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Empathie und Perspektive: «Character Engagement» im Spielfilm

von Qian Zhang (Autor:in)
©2023 Dissertation 302 Seiten
Reihe: LiteraturFilm, Band 15

Zusammenfassung

Empathie ist eine wichtige Fähigkeit zur Übernahme fremder Sichtweisen. Sie spielt nicht nur im alltäglichen Umgang mit Mitmenschen, sondern auch bei der Filmrezeption eine große Rolle. Basierend auf verschiedenen Empathiekonzepten philosophischer, psychologischer und filmwissenschaftlicher Provenienz wird im vorliegenden Buch ein neues Forschungsthema erschlossen: eine Zweite-Person-Empathie im Film. Aber können Zuschauer*innen überhaupt über die Übernahme der „Erste-Person"-Perspektive einer Filmfigur hinausgehen? Können sie Filmfiguren – wie ein „Du" – in einer Art „Zweite-Person"-Interaktion kennenlernen? Können sie über die „Dritte-Person"-Bewertung bzw. über eine moralische Evaluation hinausgehen, können sie Empathie für eine unmoralische Filmfigur empfinden? Im Rahmen einer qualitativen empirischen Studie gibt der Band Antworten auf diese Fragen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 2. Grundlagen
  • 2.1 Empathie im Alltagsleben
  • 2.1.1 Coplans Empathiekonzept
  • 2.1.2 Hoffmans Empathiekonzept
  • 2.1.3 Eine unwillkürliche Form der Empathie
  • 2.1.4 Die Voraussetzungen der Entstehung der Empathie
  • 2.2 Empathie im Film
  • 2.3 Empathie und moralische Bewertung
  • 2.4 Moralische Bewertung der Filmfiguren
  • 2.4.1 Smiths Modell des Character Engagement
  • 2.4.2 Moralische Emotionen und ihre Auslöser im Film
  • 2.4.3 Drei Ursachen von Sympathie für unmoralische Figuren
  • 2.4.4 Eine Typologie der Zuschauereinstellungen gegenüber Figuren
  • 3. Empathie aus der Grundlage einer „Zweite-Person“-Einstellung
  • 3.1 Simulationstheorie vs. Interaktionstheorie
  • 3.2 Ratcliffes Empathiekonzept
  • 3.2.1 Eine Zweite-Person-Einstellung
  • 3.2.2 Offenheit für Unterschiede („Openness to difference“)
  • 3.2.3 Explorativer Prozess („Exploration“)
  • 3.3 Zweite-Person-Empathie im Film
  • 4. Empirische Untersuchung
  • 4.1 Auswahl des Films und Forschungsfragen
  • 4.2 Forschungsmethode
  • 4.3 Filmanalyse und Erstellung der Fragen für die Befragung
  • 4.4 Auswahl der Probanden und Durchführung der Befragung
  • 5. Auswertung
  • 6. Ergebnisse und Zurückführung auf die Theorien und den Film
  • 6.1 Die Darstellung der Ergebnisse
  • 6.2 Zurückführung der Ergebnisse auf die theoretischen 
Grundlagen
  • 6.3 Zurückführung der Ergebnisse auf die Wirkung des Films, Shoplifters – Familienbande
  • 7. Fazit
  • 8. Literaturverzeichnis
  • 9. Filmverzeichnis
  • Anhang
  • Danksagung
  • Reihenübersicht

