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Verfassungsrechtliche Bewertung des gesetzlichen Ausstiegs aus der Kernenergie

Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung vonVertrauensschutz bei politisch motivierten Strategiewechseln des Gesetzgebers

von Ines Wacht (Autor:in)
©2021 Dissertation 232 Seiten

Zusammenfassung

Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie ist einer der komplexesten Vorgänge in der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte. Die Arbeit unterzieht die gesetzlichen Ausstiegsentscheidungen von 2002 und 2011 einer verfassungsrechtlichen Bewertung. Diese Entscheidungen sind umso problematischer, weil der Gesetzgeber sie aufgrund einer geänderten politischen Wertung anstatt aufgrund neuer Erkenntnisse oder Gefahren für das Gemeinwohl vollzog. Die Autorin zeigt, welche Grenzen dem Gesetzgeber bei der Vornahme solcher politisch motivierter Strategiewechsel gesetzt sind. Dabei erfolgt im Lichte des Judikats des BVerfG vom 6. Dezember 2016 – 1 BvR 2821/11 – eine Neubetrachtung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes des Vertrauensschutzes.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A. Einführung in die Thematik
  • I. Einleitung
  • II. Einordnung, Abgrenzung und Gang der Untersuchung
  • III. Historischer Hintergrund
  • 1. Atomgesetz 1959 und EURATOM
  • 2. Entwicklungen von 1998 bis 2009 – Der Ausstieg
  • a) Atomkonsens I
  • b) Atomausstiegsgesetz 2002
  • 3. Entwicklungen 2009/2010 – Ausstiegsverzögerung
  • a) Atomkonsens II
  • b) 11. AtomG-Novelle
  • 4. Reaktorkatastrophe von Fukushima und die 13. AtomG-Novelle
  • 5. 16. AtomG-Novelle
  • 6. 18. AtomG-Novelle und vertragliche Einigung
  • 7. Zusammenfassung
  • B. Verfassungsvorgaben zur Energiepolitik
  • I. Wirtschaftliche Neutralität des Grundgesetzes
  • II. Öffentliche Aufgabe Energieversorgung
  • III. Ermessensspielraum des Gesetzgebers bei wirtschafts- und energiepolitischen Entscheidungen
  • IV. Zusammenfassung
  • C. Vertrauensschutz als maßgebliche Schranke des Gesetzgebers
  • I. Gesetzgebung zwischen Kontinuität und Wandel
  • II. Inhalt und Verortung des Vertrauensschutzprinzips
  • III. Entstehung schutzwürdigen Vertrauens
  • 1. Vertrauenstatbestand
  • a) Vertrauensgrundlage
  • aa) Gesetz als Vertrauensgrundlage
  • bb) Kenntnis der Vertrauensgrundlage
  • cc) Vertrauen
  • b) Vertrauensbetätigung und Vertrauensschaden
  • 2. Schutzwürdigkeit des Vertrauens
  • a) Interessenabwägung zur Herstellung praktischer Konkordanz
  • b) Verhältnismäßigkeit
  • aa) Art der betroffenen Rechtsgüter und Ausmaß des Vertrauensschadens
  • bb) Staatlich veranlasste Dispositionen
  • cc) Zeitraum berechtigten Vertrauens, Vorhersehbarkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
  • 3. Rechtsfolgen und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers
  • a) Bindung an die Vertrauensgrundlage
  • b) Übergangs- und Stichtagsregelungen
  • aa) Amortisationsdauer als Orientierungspunkt zur Berechnung der Übergangsfrist
  • bb) Ermessen des Gesetzgebers
  • cc) Vertrauensschutz für bereits amortisierte Eigentumspositionen
  • dd) Entgangener Gewinn
  • c) Entschädigung
  • IV. Vertrauensschutzdogmatik des Bundesverfassungsgerichts bei Gesetzen mit Rückwirkung
  • 1. Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung
  • a) Abweichende Terminologie des Zweiten Senats
  • b) Kritik an der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere an der Differenzierung zwischen echter und unechter Rückwirkung
  • 2. Verbot echter Rückwirkung
  • a) Vorhersehbarkeit einer Neuregelung
  • b) Beseitigung einer unklaren, verworrenen Rechtslage
  • c) Ungültige Normen
  • d) Zwingende Gründe des Allgemeinwohls
  • e) Bagatellen sowie Verfahrensrecht ohne größere Bedeutung
  • 3. Grenzen unechter Rückwirkung
  • a) Verhältnismäßigkeit
