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Die sprechbare Schrift – Zur Sprachlichkeit des literarischen Lernens im Deutschunterricht

von Eduard Haueis (Autor:in) Hans Lösener (Autor:in)
©2022 Monographie 284 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Die kulturelle und sprachliche Heterogenität unserer Gesellschaft erfordert ein Umdenken in der Deutschdidaktik. Es geht um die Frage, wie der Deutschunterricht allen Lernenden sprachliche Bildung ermöglicht. Die Antwort lautet: indem er sich als Sprachunterricht für alle versteht. Welche didaktischen Transformationen erforderlich sind, um diesem Anspruch zu genügen, und mit welchen Hindernissen dabei zu rechnen ist, klärt dieses Buch in einer zweiteiligen Untersuchung. Im ersten Teil geht es um die Bedingungen, unter denen literarische Textualität für das sprachliche Lernen genutzt werden kann, im zweiten Teil um eine didaktische Modellierung für das Sprachlernen beim Umgang mit literarischen Texten und im Deutschunterricht insgesamt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Teil I: Die Sprachlichkeit der Literatur als Problem des Deutschunterrichts (Eduard Haueis)
  • 1 Einführung in die Thematik
  • 1.1 Was ist (gutes) Deutsch?
  • 1.2 Zwischen „Linguizismus“ und einem „republikanischen Projekt“: der prekäre Status der deutschen Sprache
  • 1.3 Unterricht zur Teilhabe an der Schriftlichkeit der Landessprache
  • 1.4 Was bedeutet „Literatur“ im Deutschunterricht?
  • 1.5 Die Sprachlichkeit der Literatur jenseits von Gattungsnormen
  • 2 Die sprechbare Schrift: ein genetischer Blick auf Literatur
  • 2.1 Soziokulturelle Aspekte
  • 2.2 Schriftgesteuerter Ausbau von Sprachen
  • 2.3 Die Soziogenese von „Literatur“
  • 2.4 Probleme mit der Schriftlichkeit von Literatur
  • 2.5 Das Hervorbringen einer „Natur zweiten Grades“
  • 2.6 Das „Mit-Erleben“ von erzählender Literatur
  • 3 Ontogenetisch fundierte Potenziale des Ausbaus
  • 3.1 Implizite Anbahnungen eines literaten Sprachgebrauchs
  • 3.2 Sprachspiele als poetische Grammatiken
  • 3.3 Lesen als implizite Aneignung eines literaten Sprachgebrauchs
  • 4 Die Modellierung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit unter Berücksichtigung kultureller Unterschiede
  • 4.1 Schriftlichkeit und Mündlichkeit
  • 4.1.1 Schriftlichkeit und Mündlichkeit in unterschiedlichen theoretischen Modellierungen
  • 4.1.2 Die Verschriftung verschiedener Volkssprachen mit dem lateinischen Alphabet
  • 4.2 Textualität in oralen, halbliteralen und literalen Kulturen
  • 4.2.1 Der Übergang vom alltagsweltlichen Sprechen in den Diskursraum eines Textes
  • 4.2.2 Sprachliche Maßnahmen gegen die Flüchtigkeit des Sprechens und ihr Funktionswandel durch Schriftlichkeit
  • 4.2.3 Referentielle und kohäsive Merkmale der Textualität
  • 4.3 Von der Diversität der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit in der Landessprache – und wieder zurück
  • 4.3.1 Mündliche Nähe durch schriftliche Ferne: Dialekt und Standard
  • 4.3.2 Ethnolekt in literarischer Gestaltung
  • 4.3.3 Ein genetischer Blick auf das Erscheinen von „Fehlern“
  • 5 Humboldts Sprachtheorie und das Konstrukt einer Bildungssprache
  • 5.1 Konträre Perspektiven auf Humboldts Sprachtheorie
  • 5.2 Die defizitäre Konstruktion von „Bildungssprache“
  • Teil II: Vier Perspektiven des sprachlichen Lernens (Hans Lösener)
  • 6 Auf der Suche nach einer Theorie des Deutschunterrichts
  • 6.1 Wieviel Humboldt braucht die Deutschdidaktik?
  • 6.2 Die Sprachvergessenheit der Literaturdidaktik
  • 6.3 Aporien einer kategorialen Begründung des Deutschunterrichts
  • 7 Vier Perspektiven des sprachlichen Lernens
  • 7.1 Sprache in der Schule: Das Erlernen einer sprechbaren Schrift
  • 7.2 Die erste Dynamik: Normierung durch Schriftlichkeit
  • 7.2.1 Sprachrichtigkeit – die grammatische Perspektive
  • 7.2.2 Sprachangemessenheit – die rhetorische Perspektive
  • 7.3 Die zweite Dynamik: Pluralisierung in der Schriftlichkeit
  • 7.3.1 Sprachmündigkeit – die ethische Perspektive
  • 7.3.2 Sprachwirksamkeit – die poetische Perspektive
  • 7.4 Gefahren der didaktischen Monoperspektivierung
  • 8 Sprachmündig sein, um es zu werden. Die ethische Seite des sprachlichen Lernens
  • 8.1 Die fragend-entwickelnde Entmündigung
  • 8.2 Unmündigkeit in Unterrichtssituationen
  • 8.3 Mündigkeit und Kompetenzerwerb
  • 8.4 Der Anspruch der Bildungspläne
  • 8.5 Ethische Selbstbestimmung durch Sprachlichkeit
  • 8.6 Sprachmündig sein, um es zu werden
  • 9 Sprachwirksamkeit oder die Performativität des Poetischen
  • 9.1 Diesseits und jenseits der Sprachbetrachtung
  • 9.2 Der Solipsismus des literarischen Verstehens
  • 9.3 Das Sprechen in der Schrift
  • 9.3.1 Sprachwirksamkeit im Text – drei Beispielanalysen
  • 9.3.2 Beispiel 1: Die rhetorische Sprachwirksamkeit in der Werbung
  • 9.4 Das Gedicht als Tätigkeit
  • 9.4.1 Beispiel 2: Ein Gedicht von Sarah Kirsch
  • 9.4.2 Beispiel 3: Eine Erzählung von Franz Kafka
  • 9.5 Eine poetische Perspektive für das sprachliche Lernen
  • 9.5.1 Die Transformation des Sprechens und Hörens
  • 9.5.2 Die Transformation des lauten und leisen Lesens
  • 9.5.3 Transformationen des Sprechens und Schreibens über Literatur
  • Literatur
  • Reihenübersicht

