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Professionalisierung im Lehramtsstudium Deutsch

Überzeugungen, Wissen, Defragmentierung

von Nicole Masanek (Band-Herausgeber:in) Jörg Kilian (Band-Herausgeber:in)
©2020 Konferenzband 314 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Die auch in der Deutschdidaktik oft formulierte Klage einer Fragmentierung des Wissens in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung bedarf vor dem Hintergrund des Professionalisierungsgedankens einer neuen, auch kritischen Betrachtung. Das Buch lädt dazu ein, indem es Beiträge versammelt, die die Kategorien Überzeugungen, Wissen und Defragmentierung als Facetten der professionellen Kompetenz beleuchten: Welches Wissen sollten angehende Deutschlehrerinnen und -lehrer bereits in der ersten Phase der Lehrerinnen- und Lehrerbildung erwerben? In welchem Verhältnis steht das geforderte Wissen zum tatsächlich erworbenen Wissen? Wie können universitäre Lerngelegenheiten gestaltet sein, die zwischen theoretischer Durchdringung von Fachinhalten und den Anforderungen der Praxis vermitteln? Welche Stolpersteine zeigen sich auf dem Weg hin zu einer professionell erzeugten Unterrichtsqualität im Fach Deutsch? Die Autorinnen und Autoren referieren Ansätze, Methoden und Befunde aktueller deutschdidaktischer Forschungsprojekte, die dazu ansetzen, diese Fragen zu beantworten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Professionalisierung im Lehramtsstudium des Faches Deutsch – Überzeugungen, Wissen, Defragmentierung (Nicole Masanek/Jörg Kilian)
  • I Professionsbezogene Überzeugungen
  • Überzeugungen von Lehrenden zur Bedeutung von Subjektivität in der literaturwissenschaftlichen Lehre (Anett Pollack)
  • Überzeugungen von Studierenden zu Theorie und Praxis im Studium der Fachdidaktik Deutsch (Felix Zühlsdorf)
  • Einstellungen von Lehramtsstudierenden zum Unterricht in sprachlich vielfältigen Klassen – Lehrerprofessionalisierung im Rahmen des Deutsch-als-Zweitsprache-Moduls in NRW (Ina Kaplan)
  • II Fachliches Professionswissen
  • Zur fachspezifischen Modellierung und zum Zusammenspiel von epistemischen Überzeugungen und Fachwissen – eine Annäherung auf theoretischer Ebene (Daniela Elsner)
  • Gut vorbereitet auf den Grammatikunterricht in der Schule? Eine empirische Untersuchung zum grammatischen Basiswissen angehender Deutschlehrkräfte (Anja Müller/Sabrina Geyer)
  • Entwicklung von Professionswissen im Studienverlauf – Grammatisches Fachwissen von Lehramtsstudierenden des Faches Deutsch (Jutta Dämmer)
  • Literaturgeschichtliche Schemata von Lehramtsstudierenden. Eine phänomenologische Analyse angewandter Wissensstrukturen (Nathalie Kónya-Jobs/Mark-Oliver Carl)
  • III Defragmentierung im Lehramtsstudium
  • Professionswissen zum Schreibenlehren – Über die vernetzte Messung des fachbezogenen Wissens angehender Deutschlehrkräfte (Nicole Lüke)
  • Brücken im Professionswissen von Deutsch-Lehramtsstudierenden in den Bereichen Lesen und Textverstehen – eine Annäherung mit Concept Maps (Julia Landgraf/Andreas Mühling)
  • „Gut war auch, dass ein Thema immer von beiden Seiten beleuchtet wurde“ – Zur didaktisch-methodischen Gestaltung verzahnter Lerngelegenheiten durch boundary objects (Nicole Masanek/Jenna Koenen)
  • Die kooperative Genese eines Konzepts als Form fachdidaktischer Wissensreflexion im Forschenden Lernen (Björn Stövesand)
  • Liste der Abbildungen
  • Liste der Tabellen
  • Reihenübersicht

Nicole Masanek/Jörg Kilian

Professionalisierung im Lehramtsstudium des Faches Deutsch – Überzeugungen, Wissen, Defragmentierung

Professionalisierung ist aktuell ein Schlagwort, wenn nicht gar ein Zauberwort, in der Lehrerbildung.1 Wer in früheren Zeiten eine Profession ausübte, tat dieses gleichsam als öffentliches Bekenntnis einer Leidenschaft und mit einem besonderen Interesse an der speziellen beruflichen Herausforderung, die in dem jeweiligen Handlungsfeld lag. Insbesondere Ärzte, Geistliche, Juristen gehörten zu den typischen Vertretern von Professionen. Jedes dieser beruflichen Handlungsfelder basierte auf einer akademischen Berufsbildung, die zu einem prestigeträchtigen Beruf führte, dem ein hoher Grad an beruflicher Organisation, persönlicher und sachlicher Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheit in der Sache zugrunde lag (vgl. Bonnet/Hericks 2014, S. 3f.; vgl. Terhart 2011, S. 203f.).

