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Lehrpersonenhandeln im Klassenrat

Eine interaktionsanalytische Untersuchung

von Nina Gregori (Autor:in)
©2021 Dissertation 352 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Die interaktionsanalytische Studie untersucht das Handeln der Lehrperson im Klassenrat. Ziel des Klassenrats ist es, dass die Lernenden diesen möglichst selbständig – d. h. ohne Eingreifen der Lehrperson – durchführen. Dies bringt
ein Spannungsverhältnis mit sich, da die Rolle(n) der Schüler*innen und der Lehrperson neu ausgehandelt werden bzw. werden müssen. Die Studie analysiert, was die Lehrperson tut, wenn sie (dennoch) interveniert. Auf der Datengrundlage von 38 Klassenratssitzungen einer Klasse des 5. und 6. Schuljahres werden in zwei analytischen Teilschritten die kommunikativen Lehrpersonenhandlungen eruiert und Wirkungspotenziale dieser Lehrpersonenhandlungen herausgearbeitet. Die Publikation ist interdisziplinär zwischen Interaktionslinguistik und Fachdidaktik verortet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • TEIL I: Theoretischer Hintergrund
  • 2 Partizipation in der Schule
  • 2.1 Merkmale schulischer Partizipation
  • 2.2 Legitimationsstränge für Partizipation in der Schule
  • 2.3 Herausforderungen im Zusammenhang mit schulischer Partizipation
  • 2.4 Der Klassenrat als partizipatives Unterrichtsformat
  • 2.5 Zusammenfassung
  • 3 Die Lehrperson im Klassenrat
  • 3.1 Rollenzuschreibungen und -definitionen
  • 3.2 Anforderungen und Herausforderungen in Bezug auf das Handeln der Lehrperson
  • 3.3 Steuerungsverhalten bei konfligierenden Anforderungen
  • 3.4 Zusammenfassung
  • 4 Der Klassenrat unter der Perspektive der multimodalen Interaktionsanalyse
  • 4.1 Multimodale Interaktionsanalyse (MIA)
  • 4.1.1 Forschungsgeschichte und Bezüge der MIA
  • 4.1.1.1 Ethnomethodologische Konversationsanalyse
  • 4.1.1.2 Multimodale Konversationsanalyse
  • 4.1.2 Prämissen der MIA
  • 4.1.3 Zur Bedeutung des Raums in der MIA
  • 4.1.3.1 Der Interaktionsraum
  • 4.1.3.2 Interaktionsarchitektur und Sozialtopographie
  • 4.1.3.3 Das Konzept der sozial-räumlichen Positionierung
  • 4.2 Partizipation aus interaktionslinguistischer Sicht
  • 4.3 Merkmale der Klassenratsinteraktion
  • 4.3.1 Institutionelle Kommunikation
  • 4.3.2 An-/Abwesenheit im Klassenrat
  • 4.3.3 Räumliche Aspekte des Klassenrats
  • 4.3.3.1 Der Klassenraum
  • 4.3.3.2 Der Sitzkreis und die räumliche Positionierung der Lehrperson
  • 4.3.4 Mehrparteieninteraktion
  • 4.3.4.1 Turn-Taking
  • 4.3.4.2 Adressierungsverfahren & Recipient Design
  • 4.3.4.3 Gesprächssteuerung
  • 4.4 Zusammenfassung
  • TEIL II: Empirische Untersuchung
  • 5 Methodischer Forschungsprozess
  • 5.1 Daten
  • 5.1.1 Datenerhebung
  • 5.1.2 Korpus
  • 5.1.3 Interviewdaten
  • 5.1.4 Datenbearbeitung
  • 5.2 Analysevorgehen
  • 5.2.1 Gesprächsinventare
  • 5.2.2 Detaillierte Sequenzanalyse an Einzelfällen
  • 5.2.3 Fallübergreifende Analysen
  • 5.2.3.1 Kommunikative Lehrpersonenhandlungen
  • 5.2.3.2 Wirkungspotenziale von Lehrpersonenhandlungen
  • 5.2.4 Darstellung der Ergebnisse
  • 6 Die kommunikativen Handlungen der Lehrperson
  • 6.1 Fragestellungen und Ziel des Kapitels
  • 6.2 Ratifizierung
  • 6.2.1 Hörer*innensignal
  • 6.3 Verständnissicherung
  • 6.3.1 Verständnis der Schüler*innen sichern
  • 6.3.2 Verständnis der Lehrperson sichern
  • 6.4 Anweisung
  • 6.4.1 Handlungsspezifische Anweisung
  • 6.4.2 Verfahrensspezifische Anweisung
  • 6.4.3 Inhaltsspezifische Anweisung
  • 6.5 Reformulierung
  • 6.5.1 Interaktionsstrukturierung durch Reformulierung von Schüler*innenäußerungen
  • 6.5.2 Inhaltliche Bestimmung durch selbstreferentielle Reformulierung
  • 6.6 Umformulierung
  • 6.6.1 Inhaltliche Bestimmung durch Umformulierung
  • 6.6.2 Rückversicherung
  • 6.7 Präzisierungsfrage
  • 6.7.1 Erläuterung elizitieren
  • 6.7.2 Interaktionsstrukturierung
  • 6.7.3 Inhaltliche Steuerung
  • 6.8 Animierungsfrage
  • 6.8.1 Inhaltliche Steuerung
  • 6.8.2 Animierung zur verbalen Beteiligung
  • 6.9 Anzeigen von Nicht-Verfügbarkeit171
  • 6.9.1 Weitergeben der next speaker selection
  • 6.9.2 Vorzeitiger Abbruch der next speaker selection
  • 6.9.3 Abwehr der next speaker selection
  • 6.9.4 Verweigerung der Rederechtszuteilung
  • 6.10 Zusammenfassung der Ergebnisse
  • 7 Wirkungspotenziale von Lehrpersonenhandlungen
  • 7.1 Fragestellung und Ziel des Kapitels
  • 7.2 Anzeigen von Nicht-Verfügbarkeit
  • 7.2.1 Vier Zugzwänge zur Verantwortungsübernahme für die Gesprächsführung195
  • 7.2.2 Sukzessiver Zugzwang zur Interaktionsfortführung
  • 7.2.3 Zwischenfazit
  • 7.2.4 Kontrastfall
  • 7.3 Präzisierungsfragen
  • 7.3.1 Doppelter Zugzwang zur Präzisierung
  • 7.3.2 Zwischenfazit
  • 7.3.3 Kontrastfall
  • 7.4 Anweisungen
  • 7.4.1 Gestischer Zugzwang
  • 7.4.2 Doppeldeutiger verbaler Zugzwang
  • 7.4.3 Zwischenfazit
  • 7.4.4 Kontrastfall
  • 7.5 Zusammenfassung der Ergebnisse
  • TEIL III: Fazit – Reflexion – Ausblick
  • 8 Schlussbetrachtungen
  • 8.1 Zusammenfassende Thesen mit Anwendungsbezug
  • 8.2 Implikationen einer interaktionsanalytisch ausgerichteten Fachdidaktik
  • 8.3 Reflexion des Forschungsprozesses und weiterführende Fragen
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang
  • I  Transkriptionskonventionen
  • II  Verzeichnis der präsentierten Transkriptausschnitte
  • III Abkürzungsverzeichnis
  • IV Glossar klassenratsspezifischer Begriffe
  • V Interviewleitfaden
  • VI Abbildungsverzeichnis
  • VII Tabellenverzeichnis

