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Ist Gott gerecht?

Theodizee und Monotheismus im Alten Testament unter besonderer Berücksichtigung der Theologie Deuterojesajas

von Hermann Vorländer (Autor:in)
©2020 Monographie 234 Seiten

Zusammenfassung

Die Entstehung des Monotheismus im Alten Testament hängt eng mit der Theodizeefrage zusammen. Ihr liegen die Zweifel an Gottes Macht, Güte und Weisheit zugrunde, die die Israeliten im babylonischen Exil umtrieben. Darauf antwortet Deuterojesaja in Gestalt einer «kollektiven Theodizee», indem er JHWH als den einzigen Gott bekennt. Durch sein universales Wirken in Schöpfung und Geschichte, die Wirksamkeit des prophetischen Wortes, sein rettendes Eingreifen durch Kyros und seine persönliche Nähe beweist JHWH seine Einzigartigkeit. In Verbindung mit dem Monotheismus prägt das Theodizeemotiv die Sammlung und Redaktion der historischen und prophetischen Bücher. Der Autor zieht Parallelen zur «individuellen Theodizee» im Hiobbuch und Psalter, sowie zur «universalen Theodizee» in der Urgeschichte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • A. Begriffsklärungen
  • 1. Theodizee
  • 2. Monotheismus, Monolatrie und Henotheismus
  • B. Die Erfahrung von Gottes Gerechtigkeit
  • 1. Gotteserfahrung und Wirklichkeitsverständnis
  • 2. JHWH und die anderen Götter im vorexilischen Israel
  • 3. JHWHs Gerechtigkeit
  • 4. Die Erfahrung von JHWHs Gerechtigkeit im Leben des Einzelnen112
  • 5. Die Erfahrung von JHWHs Gerechtigkeit im Leben des Volkes
  • C. Der Zweifel an JHWHs Gerechtigkeit und die Krise der Gotteserfahrung im Exil
  • D. Die Botschaft Deuterojesajas als kollektive Theodizee
  • 1. Entstehung und Gattungen
  • 2. Die Rechtfertigung JHWHs aus der Schöpfung und der Geschichte
  • 3. Die Rechtfertigung JHWHs aus der Wirksamkeit des prophetischen Wortes
  • 4. Die Rechtfertigung JHWHs durch die Ankündigung seines rettenden Handelns
  • 5. Die Rechtfertigung JHWHs durch die Zusage seiner schützenden und helfenden Nähe als persönlicher Gott des ganzen Volkes
  • 6. Die Rechtfertigung JHWHs durch den Aufweis seiner Verborgenheit, Freiheit und Weltüberlegenheit
  • 7. Die Rechtfertigung JHWHs in der Doxologie
  • 8. Zusammenfassung
  • E. Das Hiobbuch als individuelle Theodizee
  • 1. Die Rahmenerzählung Hi 1 - 2 und 42,7–17
  • 2. Der Dialogteil (Hi 3,1 – 42,6)
  • 3. Die Rechtfertigung JHWHs durch den Aufweis seiner Macht, Güte und Weisheit in der Schöpfung
  • 4. Die Rechtfertigung JHWHs aus der persönlichen Erfahrung seiner Nähe