Der Beruf des Lehrers und der Lehrerin wurde in früheren Zeiten und fast bis in die jüngste Vergangenheit hinein nicht systematisch mit dem Begriff der Profession in Zusammenhang gebracht, und zwar ganz unabhängig davon, ob der Weg zu diesem Beruf als Lehrerbildung oder Lehrerausbildung verstanden wurde. Dass im Kontext von Lehrerbildung in jüngerer Zeit die Frage nach einer Professionalisierung gestellt wird, dürfte zum einen mit dem Wechsel vom Persönlichkeitsparadigma zum Expertenparadigma (vgl. Blömeke 2009) sowie zum anderen mit der semantischen Ausweitung dieses Terminus zusammenhängen. Denn wer zurzeit auf Professionalisierung schaut, richtet den Blick verstärkt auf im Vorfeld nicht mehr festgelegte Berufe mit ihren zentralen Kernanforderungen, d.h. auf das Typische und Besondere einzelner Berufsfelder (vgl. Bonnet/Hericks ←9 | 10→2014, S. 4). In Bezug auf den Lehrerberuf bedeutet dies, dass für die Profession des Lehrers/der Lehrerin der Unterricht als klarer Kernbereich des Handelns fokussiert werden muss:

Unabhängig davon, was Lehrer/innen sonst zu tun haben mögen (oder was immer die Gesellschaft ihnen darüber hinaus an Aufgaben auferlegen möchte), stellt der Unterricht mit seiner Hauptfunktion der Wissens- und Kompetenzvermittlung den zentralen Bereich ihres Handelns dar. […] Ein Qualitätsausfall im Bereich des Unterrichts kann nicht durch noch so qualitätsvolle Arbeit in anderen Handlungsbereichen kompensiert werden. (Bonnet/Hericks 2014, S. 4; vgl. Baumert/Kunter 2006, S. 470; vgl. Helmke 2004)

Wird der Beruf des Lehrers/der Lehrerin als Profession begriffen, dann erscheint die Professionalisierung im Sinne der Befähigung zu diesem Beruf als wesentlicher Zweck der Lehrerbildung. Die Zielperspektive in Form einer erworbenen Professionalität und Expertise lässt sich dabei zumindest aus kompetenztheoretischer Sicht deutlich bestimmen: Für eine erfolgreiche Ausübung ihrer Tätigkeit benötigen Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer fundierte fachwissenschaftliche, pädagogische und insbesondere fachdidaktische Kenntnisse, die untereinander einen hohen Grad an Vernetzung aufweisen sollten und die nicht als träges, sondern als flexibel und lebensnah einsetzbares, d.h. als intelligentes Wissen aktiv sind (vgl. Helmke 2004). Professionalisierung im Lehramtsstudium des Faches Deutsch bedeutet dann, angehende Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer bereits in der ersten Phase der Lehrerbildung bei der Entwicklung ihrer fachlichen und fachdidaktischen Kompetenzen zu unterstützen und damit einen Grundstein für den Erwerb von Expertise zu legen (vgl. Krauss/Bruckmaier 2014). Um den Weg zu diesem Ziel auszuleuchten, wird der Blick im vorliegenden Band auf drei wesentliche Facetten der Professionalisierung im Studium des Faches Deutsch für das Lehramt geworfen: Überzeugungen, Wissen und Defragmentierung.

