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Perspektiven der Schulfremdsprachen in Zeiten von «Global English» und Digitalisierung

Welche Zielsetzungen sind für Französisch, Spanisch, Russisch & Co. (noch) zeitgemäß?

von Anka Bergmann (Band-Herausgeber:in) Christoph Oliver Mayer (Band-Herausgeber:in) Jochen Plikat (Band-Herausgeber:in)
©2022 Konferenzband 288 Seiten

Zusammenfassung

Alle Bürgerinnen und Bürger Europas sollen neben ihrer Muttersprache mindestens zwei Fremdsprachen beherrschen – so lautet zumindest ein auf höchster Ebene vereinbartes Bildungsziel. Gerade Deutschland bleibt allerdings weit hinter diesem Ziel zurück. Die ‹weiteren›, zusätzlich zu Englisch gelernten Fremdsprachen müssten daher deutlich gestärkt werden. Allerdings werden sie aktuell durch bildungspolitische Versäumnisse und gesellschaftliche Trends eher geschwächt. Der Band versammelt Beiträge zu einer Tagung, die 2019 an der Technischen Universität Dresden stattfand. Er beleuchtet die Problemlage aus unterschiedlichen Perspektiven und zeigt Lösungsansätze auf.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung: ‚Muttersprache plus zwei‘ oder doch nur ‚Muttersprache plus Englisch‘? Zum systematischen Verfehlen eines wichtigen Bildungsziels an deutschen Schulen (Christoph Oliver Mayer / Jochen Plikat)
  • Global English als Kommunikationsmodell und als Schulfach – Glanz und Elend oder doch (fast) nur Elend? (Konrad Schröder)
  • „Weil Englisch ’ne internationale Sprache einfach ist …“ Diskurspositionen von DoktorandInnen zur Wahl der Sprache für ihre Dissertation (Stephanie Hofmann / Adelheid Hu)
  • Auf dem Weg zum Babelfisch? Zum Stand der maschinellen Übersetzung (Jean Nitzke)
  • Informatik statt 3. Fremdsprache? Computational Thinking im Rahmen des Fremdsprachenlernens (Christoph Oliver Mayer / Markus Rauscher)
  • Sprachenlernen in der postmigrantischen Gesellschaft. Oder: Braucht eine offene Gesellschaft ein offenes Fremdsprachencurriculum? (Almut Küppers)
  • Wozu eine 2. Fremdsprache lernen? Überlegungen zu einer Neuausrichtung der 2./3. Fremdsprachen in der Sekundarstufe I (Daniela Caspari)
  • Die „Didaktik der Literarizität“ für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache – eine Anregung für die Didaktik der Schulfremdsprachen? (Michael Dobstadt)
  • Sprachaustausch in der Grundschule als Motivator für das Erlernen der Landessprachen Französisch und Deutsch? Befunde einer Interventionsstudie in der Schweiz (Sybille Heinzmann / Robert Hilbe / Seraina Paul / Nicole Schallhart)
  • Stärkung der zweiten Fremdsprachen durch sprachenübergreifende Unterrichtsmaterialien − Anregungen und Perspektiven (Steffi Morkötter / Christiane Neveling / Anna Schröder-Sura)
  • Die Welt im Schulbuch: Lehrwerke als Spiegel gesellschaftlicher Wirklichkeit und Medium politischer Bildung im Fremdsprachenunterricht (Christiane Fäcke)
  • Schüler/innen mit Russisch als Herkunftssprache – eine Ressource für den schulischen Fremdsprachenunterricht Russisch (Grit Mehlhorn)
  • Korpuskompetenz als Teil der digitalen Medienkompetenz im Kontext des Fremdsprachenlernens (Russisch als Fremdsprache) in Deutschland (Uliana Yazhinova)
  • Reihenübersicht

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Christoph Oliver Mayer / Jochen Plikat

Einleitung: ‚Muttersprache plus zwei‘ oder doch nur ‚Muttersprache plus Englisch‘? Zum systematischen Verfehlen eines wichtigen Bildungsziels an deutschen Schulen

Zusammenfassung: Englisch steht in Deutschland unangefochten auf Platz 1 der Schulfremdsprachen, und es ist weitgehend unstrittig, dass alle diese internationale lingua franca lernen sollen. Weniger Einigkeit herrscht dagegen in Bezug auf die weiteren Fremdsprachen – u. a. Französisch, Spanisch und Russisch. Diese befinden sich aktuell eindeutig in der Defensive, was sich unter anderem an sinkenden Schülerzahlen ablesen lässt. Offiziell gilt zwar die Vorgabe noch, dass jede EU-Bürgerin und jeder EU-Bürger mindestens zwei Fremdsprachen beherrschen sollte. Tatsächlich bleiben die fremdsprachlichen Kompetenzen in Deutschland aber weit hinter diesem Anspruch zurück. Diesen Trend scheinen die Digitalisierungsschübe der letzten Jahre eher zu verstärken als abzuschwächen.

