Internet – Literatur – Twitteratur
Erzählen und Lesen im Medienzeitalter. Perspektiven für Forschung und Unterricht
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Herausgeberangaben
- Ãœber das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- 1 Zur Einführung
- Internet – Literatur – Twitteratur: Erzählen und Lesen im Medienzeitalter.
- 2 Von neuen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten erzählen – Die digitale Welt und das ‚alte‘ Medium Buch
- Stefanie Sargnagels Statusmeldungen (2017) – oder Die Aushandlung einer „Schreibszene Soziale Medien“
- Drahtlose Netzwerke. Reflexionen der ‚Kultur der Digitalität‘ in Terézia Moras Roman Das Ungeheuer und ihr Potential für den Deutschunterricht
- „raufladen, was man will“ – Gebloggte Metanarrativität in Flurin Jeckers Jugendroman Lanz (2017)
- Von bösen Computern und virtuellen Welten – Inszenierungen digitaler Medien in zeitgenössischer Jugendliteratur
- 3 Medienspezifische und technische Aspekte digitaler Literatur für den Deutschunterricht
- Augmented Reality im Literaturunterricht der Primarstufe
- #edgarslife: Erzählen in Schlagwörtern – Kreatives Schreiben im Deutschunterricht der Primarstufe
- „Da war man viel schneller drin in der Geschichte“ – Das Potential von enhanced E-Books für den Deutschunterricht
- Das ästhetische Potential von Podcasts im Literaturunterricht der Oberstufe
- Erzählen im Zeitalter von YouTube – Wie Influencer durch ihr „Erzählen“ beeinflussen
- 4 Erzählen in Kürzestformen – Gestaltungsmöglichkeiten und -grenzen von Twitteratur
- Twitteratur im Seminarraum. Ein didaktisches Experiment an der Universität Turin
- Von Strom, Zeit und Raum. Digitale Kürze als literarisches Experimentierfeld
- Twitteratur unter der Lupe: Florian Meimbergs Tiny Tales (2011) und Claudia Maria Bertolas und Tito Faracis #tWeBook (2013) im Vergleich
Anne-Rose Meyer
Internet – Literatur – Twitteratur: Erzählen und Lesen im Medienzeitalter.
Perspektiven für Forschung und Unterricht
Computer, Tablets und Smartphones haben nicht nur unsere Alltagskommunikation entscheidend verändert: Die Entwicklung der Digitalkultur führte auch zu neuen Inhalten und Formen literarischen Erzählens. Beispiele hierfür sind u.a. Twitteratur, E-Mail-Romane und enhanced E-Books, in denen Texte durch Bilder, Filme, Tonbeispiele oder/und interaktive Elemente angereichert sein können. Die neuen Gestaltungs- und Veröffentlichungsmöglichkeiten verändern auch das Rezeptionsverhalten. Tausendfach online gelesen, als Retweets verbreitet, im Internet abgerufen, hat elektronisch publizierte Literatur tiefgreifende Auswirkungen auf den traditionsreichen Literaturmarkt, auf Kauf- und Lesegewohnheiten. Von diesen Entwicklungen bleiben auch die Fachdidaktik Deutsch und der Deutschunterricht nicht unberührt.
Die im vorliegenden Band versammelten Aufsätze erlauben Einblicke in aktuelle Diskussionen und eröffnen zugleich historische Perspektiven auf Wandlungen, welchen literarisches Erzählen speziell in den vergangenen zwanzig Jahren bedingt durch neue elektronische Veröffentlichungs- und Gestaltungsmöglichkeiten unterliegt. Dabei werden die verhältnismäßig neuen Formen gattungstypologisch, erzähltheoretisch, formanalytisch sowie medienhistorisch kontextualisiert und hinsichtlich ihrer Einsatzmöglichkeiten im Deutschunterricht diskutiert und erläutert – etwa hinsichtlich der Frage, wie Erzählen in elektronischen Medien mit Schülerinnen und Schülern analysiert oder zur Lese- oder Schreibförderung genutzt werden kann.1
Der erste Abschnitt fokussiert exemplarisch, wie im ‚alten‘ Medium Buch und im digitalen Raum von medialen Umbrüchen und neusten Medien erzählt wird. Ann-Marie Riesner macht in ihrem Beitrag zu „Stefanie Sargnagels Statusmeldungen (2017) oder Die Aushandlung einer ‚Schreibszene Soziale Medien‘ “ deutlich, dass und wie neue literarische Ausdrucksformen, etwa auf Facebook, ←9 | 10→wichtige Aufschlüsse über Funktionsweisen und Veränderungen traditionsreicher Kulturtechniken wie Erzählen, Lesen und Schreiben geben.