  • b) Abwägung zwischen Bestands- und Änderungsinteresse
  • c) Strengerer Prüfungsmaßstab bei Wirkung ähnlich einer echten Rückwirkung im Steuerrecht
  • V. Vertrauensschutz durch Grundrechtsschutz
  • 1. Art. 14 GG als spezielle Grundlage von Vertrauensschutz
  • a) Verhältnis des rechtstaatlichen Vertrauensschutzes zum eigentumsrechtlichen Vertrauensschutz
  • b) Vertrauensschutz als Bestandteil der Eigentumsgarantie
  • c) Reichweite des eigentumsrechtlichen Vertrauensschutzes
  • d) Zwischenergebnis
  • 2. Vertrauensschutz im Bereich der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG
  • 3. Art. 3 Abs. 1 GG als Grundlage des Vertrauensschutzes
  • a) Vertrauensschutz durch „Gleichheit in der Zeit“?
  • b) Vertrauensschutz durch „Gleichheit im Recht“
  • c) Kontinuität und Vertrauensschutz
  • aa) Kontinuität als Verfassungsprinzip nach Anna Leisner
  • bb) Kritische Würdigung
  • cc) Schlussbetrachtung
  • d) Systemgerechtigkeit (Folgerichtigkeit) und Vertrauensschutz
  • VI. Zusammenfassung
  • D. Vereinbarkeit des (beschleunigten) Atomausstiegs mit den Grundsätzen von Rückwirkung und Vertrauensschutz
  • I. Verfassungsmäßigkeit der Grundsatzentscheidung zur Beendigung der Kernenergienutzung durch das Ausstiegsgesetz 2002
  • 1. Vertrauenstatbestand
  • a) Vertrauensgrundlage
  • aa) Fördermechanismus unter dem Atomgesetz
  • bb) Unbefristete atomrechtliche Genehmigung der Anlagen
  • b) Vertrauensbetätigung und Vertrauensschaden
  • 2. Vertrauensschutz durch Rückwirkungsverbot
  • a) Vorzeitige Stilllegung bereits laufender Anlagen
  • b) Ausschluss weiterer Genehmigungen
  • c) Zwischenergebnis
  • 3. Vertrauensschutz durch Grundrechtsschutz
  • a) Vorzeitige Stilllegung bereits im Betrieb befindlicher Anlagen
  • aa) Schutz des Eigentums aus Art. 14 Abs.1 GG
  • (1) Anlageneigentum und Nutzungsbefugnis aufgrund erteilter unbefristeter Genehmigung
  • (2) Atomrechtliche Genehmigung
  • (3) Recht am „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“
  • (4) Vorzeitige Stilllegung als Inhaltsbestimmung des Eigentums
  • bb) Schutz der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG
  • b) Ausschluss weiterer Genehmigungen
  • aa) Kein Eingriff in Art. 14 GG
  • bb) Schutz der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs.1 GG
  • (1) Berufswahl- oder Berufsausübungsregelung
  • (2) Eingriffsintensität und Rechtfertigungslast
  • c) Allgemeiner Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs.1 GG
  • d) Ergebnis
  • 4. Rechtfertigung der Grundsatzentscheidung zur Beendigung der Kernenergienutzung aufgrund geänderter politischer Wertungen
  • a) Legitimität der gesetzlichen Beendigung der Kernenergienutzung
  • aa) Grundsätzliche Bemerkungen
  • (1) Keine verfassungsrechtliche Begründungs- und Sachaufklärungspflicht des Gesetzgebers
  • (2) Rationalität, Vernünftigkeit, Vertretbarkeit der Gründe
  • (3) Systemgerechtigkeit
  • bb) Gründe des Gesetzgebers für den Atomausstieg
  • (1) Risikovorsorge zum Schutz des Lebens und der natürlichen Lebensgrundlagen
  • (2) Geänderte Sicherheitsphilosophie und Risikowahrnehmung
  • cc) Gesetzgeberisches Ermessen im Bereich der Nutzung der Kernenergie
  • dd) Zwischenergebnis
  • b) Geeignetheit der Maßnahmen
  • c) Erforderlichkeit
  • d) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
  • aa) Zumutbarkeit der vorzeitigen Stilllegung bereits im Betrieb befindlicher Anlagen
  • bb) Zumutbarkeit des Ausschlusses weiterer Genehmigungen
  • (1) Kritik am Begriff der „Gemeinwohlbelange“
  • (2) Abwägung
  • e) Ergebnis
  • 5. Vertrauensschutz jenseits des Rückwirkungsverbots?
  • a) Problemkreis der „projektvorbereitenden Investitionen“
  • b) Schutz des Fortwirkungsinteresses der Energieversorger aus Art. 12 GG
  • a) Dispositionsbezogener Vertrauensschutz