Mit Bezug auf das Unterrichtsfach Deutsch hat die aktuelle Forschung seit Beginn des 21. Jahrhunderts zahlreiche Anstrengungen unternommen, um den Begriff der Profession (bzw. den der professionellen Kompetenz und den des Professionswissens) fachspezifisch auszuleuchten (vgl. z.B. den Überblick von Bräuer/Winkler 2012; des Weiteren Lüke 2018, Kap. 5). Einigkeit besteht bislang grundsätzlich darüber, „dass Wissen und Können – also deklaratives, prozedurales und strategisches Wissen – zentrale Komponenten der professionellen Handlungskompetenz von Lehrkräften darstellen“ (Baumert/Kunter 2006, S. 481). Allerdings wird über die Zuständigkeit der ersten Phase für die ←10 | 11→Erzeugung prozeduralen Wissens im Sinne eines praxisnahen Handlungswissens gegenwärtig erneut intensiv diskutiert (vgl. z.B. die Debatte in der Zeitschrift Didaktik Deutsch, darin u.a. Kilian 2018; Stövesand 2018). Außer Frage steht jedoch, dass die Aufgabe der universitären Phase der Lehrerbildung auf jeden Fall die Vermittlung deklarativen Wissens aller drei Wissensbereiche (fachliches, fachdidaktisches und bildungswissenschaftliches Wissen) umfasst. Dem Erwerb fachwissenschaftlichen Wissens kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da die Universität der Ort sein sollte, an dem dieser Erwerb explizit und entsprechend wissenschaftlicher Maßstäbe geschieht (vgl. nachdenkenswert: Pissarek/Schilcher 2017, S. 100). Gegenwärtig werden theoretische Rahmungen (hinsichtlich des für Studierende notwendigen fachlichen Professionswissens) dafür noch erarbeitet (vgl. jedoch Steinbrenner 2007; Bräuer 2016). Hier setzt der vorliegende Band einen Schwerpunkt.

Eine weitere Aufgabe universitärer Lehrerbildung wird darin gesehen, die Vernetzung von Wissen bei Studierenden anzubahnen, denn Kompetenzentwicklung erfolgt offensichtlich in „qualitativ sich unterscheidenden Stufen durch zunehmende Verdichtung und Verknüpfung unterschiedlicher Wissensbereiche und Wissensarten“ (Bonnet/Hericks 2014, S. 5f.; vgl. Krauss/Bruckmaier 2014). Dem könnte die fragmentierende Organisation der Lehramtsstudiengänge in pädagogische, fachdidaktische und fachwissenschaftliche Teilstudiengänge, sofern sie zunächst einmal keine Verbindung zueinander haben, entgegenstehen (vgl. Höttecke et al. 2018). Wohl auch aus diesem Grunde besitzen die Metaphern von Vernetzung und Verzahnung im Bereich der Professionsforschung eine hohe Gebrauchsfrequenz (vgl. z.B. Brouër et al. 2018). Zur De-Fragmentierung des Wissens sind in empirischen Studien zum Professionswissen im Fach Deutsch bislang indes nur wenige Zugänge entwickelt worden (vgl. Masanek 2018; Landgraf/Rutsch 2018; vgl. Masanek/Doll in Begutachtung). Auch hier setzt der Band fortführend an.

Ausgehend von der Annahme, dass professionsbezogene Überzeugungen (vgl. Reusser/Pauli 2014, S. 643–645) eine Schablone bilden, auf deren Basis eine Auswahl und Bewertung von Lehr-Lerninhalten geschieht, wird ein weiterer Schwerpunkt dieses Bandes mit Blick auf professionsbezogene Überzeugungen gesetzt. Welches Wissen vermittelt, welches gelernt oder überhaupt als relevant angesehen, welches vernetzt wird, hängt, so die These, entscheidend von den Überzeugungen universitär Lehrender sowie Studierender ab. Insgesamt möchte dieser Band somit einen Beitrag zur empirischen und theoretischen Erforschung der universitären Lehrerbildung im Fach Deutsch leisten. Zusammenfassend werden also drei Aspekte fokussiert:

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a) die professionsbezogenen Überzeugungen universitär Lehrender sowie Lehramtsstudierender,

b) die Modellierung und empirische Erfassung besonders fachlichen Professionswissens von Lernenden sowie

c) die empirische Messung defragmentierten Wissens sowie die Gestaltung von Lerngelegenheiten, die zur Defragmentierung anregen sollen.

