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Die Grenzen des Fremden

Konstruktionen der Fremdheit in iranischen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts

von Sara Faridzadeh (Autor:in)
©2021 Monographie 352 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch handelt von Grenz- und Fremdheitskonstruktionen in iranischen Europa- und Russlandreiseberichten des 19. Jahrhunderts. Mittels einer textanalytischen Herangehensweise und anhand der theoretischen Fokussierung auf zwei Konzepte, nämlich die «kulturelle und soziale Fremdheit» und die «Grenze», versucht die Autorin die Entwicklung der iranischen Gesellschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Ziel ist es, die damalige iranische Gesellschaft und die Besonderheiten ihrer Geschichte, im Hinblick auf ihre äußeren und fremden Begegnungen mit andersartigen Kulturräumen zu erforschen. Zwar folgt die Studie primär einem soziologischen Ansatz, konnte aber den historischen Kontext der Ereignisse und die literarische Beschaffenheit der Reisetexte nicht unbeachtet lassen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einführendes
  • I. Einleitung
  • 1. Gliederung der Arbeit
  • II. Forschungsprobleme
  • III. Forschungsstand und -relevanz
  • IV. Theoretische Hintergründe
  • 1. Der Grenzbegriff in den Sozialwissenschaften
  • 1.1. Kulturelle Grenzziehung nach Michel Foucault und Edward Said
  • 1.2. Simmel und die imaginative Geographie
  • 1.3. Neuere Grenztheorie
  • 2. Zur Definition von Fremdheit
  • V. Zur Methodik
  • 1. Die qualitative Inhaltsanalyse; zwischen Text und Kon-Text
  • 2. Die Arbeitsschritte
  • 2.1. Zum Untersuchungsmaterial und zur Fallauswahl
  • 2.2. Die Untersuchungsperioden
  • 2.3. Die Analyseschritte und das Analyseraster
  • 2.3.1. Grenz- und Fremdheitskategorien
  • A. Dimensionen kultureller Fremdheit
  • a. Kompatible Unvertrautheit
  • b. Ambivalente Unvertrautheit
  • c. Inkommensurable Unvertrautheit
  • B. Dimensionen sozialer Fremdheit
  • C. Mischformen und Überlappungen
  • A: Einblick in die Geschichte der Reiseberichterstattung im Iran
  • Kapitel I. Entwicklung des persischen Reiseberichts bis Anfang des 19. Jahrhunderts
  • 1. Die klassische Reiseberichterstattung im Iran
  • 2. Die Reiseberichtsgattung unter den Safawiden
  • 3. Das Verhältnis zu Europa und die globale Situierung Irans vor dem 19. Jahrhundert
  • B: Analyse: Zum Text und Kon-Text. Reiseberichte und ihr sozialhistorischer Hintergrund
  • Kapitel I. Erste Periode (1800–1834)
  • 1. Die ersten Begegnungen: Wo ist farang und wer ist farangī? Eine Soziologie der Wahrnehmung
  • 2. Reisen nach Europa: sozialpolitische Lage des frühen 19. Jahrhunderts
  • 2.1. Das Buch über Erstaunlichkeiten für Gesandte (1809/1224–1811/1225)36
  • 2.1.1. Autor-Akteur
  • 2.1.2. Die Analyse
  • A. Kulturelle Fremdheit
  • a. Kompatible Unvertrautheit
  • b. Ambivalente Unvertrautheit
  • c. Inkommensurable Unvertrautheit
  • B. Soziale Fremdheit
  • a. Symbolische Exklusion
  • C. Mischformen
  • 2.1.3 Zusammenfassung
  • 2.2 Der Bericht von Mīrza Ṣāleḥ Šīrāzī über seine Reise nach Europa (1815/1230–1819/1234)
  • 2.2.1 Autor-Akteur
  • 2.2.2. Die Analyse
  • A. Kulturelle Fremdheit
  • a. Kompatible Unvertrautheit
  • b. Ambivalente Unvertrautheit
  • c. Inkommensurable Unvertrautheit
  • B. Soziale Fremdheit
  • a. Symbolische Exklusion
  • b. Materiale Exklusion
  • C. Mischkonstruktionen der Fremdheit
  • 2.2.3. Zusammenfassung