Elias Kreuzmeier analysiert in „Drahtlose Netzwerke. Reflexionen der ‚Kultur der Digitalität‘ in Terézia Moras Roman Das Ungeheuer und ihr Potential für den Deutschunterricht“ Formen postmodernen Erzählens, bei denen „Netzwerk“ sowohl als technisch-digitales Konkretum wie als leitende poetologische Metapher fungiert und literarische Inhalte und Erzählstrukturen ebenso wie Figurengestaltung und -konstellationen tiefgreifend prägt.
Julia Boog führt in „‚raufladen, was man will‘ – Gebloggte Metanarrativität in Flurin Jeckers Jugendroman Lanz (2017)“ vor, wie das Format des Blogs zum Modell eines freien und prozessorientierten Erzählens in einem traditionsreichen Genre werden kann: Blogs sind in Jeckers Roman nämlich nicht nur auf der Inhaltsebene präsent, sondern prägen Figurencharakterisierungen ebenso wie die Figurenrede.
Stefanie Jakobi zeigt in ihrem Beitrag „Von bösen Computern und virtuellen Welten: Inszenierungen digitaler Medien in zeitgenössischer Jugendliteratur“ an den Romanen Erebos (2011) von Ursula Poznanski und Unsichtbare Blicke (2012) von Frank M. Reifenberg, dass neueste Medien Literatur auch auf paratextueller Ebene prägen; denn die materielle Gestaltung des Buches – Cover und Druckbild – lassen das thematisierte Schreibinstrument, den Computer, sinnlich wahrnehmbar werden und bestimmen den Erzähl- wie den Rezeptionsprozess und die didaktische Vermittlung der Lektüren in augenfälliger Weise mit.
Während die in Kapitel eins versammelten Beiträge jeweils abschließend Hinweise darauf geben, wie die besprochenen Werke und Themen in den Deutschunterricht eingebracht werden können, sind die Beiträge in Kapitel zwei primär auf didaktische Aspekte bezogen. Julia Knopf zeigt in ihrem Beitrag Einsatzmöglichkeiten von „Augmented Reality im Literaturunterricht der Primarstufe“ auf und bezieht sich dabei sowohl auf die Rezeption wie auf die Produktion von Literatur.
Dass sich neuste Medien bereits bei jungen Schülerinnen und Schülern sinnvoll für creative writing-Übungen sowie zur Leseförderung einsetzen lassen, führen Julia Knopf, Tania Kraft und Ann-Kristin Müller an einem weiteren Beispiel, nämlich anhand von #hashtags, vor. In ihrem Beitrag „#edgarslife: Erzählen in Schlagwörtern – Kreatives Schreiben im Deutschunterricht der Primarstufe“ skizzieren sie, wie Foto-Hashtag-Kombinationen sinnvoll in Unterrichtsreihen verwendet werden können, etwa auch dazu, Schülerinnen und Schüler zu strukturiertem mündlichen Erzählen zu animieren.
Digital angereicherte Lektüren sind auch für ältere Schülerinnen und Schüler interessant. Stefanie Lange erkundet „Das Potential digitaler Literatur für den ←10 | 11→Deutschunterricht am Beispiel von enhanced E-Books“ mittels einer eigenen empirischen Studie anhand von Adaptionen eines Sherlock Holmes-Romans von Arthur Conan Doyle und der Kurzgeschichte The Black Cat von Edgar Allan Poe.
Wie vielfältig die Möglichkeiten sind, neuste Medien sinnvoll für didaktische Zwecke einzusetzen, verdeutlicht auch Julia Ogrodnik in ihrem Beitrag „Das ästhetische Potential von Podcasts im Literaturunterricht der Oberstufe“. Anhand von poetologischen und literarischen Texten Herta Müllers wird deutlich, dass Medienwechsel und -vergleiche die Sensibilität für Inhalte und Formen literarischen Erzählens und die Kreativität der Schülerinnen und Schüler fördern können.