Kapitel 1: Professionsbezogene Überzeugungen

Ausgehend von der Annahme, dass im Studium eingeübte Praktiken des Umgangs mit Literatur die Art und Weise beeinflusst, wie Studierende in ihrer späteren Berufstätigkeit den eigenen Literaturunterricht arrangieren, richtet Anett Pollack im ersten Beitrag dieses Bandes ihren Blick auf Überzeugungen literaturwissenschaftlich Lehrender zur Bedeutung von Subjektivität in literaturwissenschaftlicher Lehre. Ihre Schlussfolgerung, dass häufig der Erwerb einer Distanzhaltung als Ziel literaturwissenschaftlicher Texterschließungsprozesse angenommen wird, macht hellhörig und deutet weiteren Forschungs- und Diskussionsbedarf im Hinblick auf den fachwissenschaftlichen Teil der Lehrerbildung an.

In zwei weiteren Beiträgen werden die Überzeugungen Lehramtsstudierender fokussiert. Felix Zühlsdorf konzentriert sich auf Überzeugungen Studierender zum deutschdidaktischen Studium und stellt dabei das Verhältnis von Theorie und Praxis im Rahmen universitär-fachdidaktischer Lehrerbildung in den Mittelpunkt. Insgesamt wird deutlich, dass Studierende durchaus widersprüchliche Erwartungen an die Fachdidaktik Deutsch herantragen, sodass die hier präsentierten Ergebnisse es erlauben, bisherige Annahmen über Überzeugungen Studierender (vgl. z.B. Winkler 2015) auszuweiten und zu relativieren.

Mit Blick auf das Deutsch-als-Zweitsprache-Modul, das Lehramtsstudierende in Nordrhein-Westfalen obligatorisch studieren, fragt Ina Kaplan nach der Einstellung Lehramtsstudierender zu sprachlicher Vielfalt im Klassenzimmer. Deutlich wird zum einen die hohe Relevanz, die Studierende einem sprachsensiblen Unterricht zusprechen. Zum anderen zeigt sich eine große Unsicherheit vieler Studierender bezüglich des praktisch-konkreten Umgangs mit sprachlicher Vielfalt im Kontext von Unterricht.

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Kapitel 2: Fachliches Professionswissen

Das zweite Kapitel widmet sich der gegenwärtig kontrovers diskutierten Frage nach dem fachlichen Professionswissen Lehramtsstudierender: Über welches Fachwissen sollen Lehramtsstudierende verfügen und über welches fachliche Professionswissen verfügen Lehramtsstudierende tatsächlich? Ist der Erwerb eines schulrelevanten Fachwissens, d.h. eines Wissens, das sich vertiefend auf schulische Themen und Inhalte richtet, ausreichend? Oder lässt sich eine Enkulturation ins Fach (Winkler 2015; Winkler/Wieser 2017, S. 415) und damit ein Vertrautwerden mit fachspezifischen Denk- und Arbeitsweisen sowie Inhalten, die nicht zwangsläufig an schulische Curricula anknüpfen, als Ziel fachlicher Lehrerbildung bestimmen? Die hier durchscheinende, hochstrittige Frage danach, inwieweit die Vermittlung wissenschaftstheoretischen Wissens Gegenstand universitärer Lehrerbildung sein sollte, stellt auch Daniela Elsner in ihrem Beitrag Zur fachspezifischen Modellierung und zum Zusammenspiel von epistemischen Überzeugungen und Fachwissen. Dabei geht sie von der Annahme aus, dass es angehenden Lehrkräften häufig nicht gelingt, zwischen wissenschaftlicher Grammatikforschung und Schulgrammatik zu vermitteln, und schlägt eine theoretische Modellierung eines schulrelevanten Grammatikwissens vor, das auch wissenschaftstheoretisches Wissen einbezieht.

Anderen Modellierungen folgen Anja Müller/Sabrina Geyer und Jutta Dämmer in ihren empirisch ausgerichteten Beiträgen. Mit dem Ziel, grammatisches Basiswissen von Lehramtsstudierenden, d.h. Wissen auf einem zum Ende der Schulzeit erreichten Niveau, zu messen, legen Müller/Geyer Studierenden verschiedener Kohorten authentische Aufgaben aus Schulbüchern vor. Ähnlich wie Jutta Dämmer, deren Forschungsinteresse zusätzlich noch ein vertieftes schulgrammatisches Wissen umfasst, kommen Müller/Geyer zu dem Ergebnis, dass Wissen in verschiedenen grammatischen Bereichen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Zugleich wird der Einfluss universitärer Lerngelegenheiten auf den Erwerb und Zuwachs grammatischen Wissens in beiden Beiträgen eher gering eingeschätzt.