  • 5. Die Rechtfertigung JHWHs durch den Aufweis seiner unbegreiflichen Freiheit und Überlegenheit sowie des unendlichen Abstandes zwischen Gott und Mensch
  • F. Das Theodizeemotiv in den Psalmen sowie bei Kohelet
  • 1. Der Zweifel an JHWHs Macht, Güte und Weisheit
  • 2. Die Bewältigung des Theodizeeproblems in den Psalmen
  • 3. Die Theodizeefrage bei Kohelet
  • G. Die Urgeschichte als universale Theodizee
  • 1. Einleitung
  • 2. Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht Gen 1,1 – 2,4a
  • 3. Die jehowistische Schöpfungs- und Sündenfallgeschichte Gen 2,4b – 3,24
  • 4. Die Sintflutgeschichte Gen 6 – 9
  • H. Das Theodizeemotiv in der Geschichtsschreibung
  • 1. Das deuteronomistische Geschichtswerk
  • 2. Chronist und Esra-Nehemia
  • I. Das Theodizeemotiv in den prophetischen Büchern
  • J. Das Theodizeemotiv in der Eschatologie und Apokalyptik
  • K. Die Entstehung des Monotheismus als Antwort auf die Theodizeefrage
  • L. Theodizee und Monotheismus im Neuen Testament
  • M. Zusammenfassung
  • N. Abschluss
  • O. Bibliographie
  • P. English Summary
  • Register
  • 1. Bibelstellen (in Auswahl)
  • 2. Namen
  • 3. Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Das Thema Monotheismus wird gegenwärtig in der alttestamentlichen Forschung und darüber hinaus vielfach diskutiert. Es hängt mit der Frage zusammen, ob und wie der Mensch Gott erfahren kann. Sie prägt auch mein eigenes theologisches Denken. Sie spiegelt sich in meiner wissenschaftlichen Arbeit wider, die überwiegend länger zurückliegt. In meiner Dissertation „Mein Gott. Die Vorstellungen vom persönlichen Gott im Alten Orient und im Alten Testament“ (erschienen 1975) habe ich den Bereich der persönlichen Frömmigkeit und Familienreligion erforscht. In einer weiteren Arbeit „Die Entstehungszeit des jehowistischen Geschichtswerkes“ (erschienen 1978) habe ich wohl als einer der ersten im deutschsprachigen Raum die Spätdatierung von Jahwist und Elohist vertreten. Dabei entdeckte ich die Zeit des Exils Israels in Babylon als für die alttestamentliche Religionsgeschichte entscheidende Periode. Deshalb verfasste ich den Aufsatz „Der Monotheismus als Antwort auf die Krise des Exils“ für den von Bernhard Lang herausgegebenen Sammelband „Der einzige Gott. Die Geburt des biblischen Monotheismus“. Ich vertrat die Auffassung, dass der Monotheismus nicht am Anfang der israelitischen Religionsgeschichte stand – wie früher vielfach behauptet – sondern an ihrem Ende. Dabei spielt die Theologie des Deuterojesajabuches (Jes 40 – 55) eine bedeutende Rolle, denn sie bildet die Schaltstelle zwischen vor- und nachexilischem JHWH-Glauben.