←12 | 13→

If we are interested in understanding, and possibly changing the structure of education in society, then knowledge about organizing principles is crucial.

(Mehan 1982: 60)

1 Einleitung

Der Klassenrat ist an vielen Schulen ein etabliertes Unterrichtsformat. Er wird als Möglichkeit gesehen, partizipative Strukturen in den schulischen Alltag zu integrieren und dort zu etablieren. Im Klassenrat treffen sich alle Schüler*innen1 einer Klasse in regelmäßigen Abständen, um ihre Belange, d. h. Projekte, Ideen, Wünsche, zu besprechen, aber auch um Lösungen für die von ihnen vorgebrachten Probleme zu finden. Nicht nur die thematische Ausgestaltung obliegt den Schüler*innen, sondern sie sollen in der Regel auch die Gesprächsleitung übernehmen. Der Lehrperson ist entsprechend eine Rolle im Hintergrund zugedacht (vgl. Kap. 2.4 und 3.1). Dies widerspiegelt sich auch in der Aussage der Lehrerin, deren Klassenrat in der vorliegenden Arbeit untersucht wurde: „Mein Ziel ist, dass ich dann eigentlich zuschaue mehr und mehr. Dass ihr den Klassenrat alleine macht.“ Diese Zielsetzung hatte sie den Schüler*innen in der ersten Klassenratssitzung erläutert.