  • b) Übertragbarkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu „konkret verfestigten Rechtspositionen“?
  • c) Ergebnis
  • 6. Vertrauensschutz aus Art. 14 GG aufgrund des Rückwirkungsverbots bei vorzeitiger Stilllegung bereits laufender Anlagen
  • a) Gewicht der Gemeinwohlbelange
  • b) Schutzwürdigkeit des Vertrauens
  • aa) Erheblicher Vertrauensschaden
  • bb) Reststrommengen als schonende Übergangsregelung
  • cc) Sozialer Bezug der Kernenergie
  • (1) Energieversorgung als öffentliche Aufgabe
  • (2) Kernkraft als „Hochrisikotechnologie“
  • (3) Ungelöste Endlagerproblematik
  • (4) Fazit
  • dd) Staatlich veranlasste Dispositionen
  • ee) Verlust schutzwürdigen Vertrauens durch Aufsichtsmaßnahmen nach AtG
  • ff) Politische Diskussion um die Kernenergie
  • gg) Kooperatives Handeln der Energieversorger
  • (1) Rechtsbindungswille
  • (2) Verfassungswidrigkeit des Atomkonsens
  • (3) Informales Handeln des Staats als Vertrauensgrundlage
  • (4) Fazit
  • c) Gesamtabwägung und Ergebnis
  • II. Verfassungsmäßigkeit des beschleunigten Ausstiegs durch die 13. AtomG-Novelle 2011
  • 1. Vertrauenstatbestand
  • a) Vertrauensgrundlage
  • aa) Ausstiegsgesetz vom 22. April 2002
  • bb) Laufzeitverlängerung durch die 11. AtomG-Novelle vom 8. Dezember 2010
  • cc) Einfluss des Atomkonsens I und II auf den Vertrauensgrad
  • b) Vertrauensbetätigung und Vertrauensschaden
  • aa) Verstrombarkeitsdefizit hinsichtlich der Reststrommengen 2002 durch fixe Abschalttermine sowie „Vollbremsungsschäden“
  • bb) Entzug der Zusatzstrommengen 2010
  • cc) Frustrierte Investitionen im Vertrauen auf die Reststrommengen 2002 und die Zusatzstrommengen 2011
  • 2. Vertrauensschutz durch Rückwirkungsverbot
  • 3. Vertrauensschutz durch Grundrechtsschutz
  • a) Grundrechtsrelevanz der 13. AtomG-Novelle insgesamt
  • b) Exkurs: Anerkennung der Grundrechtsfähigkeit von Vattenfall
  • c) Eigentumsfähigkeit der Reststrommengen aus dem Ausstieggesetz 2002
  • d) Eigentumsfähigkeit der Zusatzstrommengen aus der 11. AtomG-Novelle vom 8. Dezember 2010
  • e) Enger Enteignungsbegriff und Vertrauensschutz
  • aa) Güterbeschaffungsvorgang als konstitutives Element der Enteignung
  • bb) Auswirkungen des engen Enteignungsbegriffs auf den eigentumsrechtlichen Vertrauensschutz aus Art. 14 GG
  • f) Zusammenfassung
  • 4. Vereinbarkeit des Entzugs der Zusatzstrommengen mit dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz aus Art. 14 GG
  • a) Gewicht der Gemeinwohlbelange
  • b) Schutzwürdigkeit des Vertrauens
  • aa) Erheblicher Vertrauensschaden
  • bb) Atomkonsens II
  • cc) Sozialer Bezug der Kernenergie
  • dd) Staatlich veranlasste Dispositionen
  • ee) Zeitraum berechtigten Vertrauens
  • c) Gesamtabwägung und Ergebnis
  • 5. Vereinbarkeit der festen Abschalttermine mit dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz aus Art. 14 GG
  • a) Gewicht der Gemeinwohlbelange
  • b) Schutzwürdigkeit des Vertrauens
  • aa) Höhe der nicht verstrombaren Reststrommengen
  • bb) Reststrommengen als vertrauensschützende Übergangsregelung
  • cc) Kompensationscharakter der Reststrommengen
  • dd) Ungleichbehandlung von RWE und Vattenfall nach Art. 3 Abs. 1 GG
  • ee) Atomkonsens I
  • c) Gesamtabwägung und Ergebnis
  • 6. Vertrauensschutz aus Art. 14 GG für frustrierte Investitionen
  • a) Frustrierte Investitionen hinsichtlich der nicht verstrombaren Reststrommengen
  • b) Kompensation für Vollbremsungsschäden?
  • c) Frustrierte Investitionen hinsichtlich der gestrichenen Zusatzstrommengen
  • aa) Gewicht der Gemeinwohlbelange
  • bb) Schutzwürdigkeit des Vertrauens
  • (1) Erheblicher Vertrauensschaden
  • (2) Zeitraum berechtigten Vertrauens
  • (3) Systemwidriges Handeln des Gesetzgebers durch die 11. AtomG-Novelle
  • cc) Gesamtabwägung und Ergebnis
  • 7. Zusammenfassung
  • E. Ergebnisse in Thesen
  • Literaturverzeichnis