Vorwort

Der Literaturunterricht muss Sprachunterricht werden. Von dem, was mit diesem Satz gesagt wird und was nicht, handelt das vorliegende Buch. Es handelt davon, wie er zu einer Selbstverständlichkeit werden kann und warum er nach wie vor alles andere als selbstverständlich ist. Es fragt nach den Gründen, die verhindern, dass der gegenwärtige Deutschunterricht insgesamt als Sprachunterricht verstanden wird, und untersucht die Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit er dazu werden kann. Sie sind nicht nur bildungspolitischer oder institutioneller Natur, sondern betreffen den Kernbereich der didaktischen Theoriebildung. Die Didaktik und nur sie kann klären, was Gegenstand eines Sprachunterrichts in der Landesprache ist. Dass man immer schon zu wissen meint, was die Begriffe „Sprache“ und „Literatur“ hier und in anderen Zusammenhängen bedeuten, ist ein Grund dafür, dass der Deutschunterricht häufig weder dem einen noch dem anderen gerecht wird. Von den Folgen, die sich daraus ergeben, berichten die internationalen Schulleistungsstudien alle paar Jahre in einer längst zur Gewohnheit gewordenen Regelmäßigkeit. An dieser Situation wird sich nur etwas ändern, wenn die Didaktik die Modellierung ihrer Gegenstände als ein Problem erkennt, das weder durch den Import wissenschaftlicher Diskurse aus anderen Fächern noch durch empirische Studien zu lösen ist. Denn tatsächlich ist nichts an dem Satz „Der Literaturunterricht muss Sprachunterricht werden“ einfach oder selbsterklärend. Und er wird es auch nicht durch die Lektüre dieses Buches, das nicht darauf abzielt, zu vereinfachen, was nicht einfach zu haben ist, sondern Zusammenhänge aufzuzeigen, die in den Blick kommen müssen, wenn der Deutschunterricht zu einem Bildungsangebot für alle Schülerinnen und Schüler in einer mehrsprachigen Gesellschaft werden soll. Von den Lesenden erfordert dies die Bereitschaft zur Infragestellung vermeintlich transparenter Begriffe (z. B. dem der „Bildungssprache“) und liebgewonnener institutionalisierter Überzeugungen. Zu Letzteren gehört die ebenso bequeme wie in sich widersprüchliche Trennung von literarischem und sprachlichem Lernen. Sie ist komfortabel, weil sie einer im Übrigen recht jungen akademischen Spezialisierung entspricht, die aus fachwissenschaftlicher Sicht greifbare Vorteile bei der Verteilung von Ressourcen und der Besetzung von Stellen im didaktischen Feld mit sich bringt. Dafür wird auf fachdidaktischer Seite gern die grotesk anmutende Widersinnigkeit in Kauf genommen, „Literatur“ als ein Arbeits- und Lernfeld zu definieren, das im Gegensatz und in klarer Abgrenzung zur didaktischen Beschäftigung ←9 | 10→mit „Sprache“ steht – und umgekehrt. Das bedeutet freilich nicht, dass wissenschaftliche Spezialisierungen nicht sinnvoll und notwendig wären, aber ihre Institutionalisierung begründet noch keine theoretische Position. Innerhalb der Fachdidaktik hat die Aufteilung in die Arbeitsbereiche „Literatur“ und „Sprache“ dazu geführt, dass die Frage der Sprachlichkeit des literarischen Lernens zum blinden Fleck der didaktischen Modellierung werden konnte. Die Sprachdidaktik hat sich für sie nicht zuständig gefühlt und die Literaturdidaktik hat ihre Beantwortung immer schon vorausgesetzt. Wenn dieses Buch sie aufgreift, so auch, um zu zeigen, warum mit ihr die Grundfragen der deutschdidaktischen Theoriebildung zur Debatte stehen.