Mit dem Klassenrat wird oft eine idealisierende Perspektive verknüpft, die besonders in den zahlreichen Praxishandreichungen zum Ausdruck kommt: „Im Klassenrat haben alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse gleichberechtigt die Möglichkeit, ihre Meinung zu allen zur Diskussion stehenden Themen zu äußern, neue Themen einzubringen und über das gemeinsame Lernen und Zusammenleben mitzubestimmen“ (Burg/Neufeld/Seither 2006: o. S., ferner z. B. Giese/Schmermund/Haufe 2004, Portmann/Student 2005). Demgegenüber steht die tatsächliche Ausgestaltung der Klassenratspraxis, die von vielfältigen Faktoren und den darin agierenden Beteiligten mit beeinflusst wird. Dies führt nicht zwingend zu einer Abkehr von der obigen ideellen Zielsetzung, impliziert aber doch, dass ein Klassenrat nicht immer in dem Masse plan- und durchführbar ist, wie aus konzeptioneller Sicht beabsichtigt. Es ist deshalb grundsätzlich entscheidend, wie das Klassenratsgeschehen interaktiv organisiert werden soll, um die mit dem Partizipationspostulat einhergehenden Ideale im Klassenrat umsetzen zu können (vgl. Hauser/Haldimann 2018: 132).←13 | 14→

In Bezug auf das Thema Partizipation, welches eng mit dem Konzept des Klassenrats verknüpft ist, eröffnet sich außerdem ein weiteres Spannungsfeld: Im Rahmen des Klassenrats soll den Schüler*innen Partizipation sowohl ermöglicht werden, indem sie den ‚Raum‘ erhalten, partizipativ aktiv zu sein. Gleichzeitig besteht ein pädagogisch-didaktisches Ziel darin, durch das partizipative Handeln im Klassenrat Strukturen, Abläufe und sprachliche Kompetenzen aufzubauen (vgl. zu dieser doppelten Zielerwartung auch Rieker et al. 2016: 114). Die Rollen von Lehrperson und Schüler*innen sind in diesem Spannungsfeld nicht immer klar definiert bzw. müssen neu ausgehandelt werden. Die Tatsache, dass sich die Lehrperson im Klassenrat gemäß Konzept von ihrer konventionellen Rolle als steuernde Instanz abwenden soll, bedingt, dass sie für sich diese Rolle ‚im Hintergrund‘ auszufüllen und zu definieren vermag. Die idealisierten Vorstellungen und die vielen und widersprüchlichen Anforderungen an den Klassenrat (vgl. Kap. 2.4) lassen diesen eher als „ein pädagogisches Programm als ein didaktisches Konzept“ erscheinen, wie schon Breidenstein und Rademacher (2017: 282) für den individualisierten Unterricht festgestellt haben. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit dem didaktischen Handeln der Lehrperson unabdingbar. In bisherigen Studien wurde das Handeln der Lehrperson im Klassenrat zwar auch untersucht (z. B. Bauer 2013, de Boer 2006a, Lötscher/Sperisen 2016, vgl. Kap. 3.1), jedoch nicht mit einem Hauptfokus und vor allem nicht unter einer multimodalen interaktionsanalytischen Perspektive wie in der vorliegenden Arbeit.2 Bauer (2013: 282) hält dann auch als Desiderat fest: „[…] ein Schwerpunkt der zukünftigen Forschung [sollte] die konsequente Verfolgung der Lehrerperspektive sein, die in den zurückliegenden Studien häufig vernachlässigt wurde“.