←16 | 17→

Abkürzungsverzeichnis

a.A.

andere Ansicht

a.a.O.

am angegebenen Ort

ABl.

Amtsblatt der Europäischen Union

Abs.

Absatz

aF

alte Fassung

AO

Abgabenordnung

Art.

Artikel

AtomG

Atomgesetz

Aufl.

Auflage

Bd.

Band

Beil.

Beilage

Beschl.

Beschluss

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BGH

Bundesgerichtshof

BMWi

Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie

BR

Bundesregierung

BT

Bundestag

BT-Drs.

Bundestag Drucksachen

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

d.

der/des

ders.

derselbe

ders.

derselbe

dies.

dieselbe

EStG

Einkommenssteuergesetz

EU

Europäische Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EuZW

Europäische Zeitschrift für Wirtschaft

EVU

Energieversorgungsunternehmen

f.

folgende

ff.

fortfolgende

FS

Festschrift

GG

Grundgesetz←17 | 18→

h.M.

herrschende Meinung

HStR

Handbuch des Staatrsrechts

Insb.

insbesondere

Jg.

Jahrgang

nF

neue Fassung

Nr.

Nummer

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NVwZ-RR

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, Rechtsprechungsreport

OLG

Oberlandesgericht

RdE

Recht der Energiewirtschaft

Rn.

Randnummer

S.

Seite

SachsRettDG

Sächsisches Rettungsdienstgesetz

st. Rspr.

ständige Rechtsprechung

str.

streitig

TWh

Terawattstunden

u.a.

unter anderem

Urt.

Urteil

v.

von/vom

vgl.

vergleiche

z.B.

Zum Beispiel

Ziff.

Ziffer

zw.