Vorwort

Spielfilme lösen mitunter heftige Empfindungen aus, sind aber selbst dann, wenn die Schauspieler eher unterkühlt agieren, darauf angelegt, Aufmerksamkeit und Spannung, Nervenkitzel und Vergnügen zu erregen. Ob und wie nachhaltig dies gelingt, hängt nicht zuletzt von der Teilnahme der Zuschauer am Schicksal der (zumeist) fiktiven Charaktere ab – vom ‚character engagement‘. Dieses Engagement wird nicht nur von der Figurenzeichnung, dem Erscheinungsbild der Darsteller und ihren Bewegungen getriggert, sondern auch von der Art und Weise der Aufnahme – etwa der Ausleuchtung von Gesichtern – sowie von der Montage der einzelnen Einstellungen, die an einer Szene diesen oder jenen Aspekt hervorheben. Prinzipiell lassen sich zwar Artefakt- und Fiktionsaffekte unterscheiden1 – also solche, die sich auf die Eigenschaften einer Filmfigur und ihre Handlungen in der erzählten Welt beziehen, und solche, die sich aus ihrer Konzeption und Inszenierung ergeben –, doch in der konkreten Filmwahrnehmung, im aktuellen Erleben der Zuschauer wird diese Unterscheidung permanent zugunsten komplexer Eindrücke und entsprechend nuancierter Empfindungen unterlaufen.

Dank ihrer Wechselwirkung versetzen diese Eindrücke und Empfindungen das Publikum in eine bestimmte Stimmung, die in der Regel mit Genrekonventionen verschränkt und an Erwartungen gebunden ist, die nachhaltig die konjekturalen Erfassungsakte der Zuschauer steuern. Worauf sie im Einzelnen achten und zu welchen Lesarten sie das Geschehen verdichten, wird durch zahlreiche, aufeinander abgestimmte Auslöse- und Schlüsselreize auf eine Gedankenbahn gelenkt, die von spontanen, vagen Eindrücken und Empfindungen ausgeht und dieser affektiven Spur auch dann noch folgt, wenn der Film kognitiv verarbeitet, reflektiert und interpretiert, analytisch betrachtet und kritisch diskutiert wird. Seit Greg M. Smith in seiner Monografie Film Structure and the Emotion System (2003) den ‚mood-cue approach‘ vorgestellt hat, der an die neoformalistische Wende der Filmwissenschaft anknüpft, geht die Forschung der Orientierungsfunktion jener Auslöse- und Schlüsselreize nach, die Zuschauer auf das Leinwanddrama einstimmen und ihre Wahrnehmung wie ihre Deutung des Geschehens bis hin zu seiner moralischen Bewertung prägen.

Die Verbindung zwischen dem ‚mood-cue approach‘ und dem ‚character engagement‘ ergibt sich aus dem Umstand, dass die Auslöse- und Schüsselreize filmischer Affekte – im angloamerikanischen Sprachraum ‚emotive cues‘ genannt – im Zusammenhang mit den Bedürfnissen (‚needs‘) und Zielen (‚goals‘), aber auch mit den Beschränkungen (‚constraints‘) von Protagonisten und Antagonisten sowie mit den Hindernissen (‚obstacles‘) zu sehen sind, die eine diegetische Welt auszeichnet.2 Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, deshalb anzunehmen, die Protagonisten würden stets sympathisch und die Antagonisten immer nur unsympathisch dargestellt, während die Opfer in jedem Fall Empathie verdienten und diejenigen, die Schandtaten begehen, ausnahmslos ohne Empathie auskommen müssten. Die Filmwahrnehmung ist komplizierter, vor allem dynamischer, zumal es wesentlich vom Empathiekonzept abhängt, wie man das ‚character engagement‘ beschreibt und untersucht.

Der Begriff ‚Empathie‘ ist ein 1909 von Edward Titchener anlässlich der Übersetzung eines Werks von Theodor Lipps geprägter Neologismus. Lipps war es in seiner Einfühlungslehre um das Vermögen gegangen, das sowohl dem Fremdverstehen anderer Menschen dient als auch dazu geeignet ist, ästhetische Objekte gleichsam zu ‚beseelen‘. Bis heute wird in der Forschung davon ausgegangen, dass es einen nicht nur zufälligen Zusammenhang zwischen der Einfühlung in fiktive Figuren, die ja genau besehen ästhetische Objekte sind, und in reale Personen, also andere Subjekte, gibt, wobei eine sich quasi automatisch oder präreflexiv vollziehende imitative Empathie von einer intentionalen imaginativen Empathie abgehoben wird. Die imitative Empathie wird inzwischen gerne mit der Funktion der sogenannten ‚Spiegelneuronen‘ erklärt; die imaginative Empathie hingegen ist, wissenschaftshistorisch betrachtet, mit der Konkurrenz zwischen der Simulationstheorie und der Theorie-Theorie verbunden. Erstere behauptet, dass Empathie darauf beruht, dass in der Vorstellung die Wahrnehmungen und Empfindungen eines anderen Menschen durchgespielt werden, so dass sich beim Beobachter die Gefühle einstellen, die der Situation des Beobachteten entsprechen; zweitere besagt, dass eine Schlussfolgerung auf den Gemütszustand der anderen Person erfolgt, die sich an ihrem Ausdrucksverhalten oder anderen situativen Indizien orientiert.