Am Beispiel der Entwicklung des Eurovision Song Contest wird die These entwickelt, dass die Krise der weiteren Fremdsprachen ein gesamtgesellschaftliches kulturelles Phänomen darstellt, das mit den Entwicklungen in der Schule in einem komplexen Wechselverhältnis steht. Die Einleitung führt auf diese Weise in die Beiträge des Sammelbandes ein, deren Mehrzahl im April 2019 im Rahmen einer Tagung an der Technischen Universität Dresden vorgestellt wurden.

Schlüsselwörter: Sprachenpolitik, Schulfremdsprachen, europäische Mehrsprachigkeit, Eurovision Song Contest

Abstract: The leading position of English as a foreign language is undisputed in German schools, and it is widely agreed that everyone should learn this international lingua franca. There is, however, a discussion with regard to teaching foreign languages other than English, like French, Spanish and Russian, among others. These are clearly on the defensive, a process which is reflected in the declining numbers of students. Meanwhile, Europe’s official educational goal that every European citizen should master at least two foreign languages remains in place. Nevertheless, the average competences in foreign languages in Germany fall short of this requirement. This trend even seems to be strengthened by recent technological developments.

Using the Eurovision Song Contest as an example, the authors argue that the crisis of foreign languages besides English represents a broad cultural phenomenon, intricately ←7 | 8→intertwined with the developments in schools. With this approach, the article introduces the contributions to this volume, the majority of which was presented in April 2019 at a conference held at Technische Universität Dresden.

Keywords: language politics, foreign language education, European multilingualism, Eurovision Song Contest

1. Die Krise der ‚weiteren‘ Fremdsprachen als bildungs- und sprachenpolitische Krise

Am 16. Juli 2019 hielt die deutsche Politikerin Ursula von der Leyen vor dem Europaparlament in Straßburg ihre Bewerbungsrede für den EU-Kommissionsvorsitz.1 Die politische Bewertung fiel in den Medien geteilt aus. Kaum ein Bericht versäumte es jedoch lobend zu erwähnen, dass die Bewerberin ihre Rede in den drei EU-Amtssprachen Deutsch, Französisch und Englisch gehalten hatte. Selbst die NZZ attestierte von der Leyen in einem ansonsten durchaus kritischen Beitrag voller Respekt, dass sie sich als „polyglotte Europäerin“ präsentiert habe (vgl. Nuspliger 2019).

Sprachbiographisch verkörpert von der Leyen als Deutsche mit sehr guten Englisch- und Französischkenntnissen fast idealtypisch das im ‚Weißbuch‘ formulierte europäische Bildungsziel „Muttersprache plus zwei Gemeinschaftssprachen“ (vgl. Europäische Kommission 1995: 54–56). Als Beispiel für eine erfolgreiche fremdsprachliche Bildung im deutschen Schulsystem taugt die Politikerin dennoch nicht, da ihre guten Französischkenntnisse in erster Linie auf ihre Kindheit und frühe Jugend in Brüssel zurückzuführen sind. Auch ihre Rede ist nur zum Teil als Beispiel für gelungene europäische Mehrsprachigkeit geeignet. Bei näherer Betrachtung stellt sich nämlich heraus, dass von den ca. 33 Minuten Redezeit lediglich ca. 5 % auf das Französische entfallen (knapp 2 Minuten zu Beginn), 17 % dagegen auf das Deutsche und 78 % auf das Englische. Fast den gesamten Hauptteil, in dem es um inhaltliche Fragen geht, hat die Kandidatin für das höchste EU-Amt in der Amtssprache jenes Mitglieds vorgetragen, das seinen Austritt zum Zeitpunkt der Rede längst beschlossen hatte und inzwischen vollzogen hat. Deutlicher als mit der Bewerbungsrede von der Leyens lässt sich der Stellenwert des Englischen als lingua franca für ←8 | 9→Europa kaum unterstreichen: Wer in Straßburg oder Brüssel etwas Wichtiges zu sagen hat, spricht am besten Englisch.