Für das germanistische Teilfach der Literaturwissenschaft erstellen Nathalie Konya-Jobs und Mark-Oliver Carl im letzten Beitrag dieses Kapitels ein Modell literaturgeschichtlichen Wissens für Lehramtsstudierende, das über Entstehungsdaten literarischer Texte und biographische Daten zur Autorschaft hinausgeht und sich stattdessen auf breit akzeptiertes, aber auch auf kontrovers diskutiertes ←13 | 14→Wissen zur Literaturgeschichte bezieht. Ausgehend von dieser Modellierung steht im Zentrum ihrer empirischen Untersuchung die Frage danach, auf welche literarhistorischen Wissensbestände Lehramtsstudierende des Bachelors sowie des Masters zurückgreifen, wenn sie literarische Texte lesen.

Kapitel 3: Defragmentierung im Lehramtsstudium

Ausgehend von der Hypothese, dass eine stärkere curriculare Vernetzung zu einem stärker vernetzten Wissen Lehramtsstudierender und damit zu einer solideren Basis für guten und effizienten Unterricht führt (vgl. beispielsweise KMK 2017, S. 26), beschäftigt sich das Kapitel Defragmentierung im Lehramtsstudium mit dem Thema eines zu stark fragmentierten Studiums, d.h. eines Studiums, in dem verschiedene Teilstudiengänge isoliert voneinander und ohne gegenseitige Bezugnahmen studiert werden. Der Vorwurf der Fragmentierung kann sich dabei sowohl auf das Zusammenspiel verschiedener Wissensbereiche und auf das Theorie-Praxis-Problem beziehen als auch auf das Verhältnis zwischen verschiedenen germanistischen Teildisziplinen. Mit den beiden ersten Beiträgen von Nicole Lüke und Julia Landgraf/Andreas Mühling werden Testinstrumente zur Messung vernetzten Wissens im Studium präsentiert und diskutiert. Nicole Lüke konzentriert sich auf die Messung vernetzten Wissens im Kompetenzbereich Schreiben und stellt dazu Testitems vor, die möglichst im Rahmen einer Aufgabe sowohl fachliches als auch fachdidaktisches Wissen messen. Auf diese Weise soll das von ihr entwickelte Messinstrument auch dazu beitragen, die Korrelation von fachlichem und fachdidaktischem Wissen zu erfassen. Julia Landgraf und Andreas Mühling interessiert dagegen die Vernetzung des Wissens zwischen den vier germanistischen Fachsäulen, d.h. die Vernetzung des sprach- und literaturwissenschaftlichen sowie des sprach- und literaturdidaktischen Wissens. Operationalisiert an den Beispielen Lesen und Textverstehen stellen sie eine Messung der Wissensbasis Studierender durch Concept Mapping vor.

Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden Vorschläge zur Gestaltung von Lerngelegenheiten, die den Erwerb vernetzten Wissens in einem besonderen Maße fördern wollen, gemacht. So stellen Nicole Masanek und Jenna Koenen am Beispiel von Literaturwissenschaft und -didaktik eine theoretische Modellierung verzahnter Lerngelegenheiten an der Universität durch boundary objects vor. Björn Stövesand beschäftigt sich mit den Leistungen forschenden Lernens zur Überwindung der Theorie-Praxis-Barriere und präsentiert diese Methode als Bindeglied zwischen den Erfahrungen Studierender im Praxissemester sowie ihrer theoretischen Bildung an der Universität.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Erwerb fachlichen Wissens generell und namentlich der Erwerb sprachwissenschaftlichen Wissens für Lehramtsstudierende des Faches Deutsch eine besondere Herausforderung darstellt (vgl. Landgraf/Mühling in diesem Band, vgl. Dämmer in diesem Band; vgl. Müller/Geyer in diesem Band, vgl. Winkler 2015). Eine dringliche Aufgabe besteht deshalb in der Klärung der Frage, wie der Erwerb fachlichen Wissens Lehramtsstudierender effektiver und zielführender gestaltet werden kann. Das erfordert eine intensive Diskussion über a) Kernbestandteile fachlichen und fachdidaktischen Wissens für Lehramtsstudierende (vgl. Woehlecke et al. 2017; Standke/Topalović 2019), b) das Verhältnis von Germanistik und Deutschunterricht (Abraham 2019; vgl. auch Kreft 2014) sowie c) das Angebot an und das didaktisch-methodische Arrangement von die Fragmente verzahnender bzw. vernetzender Lerngelegenheiten. In diesem Kontext wird ebenfalls kritisch zu diskutieren sein, ob und inwieweit dem Anspruch Studierender, die nur das „für die Schule auf den ersten Blick notwendig scheinende Wissen […] als sinnvoll für den eigenen Erwerb“ betrachten (Wieser 2008, S. 135), nachgegeben werden sollte. Die nähere Diskussion der hier skizzierten weiteren Forschungsfragen dürfte sich komplex und schwierig gestalten. Dies besonders deshalb, weil insgesamt deutlich wird (vgl. vor allem die Beiträge von Pollack und Zühlsdorf in diesem Band), dass der häufig gezeichnete Typus des (einen) Fachwissenschaftlers /der (einen) Fachwissenschaftlerin sowie der (homogenen) Gruppe der Studierenden die Sachlage deutlich zu stark vereinfacht, d.h. Vielfalt und Diversität auf einen Prototyp reduziert (vgl. dazu auch die ähnlich gelagerte Kritik an dem Modell professioneller Kompetenz von Härle/Busse 2018).