zwischen

←18 | 19→

A. Einführung in die Thematik

I. Einleitung

Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie zur Stromgewinnung ist einer der komplexesten Vorgänge in der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte. Neben seiner Bedeutung für eine umweltverträgliche Zukunft Deutschlands, ist die Eile, mit welcher der Gesetzgeber das Schicksal eines ganzen Wirtschaftsbereichs änderte, bislang einmalig. Dieser mit dem Schlagwort »Atomausstieg« paraphrasierte Wandel der deutschen Atompolitik vollzog sich in mehreren Phasen, die jeweils eigene verfassungsrechtliche Probleme aufwerfen. Im Kern wurde die gewerbliche Nutzung einer Technologie für die Zukunft ausgeschlossen, die seit 40 Jahren Bestand hatte. Im Jahr 2002 wurde hierzu erstmals die energiepolitische Weichenstellung1 vorgenommen. Die folgenden Jahre zeichnen sich jedoch weniger durch Konstanz als durch zum Teil abrupte Richtungswechsel aus. Bereits im Jahre 2010 wurde das bestehende Ausstiegskonzept verworfen und die Laufzeiten der Kraftwerke verlängert,2 um sie nur ein paar Monate später unter dem Eindruck der Atomkatastrophe von Fukushima erneut zurückzunehmen und einen noch ambitionierteren Ausstiegsfahrplan zu schmieden.3 Dieses ständige Steuern und Nachsteuern auf dem Gebiet der Kernenergie führte immer wieder zu neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Energieversorger. Das plötzliche Verwerfen der einst getroffenen Grundsatzentscheidung, den Wirtschaftsbereich zu fördern beziehungsweise ermöglichen zu wollen, verunsicherte die Investoren. Diese Strategiewechsel sind umso problematischer, weil der Gesetzgeber sie aufgrund einer geänderten politischen Wertung anstatt aufgrund neuer Erkenntnisse oder Gefahren für das Gemeinwohl vollzog. Das Vertrauen der Bürger in die wirtschaftliche Freiheit im Staatsgefüge und in einen technologieoffenen Staat wurden hierdurch auf eine harte Probe gestellt.

Angesichts dessen ist es das Anliegen der vorliegenden Arbeit, den gesetzlichen Ausstieg aus der Kernenergie einer verfassungsrechtlichen Bewertung zu unterziehen. Es soll geklärt werden, welche Grenzen dem Gesetzgeber bei ←19 | 20→der Vornahme politisch motivierter Strategiewechsel gesetzt sind. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die bereits angedeutete zeitliche Komponente gelegt. Aufgrund der mitunter plötzlichen und unerwarteten Kehrtwenden des Gesetzgebers ergeben sich verfassungsrechtliche Problemstellungen, die einer sorgfältigen Nachschau auch im Hinblick auf zukünftige „Ausstiege“ bedürfen. Dies gilt umso mehr als im Bereich der Umwelt- und Energiepolitik eine Tendenz des Gesetzgebers erkennbar ist, abrupte Strategiewechsel zu vollziehen. Die Gründe hierfür sind vielfältig und daher nur schwer eingrenzbar. Im Wesentlichen lässt sich diese Tendenz wohl auf die mit dem Regelungsgegenstand verbundene Zeitnot und den mangelnden gesellschaftlichen Konsens hinsichtlich der Art und Weise der Energiewende zurückführen. So sieht sich der Gesetzgeber zum einen aufgrund der Dringlichkeit des Handlungsbedarfs zum Zweck des Umwelt- und Klimaschutzes häufiger zu abrupten Eingriffen gezwungen. Insbesondere lassen eine Verkürzung zeitlicher Intervalle auf eine verdichtete Regulierungsbereitschaft schließen. So bedürfe es zur Einhaltung der völkerrechtlichen Vereinbarung aus dem Pariser Abkommen drastische Maßnahmen, um das darin selbstgesteckte Klimaschutzziel, die durch Treibhausgase verursachte Erderwärmung bis 2100 auf 1,5 Grad Celsius gegenüber vorindustrieller Zeit zu beschränken, rechtzeitig zu erreichen.4 Zum anderen bedeuten Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung für viele Wirtschaftsbereiche, dass die dort verwendeten Technologien umgestellt und Produktionsabläufe angepasst werden müssen. Das Unternehmensziel der Gewinnmaximierung sieht sich durch diesen Transformationsprozess gefährdet. Dies führt unweigerlich zu Konflikten in der Gesellschaft. Der Gesetzgeber findet sich allzu oft in einem Schlingerkurs zwischen dem gesellschaftlichen Wunsch nach Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit wieder. Mangels eines gesellschaftlichen Grundkonsenses über den Weg zur Verwirklichung einer umweltverträglichen Zukunft leidet daher insbesondere die Energiewende an politischen Strategiewechseln des Gesetzgebers.