Die für Deutschland geltenden Regelungen für die Fremdsprachenfolge an öffentlichen Schulen gehen zurück auf zwei Abkommen zwischen den Bundesländern, und zwar auf das Düsseldorfer Abkommen von 1955 (vgl. Konferenz der Ministerpräsidenten 1955) und auf das Hamburger Abkommen von 1964 (vgl. Kultusministerkonferenz 1964). Die entscheidende fremdsprachenbezogene Neuerung des Düsseldorfer Abkommens bestand in dem Wegfall der bis dahin obligatorischen dritten Fremdsprache an Gymnasien (vgl. Konferenz der Ministerpräsidenten 1955: § 11, Abs. 2). Zudem wurden in dem Abkommen Englisch als 1. Fremdsprache ab Klasse 5 sowie Latein oder Französisch als 2. Fremdsprachen ab Klasse 7 festgelegt (vgl. ebd.: § 10). Abweichungen hiervon waren für die alte Bundesrepublik lediglich an altsprachlichen Gymnasien sowie in Ausnahmefällen auch an neusprachlichen oder mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasien vorgesehen. Für Mittelschulen wurde festgelegt, dass „[…] nur eine Fremdsprache als Pflichtfach gelehrt [wird] und zwar in der Regel Englisch“ (ebd.: § 7, Abs. 3).

Diese Vorgaben wurden im Hamburger Abkommen von 1964 bestätigt. Mittelschulen hießen nun bundeseinheitlich Realschulen. Auch an diesen Schulen blieb jedoch nur eine Fremdsprache die Regel, nämlich Englisch, und ein Übergang zur gymnasialen Oberstufe war auch mit Vorkenntnissen in nur einer Fremdsprache möglich (vgl. Kultusministerkonferenz 1964: § 11, Abs. 4). Damit waren die Leitlinien festgelegt, welche die Sprachenfolgen in den alten Bundesländern bis heute maßgeblich prägen und die mit der Wiedervereinigung sukzessive auch in den neuen Bundesländern übernommen wurden.

Die zunehmende europäische Integration der Mitgliedsstaaten auf vielen Ebenen (Wirtschaft, Währung, Recht, Arbeitsmarkt, Bildung, etc.) schärfte in den 1980er- und 1990er-Jahren das Bewusstsein dafür, dass auf einem sprachlich und kulturell vielfältigen Kontinent solide Fremdsprachenkenntnisse möglichst vieler Menschen ein wichtiges, ja vielleicht sogar ein entscheidendes Bildungsziel sein müssen, wenn diese Integration auch auf der Ebene der Bürgerinnen und Bürger gelingen soll. Zudem kam es in dieser Zeit zu epochalen politischen und technologischen Umwälzungen. Hier sind in erster Linie der Zusammenbruch der Sowjetunion sowie der Beginn des digitalen Zeitalters zu nennen.

In diesem Licht ist die Entscheidung der Europäischen Kommission zu sehen, 1995 ein „Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung“ zu veröffentlichen (vgl. Europäische Kommission 1995). Es legt angesichts der „Drei großen Umwälzungen“ („Die Informationsgesellschaft“, „Die Globalisierung ←9 | 10→der Wirtschaft“, „Die wissenschaftlich-technische Zivilisation“, ebd.: 3) fünf Hauptziele für die Wissensgesellschaft fest. Das vierte dieser Hauptziele lässt das Herz jedes Fremdsprachenlehrers höherschlagen: „Jeder sollte drei Gemeinschaftssprachen beherrschen“ (ebd.: 59–61), womit also Sprachen gemeint waren, die mindestens in einem der Mitgliedsstaaten als Landessprachen offiziell anerkannt werden.

Für die Erreichung dieses Ziels werden mehrere konkrete Maßnahmen vorgeschlagen:

im Vorschulalter erste Kontakte mit der ersten Fremdsprache

in der Primarstufe systematischer Unterricht in dieser Sprache

in der Sekundarstufe Unterricht in einer weiteren Gemeinschaftssprache sowie in ausgewählten Fächern Fachunterricht in der ersten Fremdsprache

in der beruflichen Aus- und Weiterbildung Stärkung des Fremdsprachenlernens

Entwicklung europäischer Qualitätsstandards für die Evaluation von Fremdsprachenkenntnissen sowie für Methoden und Materialien in diesem Bereich (vgl. ebd.)

Details

Seiten
288
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631872239
ISBN (ePUB)
9783631872246
ISBN (Hardcover)
9783631846308
DOI
10.3726/b19377
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (April)
Schlagworte
Bildungspolitik Sprachenpolitik Fremdsprachenlernen Fremdsprachendidaktik Sprachenförderung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 288 S., 11 s/w Abb., 6 Tab.

Biographische Angaben

Anka Bergmann (Band-Herausgeber:in) Christoph Oliver Mayer (Band-Herausgeber:in) Jochen Plikat (Band-Herausgeber:in)

Anka Bergmann ist Professorin für Fachdidaktik Russisch an der Humboldt-Universität zu Berlin. Christoph Oliver Mayer ist Gastprofessor für Fachdidaktik der romanischen Sprachen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Jochen Plikat ist Juniorprofessor für die Didaktik der romanischen Sprachen an der Technischen Universität Dresden.

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