Strukturen scheinbar spontanen mündlichen Erzählens stehen im Fokus des Beitrages von Jannick Eckle, Rebecca Jakobs, Julia Knopf und Sina-Marie Schneider. Sie beschreiben „Erzählen im Zeitalter von YouTube – Wie Influencer durch ihr ‚Erzählen‘ beeinflussen“. Dabei machen sie signifikante Unterschiede etwa zu Fernsehwerbung aus und verdeutlichen, wie intermediale Vergleiche zwischen Produktpräsentationen im Internet und im Fernsehen produktiv dazu genutzt werden können, Schülerinnen und Schüler auf Gefahren der Einflussnahme durch implizit und explizit gebrauchte Werbesprache aufmerksam zu machen.
Das dritte Kapitel ist einer spezifischen, neuen Form des Erzählens gewidmet, nämlich „Erzählen in Kürzestformen – Gestaltungsmöglichkeiten und -grenzen von Twitteratur“. Silvia Ulrich stellt darin Ergebnisse eigener empirischer Forschungen zur Fremdsprachendidaktik vor. Ihr Beitrag „Twitteratur im Seminarraum. Ein didaktisches Experiment an der Universität Turin“ ist dem Erzählen in Kürzestformen, genauer: Gestaltungsmöglichkeiten und -grenzen von Twitteratur gewidmet. Silvia Ulrich zeigt u.a., wie Goethes Werther und Joseph Roths Hotel Savoy im Rahmen von Creative Writing und übersetzt ins Twitterformat konstruktiv zum Deutschlernen an Universitäten eingesetzt werden können.
Sandra Annika Meyer beschäftigt sich in ihrem Beitrag zu „Strom, Zeit und Raum: Digitale Kürze als literarisches Experimentierfeld“ mit Literaturformen, die auf Twitter oder Facebook entstanden, und zeigt auf, welche erzählerischen Chancen und Schwierigkeiten ein streng längenbeschränktes Erzählen birgt und welche Formen seriellen Erzählens auf digitalen Plattformen Konjunktur haben.
Roberto Nicoli lotet in „Twitteratur unter der Lupe: Florian Meimbergs Tiny Tales (2011) und Claudia Maria Bertolas und Tito Faracis #tWeBook (2013) im Vergleich“ die Möglichkeiten, im Twitter-Format zu erzählen, anhand ←11 | 12→deutschsprachiger Kürzestgeschichten und eines italienischen Romans aus. Wie auch Sandra Annika Meyer gibt Roberto Nicoli Hinweise auf Einsatzmöglichkeiten von Twitteratur im Deutschunterricht.
Die Zusammenfassungen der im vorliegenden Band versammelten Beiträge lassen mit Blick auf Internet – Literatur – Twitteratur bereits ein äußerst breites Spektrum erzählerischer Formen und Themen erkennen. Dieses vollständig zu vermessen, ist eine schwer zu bewerkstelligende Aufgabe, denn die Existenz diverser Werke, die ausschließlich in elektronischer Form existieren, ist ephemer. Viele von ihnen werden gelöscht bzw. in nicht ausreichendem Maß archiviert, sind aufgrund ihrer Programmierung mit Geräten der jüngeren Generation (etwa Tablets, Smartphones) nicht mehr abrufbar oder aus dem Fokus von Suchmaschinen geraten und deswegen kaum mehr auffindbar. Es lassen sich aber gleichwohl verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit Internet – Literatur – Twitteratur an einigen Werken aus den vergangenen zwei Jahrzehnten in literarhistorischer Perspektivierung exemplarisch aufzeigen:
In Günter Grass‘ Novelle Im Krebsgang (2002) wie in Erich Loests Roman Reichsgericht (2001) sind die neusten Medien unübersehbar auf inhaltlicher Ebene präsent: Das Internet wird als Informationsquelle für geschichtliche Zusammenhänge und als Mittel politischer Kommunikation in Figurenrede und Handlung problematisiert. Auch Gefahren des Internets, etwa durch Datenmissbrauch, sind bei beiden Autoren Thema.2
Elfriede Jelineks Neid. Privatroman (2007–2008), veröffentlicht und frei abrufbar auf elfriede-jelinek.com, scheint auf den ersten Blick ein Beispiel für „Literatur im Netz“3 zu sein, also für eine Literatur, die problemlos auch hätte auf Papier veröffentlicht werden können, betrachtet man Neid allein von der Form her: Der Roman lässt sich online linear lesen, wie ein gedrucktes Buch, ←12 | 13→und bietet dem Leser keine Möglichkeit für Interaktivität.4 Gleichwohl ist der mediale Kontext für die Wahrnehmung des Textes und für die Selbstinszenierung der Autorin wesentlich: Die Autorin umgeht die Verlagsbranche und stellt ihren Text „privat“ auf der eigenen Homepage dem Leser direkt und kostenlos zur Verfügung. Dadurch vergrößert sie potentiell die Reichweite des Geschriebenen und behält auf ihrer Homepage die alleinige Kontrolle über Textinhalte und deren optische Präsentation. Diese Art der digitalen Veröffentlichung lässt sich mit der kapitalistischen Gesellschaftskritik in Verbindung bringen, welche den Roman in weiten Teilen prägt:5 Durch die kostenlose Veröffentlichung wird der Roman aus den „Verwertungszwängen“6 des Buchmarktes herausgelöst und hat nicht den Charakter einer Ware.