Das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit speist sich aus dem grundlegenden Bestreben der Lehrperson, sich aus dem Geschehen im Klassenrat weitestgehend herauszuhalten und die Steuerung den Schüler*innen zu übergeben. Trotz ihres Wunsches sich im Klassenrat zurückzuhalten, greift die Lehrperson während des Klassenrats immer wieder in die Interaktion unter den Schüler*innen ein oder wird von den Schüler*innen in die Interaktion ‚hineingezogen‘. Denn Tatsache ist, dass sich die Lehrperson im Klassenrat durch ihre bloße Anwesenheit und weil sie von den Schüler*innen als „besondere“ Teilnehmende (Haldimann/Hauser/Nell-Tuor 2017) wahrgenommen wird, inoffiziell in einer ←14 | 15→steuernden und lenkenden Position befindet. Die Arbeit legt deshalb einen besonderen Fokus auf das Handeln der Lehrperson, jedoch unter Einbezug der Handlungen der Schüler*innen. Sie will einerseits in explorativer Weise die multimodal konstituierten interaktiven Strukturen, die dem Klassenrat zugrunde liegen, aufdecken. Die pädagogische Praxis soll erfasst und auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden, um Einsichten in das Lehrpersonenhandeln und ggf. damit einhergehende Bedingungen zu gewinnen. Dies, um schließlich die Frage zu adressieren, wie das Klassenratsgeschehen interaktiv organisiert werden soll, um schulische Partizipationsansprüche umsetzen zu können (vgl. Hauser/Haldimann 2018: 132). Andererseits verfolgt die Arbeit das Ziel, die erziehungswissenschaftliche und die interaktionslinguistische Perspektive auf Partizipation zu verbinden (vgl. Kap. 2 und 4.2), indem sie die interaktionale Beteiligung sequenzanalytisch untersucht und darauf aufbauend fachdidaktische Aussagen generiert. Dadurch wird das Forschungsdesiderat nach der (Weiter-)Entwicklung von Forschungsmethoden der Fachdidaktik adressiert (vgl. Frederking 2017: 195). Durch das detaillierte sequenzanalytische Vorgehen können die Handlungen aller Beteiligten rekonstruiert werden, was alternative Perspektiven auf alltägliches Handeln erlaubt und zulässt, die Eigennormativität der schulischen Praxis zu beschreiben (vgl. Bonanati 2018: 122). Der Zugang über die Mikroebene der Sequenzanalyse wird unter anderem deshalb als zielführend erachtet, weil sich pädagogische Zielsetzungen in der (verbalen) Interaktion manifestieren (vgl. Walsh 2011: 111). Ehlich (2019) zufolge „leiden“ Lehrpersonen am Widerspruch ihrer pädagogischen Intentionen und dem, „was in der Klasse dann ‚immer wieder‘ passiert“ (Ehlich 2019: 346). Insofern würde ihnen „die sprachliche Handlungsanalyse dazu verhelfen, objektive Schwierigkeiten zu verstehen und so Einsichten in Bedingungen [ihres] Handelns zu gewinnen, die für eine veränderte Praxis wesentlich sind“ (Ehlich 2019: 346). Zu solchen Einsichten in das Lehrpersonenhandeln hofft auch die vorliegende Untersuchung einen Beitrag zu leisten. Die Arbeit stellt erstens die übergeordneten Fragen, was die Lehrperson tut, wenn sie interveniert und wie ihr Handeln im Zusammenhang mit dem Raum steht. In einem zweiten Schritt werden vor dem Hintergrund der Zielsetzung der Lehrperson, sich im Klassenrat zurückzuhalten, Sequenzen mit schüler*innenseitigen Aushandlungsprozessen untersucht. Dieser zweite Analyseteil fragt nach den Wirkungspotenzialen, welche bestimmte Lehrpersonenhandlungen in Bezug auf schüler*innenseitige Aushandlungsprozesse aufweisen.3 Das Korpus basiert auf 38 Klassenratssitzungen, welche während zwei Jahren ←15 | 16→an einer Klasse des 5.–6. Schuljahres in der Deutschschweiz videografisch aufgenommen wurden. Die Ergebnisse sind von Relevanz für den Schulunterricht und für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen. In Lehrplänen und in der schulischen Praxis ist der Klassenrat zu einem weitverbreiteten Unterrichtsformat geworden, was empirisch fundierte Erkenntnisse über das Handeln der Lehrperson zu einer notwendigen Voraussetzung macht, um die (fach-)didaktischen Ziele zu erreichen, die mit dem Klassenrat verbunden werden.