Weiterhin wäre zu diskutieren, ob und in welchem Ausmaß die vielfältigen Bemühungen um Defragmentierung tatsächlich zielführend sind. Eine empirische Bestätigung der Wirksamkeit des verstärkten Einsatzes verzahnter Lerngelegenheiten ist bis heute nicht erbracht, sodass unbedingt der hypothetische Charakter der Gleichung stärker verzahnte Lehre führt zu stärker vernetzter Kognition beachtet werden muss (vgl. Masanek 2018). Beachtet werden sollte auch, dass die Konturierung der einzelnen Facetten im Raum der Lehrerbildung der ersten Phase nicht per se ein negatives Vorzeichen tragen muss, sondern ebenfalls zur Bewusstmachung der Anforderungen im Berufsfeld beitragen kann. Die Fähigkeit zur De-Fragmentierung könnte dann auch und gerade im Fach Deutsch mit seinen unterschiedlichen germanistischen Teildisziplinen selbst als ein Teil der professionellen Kompetenz gedacht werden.

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Zitierte Literatur

Abraham, Ulf (2019): Die Germanistik und das Schulfach Deutsch, oder: keine einfache Beschreibung eines komplexen Verhältnisses! In: Didaktik Deutsch. Jg. 24. H. 46, S. 6–12.

Baumert, Jürgen/Kunter, Mareike (2006): Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Jg. 9. S. 469–520.

Blömeke, Sigrid (2009): Voraussetzungen bei Lehrpersonen. In: Arnold, Karl-Heinz/Wiechmann, Jürgen/Sandfuchs, Uwe (Hrsg.): Handbuch Unterricht. 2. aktualisierte Aufl. Bad Heilbrunn: Klinkhard, S. 122–126.

Bonnet, Andreas/Hericks, Uwe (2014): Professionalisierung und Deprofessionalisierung im Lehrer/innenberuf. Ansätze und Befunde aktueller empirischer Forschung. In: ZISU. Jg. 3. S. 3–8.

Bräuer, Christoph (2016): Deutschdidaktik – (k)ein Denkkollektiv ohne Denkstil? In: Ders. (Hrsg.): Denkrahmen der Deutschdidaktik. Die Identität der Disziplin in der Diskussion. Frankfurt/M.: Lang, S. 19–58.

Details

Seiten
314
Erscheinungsjahr
2020
ISBN (PDF)
9783631815106
ISBN (ePUB)
9783631815113
ISBN (MOBI)
9783631815120
ISBN (Hardcover)
9783631779682
DOI
10.3726/b16657
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Professionswissen Literaturdidaktik Vernetzung Einstellungen Deutschdidaktik Sprachdidaktik Empirie Überzeugungen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 314 S., 18 s/w Abb., 24 Tab.

Biographische Angaben

Nicole Masanek (Band-Herausgeber:in) Jörg Kilian (Band-Herausgeber:in)

Nicole Masanek arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg im Rahmen des BMBF-Projekts „ProfaLe" (Handlungsfeld 1: Kooperation zwischen Fach und Fachdidaktik). Zu ihren Arbeits- und Forschungsschwerpunkten zählen Professionalisierungsforschung, literarisches Lernen und Lesekompetenz. Jörg Kilian ist Professor für Deutsche Philologie/Didaktik der deutschen Sprache an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen u.a. in den Bereichen Wortschatzdidaktik und Didaktische Sprachkritik.

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