Zudem greift Jelinek in der Form des Romans – es handelt sich um den ausschweifenden Monolog einer weiblichen Erzählerfigur – noch auf einer anderen Ebene die Idee von „privat“ und „öffentlich“ auf: Die Figurenrede ist als assoziationsreicher Gedankenstrom gestaltet. In diesem geht es sowohl um weitreichende historische und aktuelle gesellschaftliche Missstände wie Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung als auch um Alltagstrivialitäten, Beobachtungen, vielfach auch um persönliche Gefühle und Gedanken und um eine tödlich endende Affäre. Diese inhaltlichen Bereiche werden als unmittelbar ineinander ←13 | 14→übergehend dargestellt. Der Umstand, dass Jelinek ohne erzählerische Stringenz, in einer spontan wirkenden, Mündlichkeit imitierenden Ausdrucksweise Handlung und Gedanken sprachlich vermittelt und online öffentlich macht, nähert „den Roman tatsächlich dem literarischen Blog an, das auch als Ausdrucksmedium für alltägliche Überlegungen und Befindlichkeiten dient.“7 Der Veröffentlichungskontext, das für die Veröffentlichung verwendete Medium und die damit verbundene Rezeptionssituation sind für Analyse und Interpretation des Romans Neid trotz dessen eher traditioneller Form bei Jelinek also zentral.
Rainald Goetz’ Abfall für alle. Roman eines Jahres (1999) steht für ein weiteres Phänomen, nämlich dafür, Texte zunächst im Internet und dann erst als Print-Version in einem Verlag zu veröffentlichen, aber gleichwohl Spuren der online-Version in der Print-Veröffentlichung auszuweisen und explizit zu reflektieren. Dies geschieht bei Goetz etwa inhaltlich durch Angaben zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im Netz, die in die Print-Version übernommen werden, und auf metafiktionaler Ebene durch Reflexionen zu Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit als Kategorien, die mit den schnellen Veröffentlichungsmöglichkeiten speziell im Internet verbunden sind. Diese könnten einen scheinbar authentischen Zugang zum Autor-‚Ich‘ erlauben, wie etwa an folgender Textstelle deutlich wird:
Abfall für alle. Mein tägliches Textgebet.
Ausgangspunkt ist die rein formale Vorgabe, daß die Seite sich jeden Tag aktualisieren muß. Es geht um den Kick des Internets, der für mich mehr als in Interaktivität in der Geschwindigkeit, in Gegenwartsmöglichkeit, in Aktivitätsnähe besteht. Ich las die Tagebücher von Jünger, Krausser oder Rühmkorf, und dachte immer: wenn man nur wüßte, wie es JETZT steht, was er JETZT macht, JETZT denkt.8
Kurze Passagen in Kleinschreibung oder ausschließlich in Großbuchstaben geschriebene Wörter suggerieren, ebenso wie diverse unvollständige Sätze ←14 | 15→und der Buchtitel, scheinbare Informalität und Formlosigkeit der literarischen Onlinekommunikation. Demgegenüber stehen Passagen mit stark sprachspielerisch-lyrischem Charakter.9 Das Buch weist zudem eine unübersehbare medientheoretische Ebene auf, indem der Veröffentlichungsort ‚Internet‘ und der Umstand, dass Privates täglich online gestellt und damit für theoretisch unbegrenzt viele Leser zugänglich ist, mehrfach reflektiert wird.