Dabei ist bei der rechtlichen Analyse das folgende Spannungsgefüge omnipräsent: das Verhältnis zwischen dem individuellen Bestandsinteresse des Einzelnen am geltenden Recht und dem kollektiven Änderungsinteresse des Gesetzgebers. Immer dann, wenn der Gesetzgeber von seinem Recht und seiner Pflicht zur Regulierung von Wirtschaftsbereichen Gebrauch macht, stellt sich die Frage nach dem Investitionsschutz der Unternehmer, die auf die bis dahin geltende Rechtslage und deren Fortwirken in die Zukunft vertrauten. Es stehen ←20 | 21→das Interesse des Gesetzgebers an der zügigen (Neu-)Regulierung einer wirtschaftlichen Tätigkeit zu öffentlichen Gemeinwohlzwecken und den privatwirtschaftlichen Interessen der Marktteilnehmer gegenüber.

Ziel ist es, die Entwicklung der Kernenergie sowie das diese tragenden Rechts im Rückblick zu würdigen, um hieraus mögliche Lehren für das Verhältnis zwischen der gesetzgeberischen Handlungsfreiheit und den individuellen Abwehrrechten insbesondere dem Investitionsschutz des Einzelnen zu ziehen. Anlass zu dieser rückblickenden Gesamtschau bietet insbesondere das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 20165. Das Gericht entschied über den beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie durch die 13. AtomG-Novelle vom 31. Juli 2011, indem es vorerst einen Schlusspunkt unter die turbulente Geschichte der Kernenergie setzte und das Ende der Kernenergienutzung in Deutschland nun auch verfassungsrechtlich besiegelte. Gleichzeitig lieferte die Entscheidung des Gerichts der juristischen Literatur weiteren Zündstoff. Fest steht, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einen Meilenstein in Bezug auf das Verständnis verfassungsrechtlichen Eigentums- und Investitionsschutzes bildet. In Anbetracht seiner Bedeutung für das deutsche Verfassungsrecht ist es ein zentrales Anliegen dieser Arbeit, die Entscheidungsgründe aufzuarbeiten und die Folgen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Kontext gesetzgeberischer Strategiewechsel zu bewerten.

II. Einordnung, Abgrenzung und Gang der Untersuchung

Die rechtlichen Probleme, die sich im Bereich der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie in den letzten Jahren ergeben haben, sind äußerst vielfältig. Umso wichtiger ist es, den Kreis der vorliegend behandelten Probleme exakt zu bestimmen und von denjenigen, die keinen Eingang in die Arbeit finden konnten, abzugrenzen.

Kaum eine Technik löste in der Geschichte Deutschlands ähnliche Kontroversen aus wie die Kernenergie. Seit jeher teilt sich die gesellschaftliche Meinung diesbezüglich in zwei Lager: In diejenigen, die in der Kernenergie einen wirtschaftlichen Nutzen sowie technischen Fortschritt sehen und jene, die sie aufgrund ihrer Risiken für Mensch und Natur ablehnen. Angesicht dieses fortwährenden Dissens verwundert es nicht, dass die Gesetzgebung im Bereich der Kernenergie im Laufe der Jahre erhebliche Kehrtwenden je nach politischer Mehrheit erfahren hat. Die maßgeblichen politischen Ereignisse werden ←21 | 22→nachstehend erörtert (A.III.). Es wird jedoch stets versucht, die Bedeutung des Atomausstiegs für das deutsche Verfassungsrecht abseits der politischen Kontroverse zu untersuchen. Eine erneute Darstellung der Argumente der oben genannten Lager soll nicht stattfinden.

Mit dem Atomrecht verbunden, aber nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit, ist außerdem die verfassungsrechtliche Beurteilung der Kernbrennstoffsteuer mit Gesetz vom 8. Dezember 20106 sowie die weiterhin ungelösten Problematiken der Zwischen- und Endlagerung von atomarem Müll und des Rückbaus der Kernkraftanlagen.

Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der verfassungsrechtlichen Bewertung der gesetzlichen Beendigung der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie. Da das Gesetz für den Staat als vorzugswürdiges Mittel seiner Gewalt dient, befasst sich diese Arbeit ausschließlich mit den jeweiligen Gesetzesänderungen des Atomrechts. Zwar wurde der Ausstieg auch durch verwaltungsrechtliche Mittel bewirkt, allerdings bildeten das Ausstiegsgesetz aus dem Jahre 2002 und die 13. AtomG-Novelle aus dem Jahre 2011 die zentralen Instrumente zur Anordnung und Abwicklung des Atomausstiegs. Das dreimonatige Atom-Moratorium der Bundesregierung vom 16. März 2011 wird dementsprechend keiner verfassungsrechtlichen Bewertung unterzogen.

Zentraler Schwerpunkt bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Atomausstiegs ist der Investitionsschutz der Energieversorgungsunternehmen. Bevor jedoch auf diesen konkret eingegangen werden kann, bedarf es einer Darstellung und Analyse der rechtlichen Maßstäbe, an denen sich der Gesetzgeber bei der Vornahme eines solchen Strategiewechsels messen lassen muss.

Als erstes wird daher untersucht, ob das Grundgesetz dem Gesetzgeber Vorgaben hinsichtlich seiner Energiepolitik setzt (B.). Es bedarf der Klärung darüber, ob der Gesetzgeber bei seiner Entscheidung über den Atomausstieg bereits durch energiepolitische Belange mit Verfassungsrang gebunden war.

Sodann folgt unter C. eine kritische Auseinandersetzung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes. Es wird untersucht, inwieweit Änderungen des bestehenden Rechts aus Vertrauensschutzgründen Grenzen gesetzt sind und welche Maßstäbe an die Verhältnismäßigkeit eines gesetzlichen Strategiewechsels gelegt werden müssen. Die Qualität des Vertrauensschutzes wird insbesondere vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rückwirkung analysiert und auf Schutzlücken hin untersucht. ←22 | 23→Besondere Aufmerksamkeit erfährt außerdem der aus den Grundrechten abgeleitete Vertrauensschutz.

Ziel ist es, einen verfassungsrechtlichen Rahmen herauszuarbeiten, in dem sich die Gesetzgebung bei Änderung der Rechtslage de lege lata bewegen darf, bevor dieser auf den besonderen Fall des Atomausstiegs angelegt wird (D.). Die Analyse des Atomausstiegs ist dabei auf das deutsche Verfassungsrecht beschränkt und geht nicht auf Fragen des Europa- oder Völkerrechts ein. Insbesondere ist das Schiedsgerichtsverfahren von Vattenfall vor dem Washingtoner Schiedsgericht für Investitionsstreitigkeiten nicht Gegenstand dieser Arbeit. Untersucht wird, ob der Atomausstieg und die bundesverfassungsrechtliche Rechtsprechung hierzu zu mehr Rechtssicherheit für die Unternehmer führte oder dem Gesetzgeber Tür und Tor für weitere abrupte Strategiewechsel öffnete. Dies gilt umso mehr als eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Investitionsschutz der Unternehmer in den bisherigen Untersuchungen zum Atomausstieg unterblieb oder lediglich kursorischen Einschlag gefunden hat. Die Literatur zum Atomausstieg ist zwar umfangreich, allerdings gliedert sich diese weitestgehend in Auseinandersetzungen zur Grundsatzentscheidung im Jahr 20027, zum beschleunigten Atomausstieg durch die 13. AtomG-Novelle8 und zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 20169 auf. Die vorliegende Arbeit nimmt demgegenüber eine umfassende Analyse der Strategiewechsel des Gesetzgebers im Bereich der Kernenergie vor.

Eine thesenartige Darstellung der wichtigsten Ergebnisse beschließt die Arbeit (E.).

Details

Seiten
232
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631860199
ISBN (ePUB)
9783631860205
ISBN (MOBI)
9783631860212
ISBN (Paperback)
9783631855645
DOI
10.3726/b18757
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juni)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 232 S.

Biographische Angaben

Ines Wacht (Autor:in)

Ines Sabine Wacht studierte Rechtswissenschaft in Trier und Nancy (Frankreich). Nach ihrem Studium arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Umwelt- und Technikrecht (IUTR) der Universität Trier. Ihr Rechtsreferendariat absolvierte sie im Gerichtsbezirk des Oberlandesgerichts Koblenz.

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