Or login to access all content.