In diesem Zusammenhang stieß ich auf das Problem der Theodizee und fragte mich, wie Theodizee und Monotheismus zusammenhängen. Nach langjähriger Tätigkeit in Kirche und Mission habe ich im Ruhestand begonnen, dieses Thema in Anknüfung an frühere Studien zu bearbeiten. Ich wage es, mich an der Diskussion zu beteiligen, nachdem ich festgestellt habe, dass meine damals vielfach als abwegig betrachteten Thesen inzwischen von der Mehrzahl der Forscherinnen und Forscher geteilt werden. Bei der gegenwärtigen Diskussion über den Monotheismus fällt mir auf, dass die Theodizeefrage kaum eine Rolle spielt. Nur gelegentlich kommt der Begriff Theodizee in Untersuchungen zu Deuterojesaja vor, z.B. bei Wildberger1, ←9 | 10→Koch2 und Köhlmoos3. Zumeist wird der Theodizeebegriff im Alten Testament nur auf das individuelle Gottesverhältnis, z.B. bei Hiob und den Gottesknechtsliedern Deuterojesajas bezogen.

Ich unternehme im Folgenden den Versuch, den neuzeitlichen Begriff der Theodizee auf die Theologie Deuterojesajas und anderer Texte des Alten Testaments anzuwenden. Der Theodizeefrage liegt der Zweifel an Gottes Macht, Güte und Weisheit zugrunde. Diese Zweifel haben die Israeliten insbesondere in der exilisch-nachexilischen Zeit im Hinblick auf ihren Gott JHWH umgetrieben. Deuterojesaja will darauf eine Antwort geben, indem er JHWH als den einzigen Gott bekennt und in seinem Handeln rechtfertigt. Die Bewältigung der Theodizeefrage hat in Israel einen ungeheuer fruchtbaren Prozess in Bewegung gesetzt, der zu einem neuen Gottesverständnis führte. Ohne die im Exil vollzogene Wende wäre der JHWH-Glaube wahrscheinlich untergegangen. Nur durch die Verkündigung Deuterojesajas und seiner Schule in der babylonischen Diaspora konnte der JHWH-Glaube auf eine neue Basis gestellt werden und somit überleben. Das damals formulierte Bekenntnis zu JHWH als dem einzigen Gott bildete die Grundlage für das Neue Testament. Daraus entstanden die anderen großen monotheistischen Weltreligionen, nämlich Christentum und Islam. Anhand der bei Deuterojesaja gewonnenen Erkenntnisse befasse ich mich dann mit dem Hiobbuch, den Psalmen und Kohelet, den geschichtlichen und prophetischen Büchern sowie dem Neuen Testament. Das kann freilich nur überblicksweise erfolgen.4

Ich danke den Professoren Dr. Hermann Michael Niemann, Dr. Stefan Seiler und Dr. Helmut Utzschneider für wertvolle Hinweise, sowie Pfarrer Walter Dummert für seine Hilfe bei den Korrekturen. Den Herausgebern danke ich für ihre freundliche Bereitschaft, die Arbeit in der Reihe „Beiträge zur Erforschung des Alten Testaments und des Antiken Judentums“ erscheinen zu lassen.

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Ich widme dieses Buch meinen Kindern Henriette, Martin, Christian, Michael und ihren Familien, die mir insbesondere nach dem Tod meiner Frau Dorothea liebevoll zur Seite stehen.

Neuendettelsau, Pfingsten 2020
Hermann Vorländer

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1 Monotheismus, 267.

2 Monotheismus, 205f.

3 Theodizee, 216.

4 Die Texte werden gewöhnlich nach der revidierten Lutherbibel von 2017 zitiert.

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A. Begriffsklärungen

1. Theodizee

Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit wird angesichts der Schrecken unserer Zeit – insbesondere „nach Auschwitz“ – heute radikaler gestellt als früher. Sie verbindet sich mit der Frage nach der Denkbarkeit und Erfahrbarkeit der Existenz Gottes. Der Dichter Georg Büchner lässt in seinem Drama „Dantons Tod“ den amerikanischen Revolutionär Thomas Payne sagen: „Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus.“ Viele von der Kirche enttäuschte Zeitgenossen stellen mit der Gottesfrage zugleich die Theodizeefrage: Wie ist der Glaube an einen guten und allmächtigen Gott vereinbar mit der Faktizität von sinnlos scheinendem Leid und von Bösem in der Welt? „Diese Frage hat als Theodizee-Frage eine spezifisch neuzeitliche Gestalt gewonnen (Anklage Gottes bzw. des Gottesglaubens vor dem Forum der Vernunft), ist aber im Grunde Jahrtausende alt. Sie wird dort zum Problem, wo – monotheistisch und schöpfungsuniversalistisch – ein guter Gott als Schöpfer von allem, was ist, verstanden wird.“5

Der wissenschaftliche Atheismus behauptet, alle Fragen lassen sich wissenschaftlich beantworten. Die Naturwissenschaft forscht, „etsi deus non daretur“ – als ob es Gott nicht gäbe. Der religionskritische Atheismus verweist auf das Unheil im Namen Gottes. Es gibt auch einen Atheismus des Desinteresses, der letzte Fragen beiseiteschiebt. Globale Katastrophen, wie z.B. die Corona-Krise, Triumph der Gewalt, Zerstörung von Gemeinschaften, Wettrüsten etc. provozieren die Frage, wie Gott dies alles zulassen kann. „Das Leiden eines einzigen unschuldigen Kindes ist eine unbestreitbare Widerlegung der Vorstellung des allmächtigen und gütigen Gottes im Himmel.“6 Dabei geht es nicht mehr nur um die Frage, wie Gott so viel Böses zulassen kann. Es geht vielmehr um die Frage, ob es einen Gott geben kann, der so viel Böses zulässt. „Wie lässt sich angesichts der Übel in der Welt, angesichts vorzeitigen Todes, unaufhebbarer sozialer Misere, unheilbarer körperlicher und geistiger Entartungen und ungehemmter Bösartigkeiten ←13 | 14→noch von einer göttlichen Allmacht und Weisheit, von der Güte des Schöpfers und der Schöpfung, von der Einheit der Welt und von einer moralischen Weltordnung reden?“7