Während die Theorie-Theorie strukturell eher mit einer Betrachtungsweise verbunden ist, die sich an die Perspektive der dritten Person hält (x urteilt über den Gemütszustand von y), ist die Simulationstheorie eher an eine Perspektive der ersten Person gekoppelt (wie würde ‚ich‘ mich fühlen, wenn ‚mir‘ dasselbe passieren würde?). Qian Zhang diskutiert nun im Anschluss an Matthew Ratcliffe, ob es auch eine explorative Empathie gibt, die sich an die Perspektive der zweiten Person hält, so dass Filmzuschauer weder eine Theorie über den Gemütszustand einer Filmfigur entwickeln noch deren Gefühle simulieren, sondern herauszufinden versuchen, wie eine dramatische Situation von einem spezifischen Charakter wahrgenommen und empfunden wird, der ihnen auf der Leinwand als ein ‚Du‘, beinahe wie in der sozialen Interaktion, entgegentritt. Vor allem aber geht Qian Zhang mittels einer Zuschauerbefragung deutlich über die bloß theoretische Erörterung rivalisierender Empathiekonzepte hinaus, wobei ihre empirische Untersuchung auf ein klug ausgewähltes Filmbeispiel rekurriert:

In Manbiki Kazoku (Japan 2019; dt. Shoplifters – Familienbande) schildert Regisseur Hirokazu Kore-eda den Alltag einer ‚Familie‘, deren Mitglieder Ladendiebstähle begehen und die, wie sich im Laufe der Handlung herausstellt, gar nicht miteinander verwandt sind. Immer wieder werden die Wahrnehmungen der Zuschauer durch weitere Enthüllungen über die Beziehungen in dieser ‚Familie‘ neu gerahmt, wobei sich die Reaktionen des Publikums – hypothetisch – zwischen moralischer Entrüstung und empathischem Verständnis bewegen. Was aber geschieht wirklich im Zuge der Filmwahrnehmung, und welche Schlussfolgerungen lassen sich aus dem Verhalten der Zuschauer in Rücksicht auf die verschiedenen Empathiekonzepte ziehen?

Um diese Fragen zu beantworten, hat Qian Zhang erstens den Film Shoplifters unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten in aufschlussreiche Sequenzen unterteilt, zweitens einen detaillierten, Leitfaden gestützten Fragebogen entwickelt und drittens minutiös die Auskünfte von 13 Befragten ausgewertet, die nicht nur ihre Filmeindrücke zu Protokoll, sondern auch Auskunft über ihre Einstellungen, Empfindungen und Überlegungen angesichts der für ihre Befragung ausgewählten Filmsequenzen gegeben haben. Im Ergebnis kommt Qian Zhang zu folgenden Befunden:

1. Exploratives und evaluatives ‚character engagement‘ schließen einander keineswegs aus.

2. Simulation kann sowohl die moralische Bewertung einer Filmfigur als auch eine Zweite-Person-Empathie unterstützen.

3. Die Typisierung von Filmfiguren kann die Zweite-Person-Empathie blockieren.

4. Ungewöhnlich unmoralische oder amoralische Szenen erschweren die Entwicklung von Empathie eher als dass sie diese befördern.

5. Simulation führt eher zu einer Pro-Einstellung und entspricht tendenziell der Verhaltenstendenz der Fürsorge (‚caring‘).