Der Band gliedert sich in zwei Teile. Im ersten rekonstruiert Eduard Haueis die Bedingungen und Potenziale des sprachlichen Lernens mit literarischen Texten im Unterricht aus einer genetischen Perspektive – genetisch im Sinne Wagenscheins und Wygotskis, nicht im Sinne der Biologie. Haueis geht – mit Utz Maas – von der Prämisse aus, dass die ontogenetischen Anforderungen, welche die schulische Sprachlichkeit an die Lernenden stellt, einer soziogenetischen Analyse bedürfen, um didaktisch modelliert zu werden. Das gilt bereits für die „Linguizismus“-Kritik am deutschen Schulsystem (Dirim/Pokitsch 2018), die ihr Ziel nur dann nicht verfehlt, wenn sie der Bedeutung des Deutschunterrichts für das „republikanische Projekt“ (Maas 2008, 139) Rechnung trägt und die Chancen der gesellschaftlichen Partizipation durch die Teilhabe an der Schriftlichkeit der Landessprache im Blick behält (1 Einführung in die Thematik). Vor allem aber bedarf der Gegenstandsbereich des literarischen Lernens einer soziogenetischen Perspektivierung; die Schriftlichkeit der Poesie und die mit ihr einhergehende Hervorbringung einer „Natur zweiten Grades“ im europäischen Kulturraum definiert die sprachlichen Voraussetzungen und psychosozialen Anforderungen des literarischen Lesens als Aufgabe des Literaturunterrichts (2 Die sprechbare Schrift: ein genetischer Blick auf Literatur). Ebenso unverzichtbar ist die Berücksichtigung der ontogenetischen Seite des Sprachlernens: Aus Erkenntnissen zu spontanen Fiktions- und Sprachspielen im kindlichen Spracherwerb lassen sich Hinweise zur Gestaltung einer gesteuerten impliziten Aneignung des Literaten beim Erschließen von Texten gewinnen und damit Gesichtspunkte für eine weiterführende Leselehre, die wieder integraler Bestandteil der Deutschdidaktik werden muss (3 Ontogenetisch fundierte Potenziale des Ausbaus). Zentral bleibt das Problem der Textualität, weil hier die Auswirkungen sprachlicher und kultureller Diversität für das Verhältnis zur Schriftlichkeit am deutlichsten zutage treten. Die vergleichende Betrachtung von Konzeptionen der Textualität in oralen, halbliteralen und literalen Kulturen führt zur Entdeckung mündlicher Praktiken in literarischen ←10 | 11→Texten und damit zu Potenzialen, die für das sprachliche Lernen im Literaturunterricht gezielt genutzt werden können (4 Die Modellierung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit). Auf der Grundlage der bislang gewonnenen Einsichten werden im letzten Kapitel des ersten Teils verschiedene Konzeptualisierungen der sprachlichen Bildung auf den Prüfstand gestellt (5 Humboldts Sprachtheorie und das Konstrukt einer Bildungssprache). Als Bezugspunkte dienen dabei zwei Positionen, die sich in ihrer Argumentation auf Humboldts Sprachdenken berufen, nämlich der von Hubert Ivo (1994) vorgelegte Entwurf einer sprachtheoretischen Fundierung des Faches auf der einen Seite und die im gleichen Zeitraum formulierte Kritik der Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin (1994) am „monolingualen Habitus“ des Deutschunterrichts auf der anderen. Die Diskussion macht deutlich, dass bei der Frage der sprachlichen Bildung im Deutschunterricht seine theoretische Fundierung als Ganzes auf dem Spiel steht.