Bereits der griechische Philosoph Epikur (341–270 v.Chr.) schrieb: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, dann ist er nicht allmächtig; oder er kann es und will es nicht, dann ist er nicht gut; oder er kann es nicht und will es nicht, dann ist er ohnmächtig und missgünstig; oder er kann es und will es, was allein Gott angemessen wäre, aber woher kommen dann die Übel und warum beseitigt er sie nicht?“8 Der spätantike Philosoph Boethius (477 – 524 n.Chr.) fragte: Si deus est, unde malum? Et si non est, unde bonum? – Wenn es Gott gibt, woher kommt das Böse? Doch wenn es ihn nicht gibt, woher kommt das Gute?9 Auch im Alten Testament begegnen wir des Öfteren der Warum-Frage angesichts von Leid (Ps 10,11; 22,2; 42,10; Num 14,3; Hi 3,11.20–22).

Erst in der Neuzeit hat hierfür Gotthold Wilhelm Leibniz den Begriff Theodizee geprägt. Er bedeutet wörtlich „Rechtfertigung Gottes“ und ist als Kunstwort aus Röm 3,5 abgeleitet. Der Begriff erscheint zuerst 1697 bzw. 1710 als Titel seiner Schrift „Essais de theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l´homme et l´origine du mal.“10 In dieser Schrift setzt sich Leibniz mit den Einwänden gegen die Vereinbarkeit des in der Welt anzutreffenden Übels mit der Existenz eines zugleich unendlich mächtigen, weisen und gütigen Gottes auseinander. Es geht um die „Vereinbarkeit des im gegenwärtigen Weltzustand begegnenden Übels mit der Gerechtigkeit Gottes“. Leibniz behandelt die metaphysischen, moralischen und physischen Übel und beantwortet die Theodizeefrage mit dem Hinweis auf die Welt als die beste aller denkbaren Welten, die Gott in seiner Weisheit und Güte hatte schaffen können. Hintergrund ist bei Leibniz nicht eine existentielle Situation, sondern die Auseinandersetzung mit der Vernunft als Kern der Welt. Die Frage nach der Allmacht Gottes wurde insbesondere nach dem Erdbeben von Lissabon an Allerheiligen 1755 mit über 30 000 Toten gestellt.

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Nach Leibniz definierte Immanuel Kant Theodizee als „die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt. Man nennt dieses, die Sache Gottes verfechten; ob es gleich im Grund nichts mehr als die Sache unserer anmaßenden, hierbei aber ihre Schranken verkennenden Vernunft sein möchte.“11 Diese Zweckwidrigkeiten verstoßen gegen die drei Eigenschaften der höchsten Weisheit Gottes: gegen seine Heiligkeit, Güte und Gerechtigkeit. Kant kommt zu der Einsicht, dass alle Versuche der Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel und des Bösen in der Welt im Rahmen einer „doktrinalen Theodizee“ zum Scheitern verurteilt sind.12 Dieses „Vernünfteln“ hat es „vielmehr mit einer Glaubenssache zu tun“. Er lässt allerdings die „authentische Theodizee“ gelten, weil Gott durch unsere sittlich gesetzgebende praktische Vernunft selbst als der Ausleger seines durch die Schöpfung verkündigten Willens betrachtet wird. Er verweist dabei auf das Hiobbuch. Eine Rechtfertigung Gottes ist also nur im Rahmen des Glaubens und der persönlichen Überzeugung möglich. Sie gehört nicht in den Bereich „der theoretischen, sondern der praktischen, Zwecke setzenden Vernunft“.13