Andere Autoren – wie Daniel Glattauer in seinem Roman Gut gegen Nordwind (2006), dem ersten deutschsprachigen E-Mail-Roman10 – publizieren ausschließlich in gedruckter Form, imitieren und thematisieren aber die Kommunikationsbedingungen im Internet. Bei Glattauer zeigt sich dies u.a. an einer hohen Frequenz von E-Mails, durch die seine Figuren – ein Mann und eine Frau – ausschließlich unter dem Deckmantel selbstgewählter Identitäten miteinander kommunizieren. Die E-Mail-Kommunikation prägt das Druckbild, da etwa Absender, Uhrzeit und Betreff zur Leserorientierung über dem Text der jeweiligen E-Mail angegeben sind. Zudem ist eine fehlgeleitete E-Mail Ausgangspunkt der Handlung. Bis zum Schluss des Buches bleibt das Geschehen in der fiktiven virtuellen Welt situiert.
Deutlich komplexer nutzt Daniel Kehlmann in dem Kapitel „Ein Beitrag zur Debatte“ aus seinem Roman Ruhm (2009) das ‚alte‘ Medium Buch, um Strukturen, Gefahren und Möglichkeiten der neusten Medien, hier u.a. Internet-Blogs, zu verdeutlichen. Kehlmann setzt Blogs nicht nur als handlungsmotivierendes Thema und zur Charakterisierung von technikaffinen Figuren wie Nerds und Bloggern ein, sondern auch, um neue Erzähl- und Fiktionalitätsebenen zu konstruieren. Diese gehen durch die Fiktionalisierung bereits „fiktionalisierter Figuren“ und einer „(ursprünglich schon) fiktiven“ Autorgestalt11 über Metalepsen hinaus. Zudem schafft Kehlmann durch eine episodische Schreibweise eine netzartige Verknüpfung zwischen den einzelnen Geschichten, aus denen der gesamte Roman Ruhm zusammengesetzt ist.12 Diese weisen „dieselbe strukturbildende Funktion“ auf, „wie die Hyperlinks im Genre des Internetromans.“13 Die ←15 | 16→dezentrierte Erzählstruktur und die multiperspektivische Anlage des Romans erlauben es – darin „Hyperfiktion“14 ganz ähnlich –, dass der Leser die durch das Druckbild vorgegebene lineare Abfolge verlässt. Auch kann er Querverbindungen zwischen einzelnen Geschichten identifizieren. Diese haben keine durch Kausalketten oder zeitliche Abläufe zwingend vorgegebene Reihenfolge, weswegen ein Abweichen von der durch das Druckbild fixierten Kapitelanordnung möglich ist.15 Die Einbeziehung neuester Medien, wie eben Internet-Blogs, führt bei Kehlmann folglich nicht nur zu neuen Themen, über die er erzählt, sondern beeinflusst tiefgreifend auch die Art, wie erzählt wird.
Trotz dieser inhaltlichen und formalen Innovationen veröffentlichten Kehlmann und Autoren wie Grass, Loest und Glattauer ihre Bücher jedoch ausschließlich in gedruckter Version, Goetz bietet zusätzlich bzw. im Nachgang zur online abrufbaren Form auch eine Printversion an. Demgegenüber ist digitale Literatur in ihrer spezifischen Form Ergebnis einer sich immer weiter entwickelnden Informationstechnik, welche entscheidend sowohl Art, Ort, Form als auch Inhalt der jeweiligen Veröffentlichung mit prägt. Simone Winko definiert: „Unter dem Terminus ‚digitale Literatur‘ sind elektronische literarische Texte zu verstehen, die auf einem digitalen Code basieren und deren Entstehung wie auch Rezeption ohne den Computer nicht möglich ist – im Unterschied zu nachträglich digitalisierter Literatur.“16 Dies trifft von den oben angeführten ←16 | 17→Beispielen am ehesten auf Elfriede Jelineks Roman zu, den die Autorin zum individuellen Ausdruck zur Verfügung stellt, und zwar u.a. in Form eines PDFs auf ihrer Homepage. Während Jelinek mittels eines solchen Verfahrens ihre Macht als Autorin über den eigenen Text ausstellt und sich dadurch auch als Urheberin ihrer Geschichte zu erkennen gibt, ist es bei anderen Formen digitaler Literatur häufig nicht leicht zu ermitteln, welcher Autor was schreibt und was wie erzählt wird.