Der zweite, von Hans Lösener verfasste Teil des Buches lotet die Möglichkeiten einer solchen Fundierung aus. Ausgehend von Juliane Kösters Charakterisierung der Deutschdidaktik als „dilemmatische Disziplin“, die in ihrer Theoriebildung zwischen „Partialisierung und Eklektizismus“ hin- und her pendle (Köster 2016), wird Hubert Ivos Versuch einer sprachtheoretischen Fundierung der Deutschdidaktik auf der Grundlage von Humboldts Sprachdenken (1999) analysiert und an die Aktualität von Marcus Steinbrenners Kritik der Sprachvergessenheit in der neueren Literaturdidaktik erinnert (Steinbrenner 2016 u. 2021) (6 Auf der Suche nach einer Theorie des Deutschunterrichts). Dass eine Gesamttheorie des Deutschunterrichts nicht durch die additive Verknüpfung der Lernbereiche gewonnen werden kann, belegt das Beispiel von Hermann Helmers Didaktik der deutschen Sprache (1966/1970). Auch hier bedarf es einer genetischen Betrachtungsweise, welche der Zentralität der Schriftlichkeit für das sprachliche Lernen in der Schule ebenso Rechnung trägt wie der Notwendigkeit eines mehrperspektivischen Zugangs zu den Lerngegenständen und -prozessen. Vorgeschlagen wird eine durch vier sprach- und bildungsgeschichtlich begründete Gesichtspunkte definierte Modellierung des sprachlichen Lernens (7 Vier Perspektiven des sprachlichen Lernens). Sie setzt sich zusammen aus der grammatischen Perspektive der Sprachrichtigkeit, die sich aus der Vergegenständlichung der Sprache in der Alphabetschrift ergibt; der Perspektive der Sprachangemessenheit, deren Wurzeln bis in die antike Rhetorik zurückreicht und aus der die Kriterien für das Schreiben von Texten gewonnen werden; der Perspektive der Sprachwirksamkeit, die immer dann eine Rolle spielt, wenn poetische Gestaltungen und Erfahrungen thematisiert werden, und der Perspektive der Sprachmündigkeit, in der die ethische Dimension ←11 | 12→aller Sprachlernprozesse greifbar wird. Postuliert wird die Möglichkeit, die Gesamtheit der sprachlichen Bildungsprozesse im Deutschunterricht auf diese Weise einer didaktischen Analyse zugänglich zu machen. Alle vier Perspektiven kommen überall im Deutschunterricht zum Tragen, sie sind deshalb auch für das literarische Lernen in all seinen Facetten relevant. Im Hinblick auf die spezifischen Chancen und Potenziale für das sprachliche Lernen beim Umgang mit literarischen Texten kommt dennoch den beiden Perspektiven der Sprachmündigkeit und der Sprachwirksamkeit eine besondere Bedeutung zu. Ihrer theoretischen Begründung und praktischen Erläuterung sind die letzten beiden Kapitel vorbehalten (8 Sprachmündig sein, um es zu werden und 9 Sprachwirksamkeit oder die Performativität des Poetischen).