Georg Wilhelm Friedrich Hegel löst das Problem durch seine Antithetik und Dialektik der Geschichte. Theologie und Religion setzen voraus, dass die Gottheit die Macht besitzt, in der Welt eine sinnvolle Ordnung und Gerechtigkeit herzustellen. „Dass die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiel ihrer Geschichten, dies ist die wahrhafte Theodicee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. Nur die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, dass das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist.“14

Oelmüller15 kritisiert die Verwendung des Theodizeebegriffs in der Philosophie. „Die unmittelbare und erste Reaktion auf Erfahrungen und ←15 | 16→Widerfahrnisse des Leidens in seinen privaten und gesellschaftlich-politischen Dimensionen ist nicht Philosophieren, sondern in der Regel Schweigen, Klagen, Helfen, Mitleiden“, denn Philosophieren setzt Distanz voraus. Auch kann man den Begriff nicht wie in der Neuscholastik oder bei Max Weber als Prozess verstehen, „in dem die menschliche Vernunft beansprucht, Gott als allmächtigen und guten Schöpfer angesichts der Anklagen wegen der Übel und Leiden in der Welt rechtfertigen zu können“.16 Vielmehr kann die Philosophie lediglich „philosophisches Orientierungswissen angesichts des Leidens“ bieten.17 Auch Marquard18 kommt zu dem Ergebnis seiner Überlegungen, dass alle philosophischen Antworten der Theodizee „durchweg unzureichend“ seien und es nur auf das „Vertrauen auf Gott“ ankomme.

Das Theodizeeproblem ist zunächst ein philosophisches Thema, nämlich die Rechtfertigung Gottes vor dem Forum der menschlichen Vernunft, wurde dann aber auch in der Theologie aufgenommen. Slenczka sieht in der Theodizeefrage den „Konflikt zwischen dem Glauben an Gott als den Schöpfer und Erhalter der Welt und der Welt- und Selbsterfahrung des Menschen“.19 In Anlehnung an Kant führt er aus, dass die „doktrinale“ Theodizee das Problem eher spekulativ behandelt und somit keine eindeutige Antwort geben kann, „da zwischen einer vernünftigen Welterkenntnis des Menschen und einem objektiven Sinn der Welt eine prinzipielle und schlechterdings nicht zu vermittelnde Differenz besteht“.20 Die „authentische Theodizee“ behandelt Theodizee als ethische Frage. „Die christliche Antwort auf die Theodizeefrage ist das Evangelium, in dem bezeugt wird, dass Gott sich den Menschen und dieser Welt zugewendet hat, dass er sie bejaht hat, so wie sie ist, und dass er das harte Gesetz von Schuld und Vergeltung durchbrochen hat.“ Ebeling zieht aus seinen Überlegungen den Schluss: „Alle Dogmatik ist im Grunde Theodizee Gottes.“21

2003 veröffentlichten Antti Laato und Johannes C. de Moor22 einen umfangreichen Sammelband zur Theodizee in der Welt der Bibel. Hierin ←16 | 17→werden altorientalische, die biblischen Bücher, frühjüdische und rabbinische Schriften auf ihren Bezug zur Theodizeefrage untersucht. Erstaunlicherweise fehlt jedoch der Bezug von Monotheismus und Theodizee bei Deuterojesaja23. In der Einleitung unterscheiden die Herausgeber in Anknüpfung an R. M. Green24 sechs Typen von Theodizee in jüdisch-christlichen Kontexten:

1. Vergeltungstheologie: Der Tun-Ergehen-Zusammenhang wirkt sich auf das individuelle und kollektive Leben aus (Hiob, Weisheitspsalmen, Sprüche, Geschichtsbücher).

2. Erzieherische Theodizee: Das Leiden spielt eine erzieherische Rolle im Leben der Menschen (Hiob, Ruth, geschichtliche und prophetische Bücher, Klagelieder, Konfessionen Jeremias).