1 Wer schreibt? Und wer erzählt was?
Die zwischen 1996 und 2000 entstandene Fortsetzungsgeschichte Beim Bäcker ist ein sehr frühes Beispiel für kollektive Schreibprojekte, die nicht linear organisiert sind17, sondern diverse Anschlussmöglichkeiten bieten und online Interaktivität sowie eine zeitversetzte Kooperation mehrerer Schreibender ermöglichen. Statt eines Autors weist die Homepage der Initiatorin eine Liste von 23 Beiträgerinnen und Beiträgern aus.18 Die traditionsreichen Kategorien Dialogizität bzw. Multilogizität und Polyphonie, wie sie etwa Michail M. Bachtin mit Blick auf literarische Texte geprägt hat, werden durch die Vielzahl von Mitwirkenden, die über unterschiedliche Soziolekte, Ideolekte, Meinungen, Wissensbestände verfügen und diese bei der Zusammenarbeit einbringen, in Schreibprojekten wie Beim Bäcker in neuer Weise aktuell. Dies heißt nicht, dass dadurch zwangsläufig Komplexitätsgehalt und ästhetische Qualität stiegen – gerade hierfür wäre die inhaltlich und formal konventionelle Narration Beim Bäcker ein denkbar schlechtes Beispiel! – es bedeutet vielmehr, dass digital basierte Ko-Autorschaft ←17 | 18→die historische, geographische, soziale und ästhetische Kontextualisierung eines Textes sowie die Zuordnung zu einem Gesamtwerk erschweren bzw. unmöglich machen kann.19 Auch Fragen nach Formen individuellen Ausdrucks oder Stils, nach dem Urheberrecht und der evt. Vergütung, nach der Kontrolle über Zugangsmöglichkeiten zum Text, Fragen nach dem Werkbegriff und daraus resultierenden Problemen der Edition sind u.U. nicht leicht zu beantworten, wenn mehrere Autorinnen und Autoren – vielleicht sogar aus unterschiedlichen Ländern und über längere Zeiträume hinweg – involviert sind. Wie ist Autorschaft unter solchen Umständen legitimiert? Wie wird sie medial inszeniert? In welchem Verhältnis stehen Autorinnen und Autoren zum erzählten Text? Dies sind nur einige von weiteren Fragen, die aus der nur scheinbar leicht zu beantwortenden Ausgangsfrage „Wer schreibt?“ resultieren.20
Es tun sich weitere Definitions- und Bestimmungsprobleme auf. Unbemerkt und im alltäglichen Mediengeschehen leicht übersehen wird nämlich der Umstand, dass digitale Literatur stets zwei Textebenen aufweist: Die eine besteht aus dem Text, der auf dem Bildschirm erscheint, die andere aus der dem optisch sichtbaren Text zugrunde liegenden und diesen bedingenden, unsichtbar bleibenden Programmierung.21 Diese ermöglicht auch die Kombination des Textes mit visuellen Informationen (Bildern, Animation, Film…), mit Ton, Links und anderen Formen von Daten, welche den Text multimedial erweitern können. Welche Möglichkeiten und Dimensionen von Interaktivität22 und Intermedialität ein Text insgesamt birgt und inwiefern diese Text-Rezeption und Interpretation in entscheidender Weise beeinflussen, kann u.U. ohne Kenntnis der zugrunde liegenden Programmierung nur schwer erfasst werden. Sind deswegen ←18 | 19→Programmierkenntnisse heutzutage wichtig für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler?23
Details
- Seiten
- 278
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631779873
- ISBN (ePUB)
- 9783631779880
- ISBN (MOBI)
- 9783631779897
- ISBN (Hardcover)
- 9783631767511
- DOI
- 10.3726/b15191
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (März)
- Schlagworte
- enhanced E-Books Literaturunterricht Jugendliteratur Podcast Youtube Deutschdidaktik
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 273 S., 8 farb. Abb., 1 s/w Abb., 2 Tab.
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