Nichts auf der Welt, meinte René Descartes, sei so gerecht verteilt wie der Verstand: Jeder glaubt, genug zu besitzen. Mit der Theorie verhält es sich ähnlich. Keine wissenschaftliche Disziplin und keine praktische Handlungswissenschaft beklagt sich gewöhnlich über ein Defizit an theoretischer Grundlegung. Man könnte dies das Defizitparadox der Theorie nennen: Man muss schon über viel verfügen, um ihr Fehlen zu bemerken. Vor diesem Paradox stehen auch die Autoren dieses Buchs, wenn sie erklären sollen, warum sie es geschrieben haben. Eine mögliche Antwort wäre: weil die Probleme, von denen es handelt, mitunter als Probleme der Praxis, aber viel zu selten als Defizite der didaktischen Theoriebildung erkannt werden. Von Problemen und Defiziten ist ja zur Genüge die Rede, wenn es um die Schule geht und um all das, was in unserem Bildungssystem falsch läuft oder nicht gelingt. Und auch darüber, wie die Lehrerbildung zu verbessern sei und der Unterricht konsequenter empirisch zu beforschen ist, wird vielerorts nachgedacht. Aber keine dieser Maßnahmen wird etwas an den Unzulänglichkeiten ändern, wenn nicht zugleich geklärt wird, um welche Gegenstände es im Unterricht eigentlich geht. Wer sie nicht für das selbstverständlich immer schon Gegebene hält, muss den Weg der theoretischen Rekonstruktion gehen. Das ist der Weg des vorliegenden Buchs.

Die Kalligraphie von Khalid Arroub auf der Vorderseite des Umschlags vereinigt zwei Grundgedanken, von denen wir uns bei der Erarbeitung haben leiten lassen. Zum einen präsentiert sie ein Wort, das in der arabischen Welt als Mädchen- und Monatsname vorkommt und die Bedeutung von hoher Wertschätzung hat; damit trifft es unser Anliegen, die Verschiedenheit kultureller Vorerfahrungen im didaktischen Denken und Handeln respektvoll zu berücksichtigen. Zum anderen steht die Kalligraphie exemplarisch für die Diversität kulturspezifischer Nutzungen und entsprechender Gestaltungen von Alphabetschriften. Das dargestellte Wort, das wie radschab lautet, erscheint in der Schrift nur als eine Abfolge von drei Konsonanten. Aufgrund der fehlenden ←12 | 13→Vokalzeichen kämen potenziell neun verschiedene Aussprachen (und vielleicht sogar mehrere Wörter) in Betracht; jedes Lesen erfordert also andere Fähigkeiten zur Antizipation.

Das Buch ist aus einer mehrjährigen, von vielen gemeinsamen Gesprächen begleiteten Zusammenarbeit entstanden. Da der erste Teil von Eduard Haueis und der zweite von Hans Lösener verfasst wurde, können beide Teile auch unabhängig voneinander und in umgekehrter Reihenfolge gelesen werden. Ermöglicht wurde die Arbeit an dem Projekt durch die Gewährung eines Forschungssemesters im Winter 2017/18 von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Dafür sei ihr an dieser Stelle gedankt. Unser Dank gilt zudem Torsten Mergen und Hannah Wöber für die Durchsicht des Manuskripts.