3. Eschatologische Theodizee: Die Vergeltung wird ins Eschaton verschoben (Daniel, Apokalyptik).

4. Das Geheimnis der Theodizee: Gottes Gerechtigkeit unterscheidet sich grundlegend von menschlicher Gerechtigkeit und bleibt ein Geheimnis (Dtjes, Hiob, Psalmen, Koh).

5. Gemeinschaftliche Theodizee: Das Leiden bringt Menschen näher zu Gott und vertieft die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch (Psalmen, Hiob).

6. Menschlicher Determinismus: Kohelet.

Im Folgenden wird Theodizee definiert als Rechtfertigung Gottes angesichts der Zweifel an seiner Macht, Güte und Weisheit. Unter diesen Gesichtspunkten werden Dtjes, Hiob, die Psalmen und Kohelet, die Urgeschichte, sowie die geschichtlichen und prophetischen Bücher analysiert, in wie weit in ihnen Antworten auf die Theodizeefrage gegeben werden. Dabei hängt insbesondere bei Dtjes die Beantwortung der Theodizee eng mit dem Bekenntnis zu JHWH als dem einzigen, universalen Gott zusammen. Es handelt sich also streng genommen um eine „JHWH-dizee“. Denn es geht nicht um das göttliche Handeln im Allgemeinen, sondern um das konkrete Handeln JHWHs in bestimmten Situationen im Sinne einer „authentischen Theodizee“ (Kant).

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Die Notwendigkeit für die Klärung des Verhältnisses von Gottes- und Welterfahrung entstand im Verlauf der Geschichte Israels am dringendsten durch die Katastrophe des Exils, als alles zusammenbrach, was für den JHWH-Glauben bisher konstitutiv war. Auf diesem Hintergrund entwirft Dtjes eine kollektive Theodizee. Er will aufzeigen, dass JHWH auch weiterhin mächtig, weise und gütig handelt, d.h. sich als „gerecht“ (ṣadīq) erweist. Die geschichtlichen und prophetischen Bücher bezeugen anhand der Geschichte Israels und des Wirkens der Propheten, dass JHWH die Ereignisse bewirkt und vorausgesagt hat. Die kollektive Theodizee unterscheidet sich von der individuellen Theodizee, wie sie insbesondere das Hiobbuch und die Psalmen entfalten. Dort geht um die Rechtfertigung des Handelns JHWHs angesichts der Erfahrung des Leides.

Die Urgeschichte (Gen 1 – 11) kann man als universale Theodizee verstehen. Sie rechtfertigt JHWH als den einzigen Gott, der die Welt mit souveräner Macht geschaffen hat und regiert. Er zeigt seine Güte, indem er sich dem Menschen trotz seines Fehlverhaltens gnädig zuwendet. Die heilsamen Ordnungen der Natur spiegeln seine Macht, Güte und Weisheit wider, die auch nach der durch die Sünde des Menschen verursachten Sintflut fortdauern.

Details

Seiten
234
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631832042
ISBN (ePUB)
9783631832059
ISBN (MOBI)
9783631832066
ISBN (Hardcover)
9783631828403
DOI
10.3726/b17412
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Gerechtigkeit Exil Persönlicher Gott JHWH-Verehrung Israel Leiden Monolatrie Kyros Judentum Kreuz Christi
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 234 S.

Biographische Angaben

Hermann Vorländer (Autor:in)

Hermann Vorländer studierte evangelische Theologie in Bethel, Hamburg, Heidelberg und Erlangen, sowie Assyriologie in Erlangen. Von 1972 bis 1976 lehrte er als Professor für Altes Testament an der Near East School of Theology in Beirut (Libanon). Anschließend arbeitete er als Pfarrer, Kirchenrat und Dekan in Kaufbeuren (Allgäu) und München und unterrichtete an der Münchner Hoch-schule für Religionspädagogik. Von 1992 bis 2007 leitete er das bayerische Missionswerk, heute Mission EineWelt, in Neuendettelsau.

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Titel: Ist Gott gerecht?
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