6. (Das Kriterium der ‚justice‘ kommt nicht nur in der Dritten-Person-Perspektive zum Tragen.)

Da diese Befunde – der zuletzt genannte wird mehr impliziert als expliziert – wenn auch sehr genau an nur einem Film erarbeitet wurden und unterstellt werden muss, dass Spielfilme wie Shoplifters neben sozialen auch kulturelle Unterschiede der Wahrnehmung ins Spiel bringen, sobald sie ein internationales Publikum ansprechen, dürfte die interne Valenz der Studie von Qian Zhang höher einzustufen sein als ihre externe Signifikanz und Reliabilität.

Es bleibt daher weiteren Filmanalysen überlassen, die Befunde von Qian Zhang zu überprüfen, gegebenenfalls zu verallgemeinern und mit anderen Erklärungsansätzen zu vermitteln. So liegt es nahe, die explorative Empathie, die sich an die ‚Du‘-Perspektive hält, auf die Vorstellungen von Peter Wuss und Jens Eder zu beziehen: Wenn sich das ‚character engagement‘ auf die Konflikte zwischen Protagonisten und Antagonisten richtet, die durch gegensätzliche Bedürfnisse und Ziele gekennzeichnet sind, beschäftigen sich Zuschauer, Wuss zufolge, emotional und imaginär mit den Problemlösungen, an denen sich die verschiedenen Figuren versuchen.3 Auch Eder sieht in der Empathie das „mitvollziehende Problemlösen“ am Werk.4

Auf einem ganz anderen Blatt stehen die Affekttheorien des Kinos, die im Anschluss an Gilles Deleuze auf Wahrnehmungsmodalitäten des Filmischen zielen, die sich aus den Eigenarten von Bewegungsbild und Bildraum ergeben5 oder auf die Abhängigkeit intensiver Empfindungen und plastischer Anschauungen von jenem Leihkörper verweisen, den die Zuschauer der audiovisuellen Narration zur Verfügung stellen.6 Damit ist das weite Forschungsfeld angedeutet, in dem sich die Untersuchung des filmisch stimulierten ‚character engagement‘ bewegt, das durch die Arbeit von Qian Zhang einen neuen, bedenkenswerten Dreh erfährt.

Vorwort von Matthias Bauer

Literatur

Lisa Ǻkervall: Kinematographische Affekte. Die Transformation der Kinoerfahrung. Paderborn: Fink 2018.

Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Übers. von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 [1983].

Jens Eder: „Empathie und existentielle Gefühle im Film“. Empathie im Film. Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie. Hrsg. von Malte Hagener und Íngrid Vendrell Ferran. Bielefeld 2017, 237–269.

Hermann Kappelhoff und Sarah Greifenstein: „Metaphorische Interaktion und empathische Verkörperung. Thesen zum filmischen Erfahrungsmodus“. Empathie im Film. Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie. Hrsg. von Malte Hagener und Íngrid Vendrell Ferran. Bielefeld: transcript 2017, 167–193.

Per Persson: Understanding Cinema. A Psychological Theory of Moving Imagery. Cambridge; Cambridge University Press 2003.

Details

Seiten
302
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631909263
ISBN (ePUB)
9783631909270
ISBN (Hardcover)
9783631909256
DOI
10.3726/b21248
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Oktober)
Schlagworte
Emotion Einstellung Moralität Filmrezeption Filmanalyse Studie Wahrnehmung Kognition
Erschienen
Lausanne · Berlin · Bruxelles · Chennai · New York · Oxford, 2023. 302 S., 100 S/W-Abb.

Biographische Angaben

Qian Zhang (Autor:in)

Qian Zhang absolvierte einen Multimedia-Studiengang an der Fachhochschule Hannover und studierte Medienkonzeption an der Fachhochschule Kiel. Sie promovierte am Fachbereich Sprache – Literatur – Medien der Europa-Universität-Flensburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Empathie und die zugehörigen Prozesse sowie die subjektive und moralische Bewertung während der Filmrezeption.

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Titel: Empathie und Perspektive: «Character Engagement» im Spielfilm