1 Einführung in die Thematik

Deutschunterricht vollzieht sich heute in einer sozialen Umgebung, die von sprachlicher und kultureller Heterogenität geprägt ist. Unter diesen Bedingungen wäre auch das Verhältnis von sprachlichem und literarischem Lernen zu klären. Man dürfte jedoch nicht alles gelten lassen, was im Fach aus Gewohnheit als selbstverständliche Gegebenheit hingenommen wird, da es sich um ein Problem von grundsätzlicher Bedeutung handelt. Deshalb sollte es naheliegen, sich kritisch mit didaktischen Modellierungen der Lerngegenstände zu befassen und in Rechnung zu stellen, dass sie zum Teil auf unreflektierten Gewohnheiten des „didaktischen Brauchtums“ beruhen können (Ivo 1977, Haueis 2015a und 2016, 171–180). Dazu bedarf es einer Sichtweise, welche die Soziogenese der Lerngegenstände in den Blick bekommt. Eine Auseinandersetzung damit entspricht zwar nicht den Forschungsinteressen, die derzeit im Mainstream des Faches verfolgt werden. Gleichwohl ist sie notwendig, weil empirische Forschungen, die das selbstverständlich Erscheinende als habituelle oder administrativ auferlegte Gegebenheiten akzeptieren, ohne sie kritisch zu hinterfragen, auf die Dauer ins Leere laufen.1 Einige Gründe für diese Einschätzung sind hier vorab in einer genetischen Sichtweise auf die Etablierung einiger Lernfelder unseres Faches darzulegen; dies erfolgt auf der Grundlage dessen, was zum Ausbau sprachlicher Potenziale in Sozio- und Ontogenese (Haueis 2016) vorliegt.←17 | 18→

1.1 Was ist (gutes) Deutsch?

Nur Laien glauben sicher zu wissen, was sie meinen, wenn sie vom Deutschen als der Sprache unseres Landes und von einem „guten Deutsch“ sprechen, das zu beherrschen Ziel des Unterrichts sein sollte. Fachleute können sich diese Selbstsicherheit nicht leisten, weil sie verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen haben, in denen sich ihnen Sprache als Objekt der Forschung darstellt: etwa als das Sprechen und Schreiben in der Öffentlichkeit; als Gesamtheit ihrer regionalen, sozialen und funktionalen Varianten; als das, was sich – oft im Unterschied zu kodifizierten Normen – als geläufige Sprachpraxis darstellen lässt oder eben als eine zielgerichtete Auswahl und Beschreibung von sprachlichen Phänomenen, die für den Unterricht in Bildungseinrichtungen in Betracht kommen. Zumindest was den zuletzt genannten Punkt betrifft, sollten sich Didaktiker*2 wie Fachleute verhalten.

Details

Seiten
284
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631868911
ISBN (ePUB)
9783631868928
ISBN (Hardcover)
9783631860403
DOI
10.3726/b19148
Open Access
CC-BY-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (März)
Schlagworte
Literaturdidaktik Deutschdidaktik Bildungssprache Deutschunterricht Sprachtheorie Sprachdidaktik Heterogenität Literalität Alphabetschrift Textualität
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 284 S., 4 s/w Abb.

Biographische Angaben

Eduard Haueis (Autor:in) Hans Lösener (Autor:in)

Eduard Haueis, habilitiert in Hagen, lehrte seit 1973 an pädagogischen Hochschulen in Ludwigsburg und Heidelberg. Seit 2004 ist er Professor im Ruhestand. Seine Arbeitsschwerpunkte bilden die Didaktik der deutschen Sprache und Literatur, die Schriftaneignung, das Verfassen von Texten und die Reflexion über Sprache. Hans Lösener ist seit 2009 Professor für deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Literaturdidaktik und der Lesedidaktik sowie in der Sprach- und Literaturtheorie

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Titel: Die sprechbare Schrift – Zur Sprachlichkeit des literarischen Lernens im Deutschunterricht
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