Die Studie liegt den obigen Ausführungen zufolge an der Schnittstelle zwischen Fachdidaktik und linguistischer Interaktionsforschung. Dabei beziehen sich die fachdidaktischen Elemente weniger auf ein Unterrichtsfach, sondern auf die Tatsache, dass es sich beim Klassenrat um ein spezifisches Unterrichtsformat handelt, das die Schüler*innen sowie die Lehrperson gemeinsam ‚bearbeiten‘ sowie auf die Tatsache, dass es sich bei den im Rahmen des Klassenrats erworbenen Fähigkeiten um überfachliche Kompetenzen handelt, welche die Schüler*innen erwerben. Diese Kompetenzen müssen – ebenso wie die fachlichen – aufseiten der Lehrperson fachdidaktisch fundiert sein. Vogts Beobachtungen aus dem Jahr 2002 haben m. E. noch immer Gültigkeit: Er stellt fest, dass zwar zahlreiche Arbeiten vorliegen, die am Schnittpunkt von Linguistik und Didaktik angesiedelt sind, sie alle blieben im einen oder anderen Bereich jedoch defizitär.

Die empirisch fundierten linguistischen Untersuchungen der kommunikativen Verhältnisse im Klassenzimmer (z.B. SINCLAIR/COULTHARD 1977, EHLICH/REHBEIN 1986) ignorieren die didaktischen Hintergründe der deskriptiv zugänglich gemachten Unterrichtsabläufe. Die didaktisch orientierten Veröffentlichungen verbleiben eher im Konzeptionellen und nehmen den konkreten Unterricht nicht in den Blick (z.B. die Beiträge bei NEULAND ED. 1995), während die methodischen Arbeiten eher Tipps und Tricks für einen wie auch immer erfolgreichen Unterricht geben, ohne sich mit der „Wirklichkeit“ im Klassenzimmer auseinanderzusetzen (z.B. GRÜNWALDT 1984, KLIPPERT 1998). (Vogt 2002: 3)

Krummheuer und Naujok (1999: 13) machen bei Arbeiten mit einer didaktischen Ausrichtung außerdem einen „diffusen Erwartungsdruck von breiten Teilen der an Schule interessierten Öffentlichkeit“ aus, weil die Erwartung darin bestünde, „dass Unterrichtsforschung ihren Untersuchungsgegenstand nicht nur zu erforschen, sondern auch zugleich Vorschläge zur Verbesserung von Unterricht zu machen habe“ (Krummheuer/Naujok 1999: 14). Meseth (2013: 78) bezeichnet dieses Dilemma als „doppelten Erwartungshorizont“, vor dem die Erziehungswissenschaft agiere.

Sie steht vor der Herausforderung, sowohl den normativen Entscheidungsbedürfnissen der pädagogischen Praxis (Profession) als auch den Gütekriterien der Wissenschaft (Disziplin) gerecht zu werden [...]. Während sie sich aus der Perspektive der Profession ←16 | 17→mit der Erwartung konfrontiert sieht, Wissen bereit zu stellen, das pädagogisches Handeln praktisch orientieren soll, besteht aus der Perspektive ihres Disziplinbezugs die Erwartung darin, analytisch-deskriptive oder empirische Aussagen zu treffen: Aussagen, die an den Theorien und Methoden der Wahrheitsfindung gemessen werden, welche im Wissenschaftssystem gelten und die sich nicht selbstverständlich mit den normativen Erwartungen der Profession treffen müssen. (Meseth 2013: 78)

Meseth sieht dennoch gerade in der Sequenzanalyse eine Methode, anhand derer die „Normativität der pädagogischen Praxis“ untersucht werden kann, indem nämlich „zwischen dem formal-operativen Prozess der Verkettung von Kommunikationsereignissen und den Normen, an denen sich diese Verkettung durch Zuschreibung orientiert“ (Meseth 2013: 78) unterschieden wird. Insofern ist die vorliegende Arbeit bestrebt, diese Unterscheidung analytisch vorzunehmen und gleichzeitig die beiden von Meseth genannten Bereiche – die Verkettung von Kommunikationsereignissen und die maßgebenden Normen – auf sinnvolle Weise aufeinander zu beziehen und miteinander zu verknüpfen. Für die Weiterentwicklung der Fachdidaktik halte ich es für essentiell, dass dieser Diskurs und die damit verbundenen methodischen Vorgehensweisen und Reflexionen unternommen werden, um sie somit zur Diskussion zu stellen (vgl. dazu Kap. 8.2).

Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil beschreibt den theoretischen Hintergrund: In Kapitel 2 wird aufgearbeitet, wie das Thema Partizipation im Kontext der Schule verortet ist. Kapitel 3 behandelt die Rolle, Aufgaben und Herausforderungen der Lehrperson im Klassenrat. Kapitel 4 beschreibt, wie der Klassenrat aus einer multimodalen interaktionsanalytischen Perspektive betrachtet wird. Der zweite Teil der Arbeit ist der empirischen Untersuchung gewidmet: Nachdem in Kapitel 5 das methodische Vorgehen beschrieben wird, folgen in Kapitel 6 die Analyseresultate, welche die kommunikativen Lehrpersonenhandlungen ausdifferenzieren und welche den Kern der Arbeit bilden. In Kapitel 7 findet dann die Auseinandersetzung mit diesen Resultaten statt, wobei nach Wirkungspotenzialen bestimmter Lehrpersonenhandlungen in Bezug auf schüler*innenseitige Aushandlungsprozesse gefragt wird. Der dritte Teil (Kap. 8) fasst die Arbeit in Form von Thesen zusammen, reflektiert die interdisziplinäre Ausrichtung sowie das methodische Vorgehen und formuliert weiterführende Fragen.


1Unter Berücksichtigung einer geschlechtergerechten Sprache wird in dieser Arbeit die Schreibweise des Gender-Sternchens verwendet (vgl. https://www.gleichstellung.uzh.ch/de/agl_beratung/sprachleitfaden.html letzter Zugriff: 04.08.2021).

2Bei den erwähnten Studien kamen methodische Verfahren zum Einsatz, welche Rollen und Aufgaben der Lehrperson anhand von Interviews, Gruppendiskussionen und Videoanalysen rekonstruieren.

3Die Fragestellungen sind detailliert in den Kapiteln 6.1 und 7.1 aufgeführt.

2 Partizipation in der Schule

Der Klassenrat – der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit – stellt eine Form schulischer Partizipation dar. Um das Format Klassenrat im Kontext der Schule zu verorten, wird im Folgenden zuerst allgemein auf den Partizipationsbegriff eingegangen (Kap. 2.1). Es wird erörtert, weshalb Partizipation im Schulkontext überhaupt von Belang ist (Kap. 2.2) und auf welche Herausforderungen das Konzept im Kontext der Schule stößt (Kap. 2.3). Abschließend wird der Klassenrat als eine Form schulischer Partizipation beschrieben (Kap. 2.4).

In einer Untersuchung mit interaktionslinguistischem sowie pädagogischem Fokus – wie die vorliegende – ist in Bezug auf den Partizipationsbegriff eine wichtige Unterscheidung vorzunehmen. Partizipation, wie sie in diesem Kapitel beschrieben wird, dient der konzeptionellen Verortung des Untersuchungsgegenstands Klassenrat und ist normativ besetzt. Dieser „konzeptionell-normativen“ Perspektive (vgl. Bonanati 2018: 51) steht das interaktionslinguistische Verständnis von Partizipation gegenüber, demnach sich Partizipation auf Handlungen bezieht, die innerhalb gemeinsam hervorgebrachter Interaktionen ausgeführt werden und die Formen von Beteiligung anzeigen (Nell-Tuor/Haldimann 2019: 76, vgl. Kap. 4.2). Dieses zweite, konzeptionell-deskriptive Verständnis dient im Rahmen der Interaktionsanalysen dem mikroanalytischen Zugriff auf die Daten, der ermöglicht, Partizipation im konzeptionell-normativen Verständnis empirisch zu untersuchen.

Details

Seiten
352
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783034343916
ISBN (ePUB)
9783034343923
ISBN (Paperback)
9783034343039
DOI
10.3726/b18898
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Oktober)
Schlagworte
Partizipation Fachdidaktik Interaktionsanalyse Lehrpersonen-professionalisierung Angewandte Gesprächsforschung Empirische Unterrichtsforschung
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 352 S., 86 farb. Abb., 2 s/w Abb., 4 Tab.

Biographische Angaben

Nina Gregori (Autor:in)

Nina Gregori (geb. Haldimann) hat in Basel und Zürich Linguistik und Fachdidaktik studiert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Interaktionsanalyse, Unterrichtsforschung und -entwicklung, Professionalisierung, Schulsprachdidaktik und Partizipation. Sie ist Dozentin am Zentrum Mündlichkeit der Pädagogischen Hochschule Zug.

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Titel: Lehrpersonenhandeln im Klassenrat
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