  • 3. Iranische Russlandbeziehungen
  • 3.1. Europäische Großmacht oder barbarische Fremdkultur? Kulturelle und soziale Grenzen im Russlandreisebericht
  • 3.2. Dalīl as-sufarāʾ (1813/ 1229–1816/ 1232)
  • 3.2.1. Autor-Akteur
  • 3.2.2. Die Analyse
  • A. Auf der Suche nach dem Vertrauten inmitten des Unvertrauten: die Konstruktion kultureller Fremdheit
  • a. Kompatible Unvertrautheit
  • b. Ambivalente Unvertrautheit
  • c. Inkommensurable Unvertrautheit
  • B. Asymmetrische Differenz: Unterlegen oder Überlegen? Konstruktion sozialer Fremdheit
  • a. Symbolische Exklusion
  • b. Materiale Exklusion
  • C. Die Verknüpfung sozialer und kultureller Fremdheit
  • 3.2.3. Zusammenfassung
  • Kapitel II. Zweite Periode (1848–1896)
  • 1. Die Regierungszeit Moḥammad Šāhs
  • 2. Nāṣer ad-Dīn Šāhs Herrschaftszeit
  • 3. Auslandsreiseberichte in der zweiten Periode (1848–1896)
  • 3.1. Der Reisebericht von Ḥāǧ Sayyāḥ (1859/1276–1877/1294)
  • 3.1.1. Autor-Akteur
  • 3.1.2. Die Analyse
  • A. Kulturelle Fremdheit
  • a. Kompatible Unvertrautheit
  • b. Ambivalente Unvertrautheit
  • c. Inkommensurable Unvertrautheit
  • B. Soziale Fremdheit
  • a. Symbolische Exklusion
  • b. Materiale Exklusion
  • C. Mischfälle
  • 3.1.3. Zusammenfassung
  • 3.2. Ḥāǧ Sayyāḥ In Russland
  • A. Kulturelle Fremdheit
  • a. Kompatible Unvertrautheit
  • b. Ambivalente Unvertrautheit
  • c. Inkommensurable Unvertrautheit
  • B. Soziale Fremdheit
  • a. Symbolische Exklusion
  • b. Materiale Exklusion
  • 3.2.3. Zusammenfassung von Ḥāǧ Sayyāḥs Russlandreisebericht
  • 3.3. Die Aufzeichnungen von ʾEʿtemād as-Salṭaneh (1889/1306)
  • 3.3.1. Autor-Akteur
  • 3.3.2. Die Analyse
  • A. Wo soziale Fremdheit die Überhand gewinnt (die Fremdheit steckt im Eigenen)
  • B. Mischfälle
  • 3.3.3. Zusammenfassung
  • Kapitel III. Dritte Periode (1896–1907)
  • 1. Europareiseberichte in der dritten Periode
  • 1.1. Der Europareisebericht von Ẓahīr ad-Dawleh (1900/1317)
  • 1.1.1. Autor-Akteur
  • 1.1.2. Die Analyse
  • A. Kulturelle Fremdheit
  • a. Kompatible Unvertrautheit
  • b. Ambivalente Unvertrautheit
  • c. Inkommensurable Unvertrautheit
  • B. Soziale Fremdheit
  • a. Symbolische Exklusion
  • b. Materiale Exklusion
  • C. Mischformen: zur Verknüpfung sozialer und kultureller Fremdheit
  • 1.1.3. Zusammenfassung
  • 1.2. Der Europareisebericht von Ẓell as-Solṭān (1905–1906)
  • 1.2.1. Autor-Akteur
  • 1.2.2. Die Analyse
  • A. Kulturelle Fremdheit
  • a. Kompatible Unvertrautheit
  • b. Ambivalente Unvertrautheit
  • c. Inkommensurable Unvertrautheit
  • B. Soziale Fremdheit
  • a. Symbolische Exklusion
  • b. Materiale Exklusion
  • C. Mischformen
  • 1.2.3. Zusammenfassung
  • 2. Russland und Iran an der Wende zu 20. Jahrhundert
  • 2.1. Die Reisememoiren von ʿAbdollāh Mostowfī (1904/1283–1907/1286)
  • 2.1.1. Autor-Akteur
  • 2.1.2. Die Analyse
  • A. Kulturelle Fremdheit
  • a. Kompatible Unvertrautheit
  • b. Ambivalente Unvertrautheit
  • c. Inkommensurable Unvertrautheit
  • B. Soziale Fremdheit
  • a. Materiale Exklusion
  • b. Symbolische Exklusion
  • C. Mischfälle
  • 2.1.3. Zusammenfassung
  • C: Fazit
  • Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Es gibt wohl kaum einen Topos, der für die Entstehung von Soziologie und Ethnologie von größerer Bedeutung gewesen wäre als die soziale Gestalt des Fremden (vgl. Hettlage 1987: 27). Die Entdeckung und Erforschung des Fremden ist in der abendländischen Geschichtsschreibung aufs Engste mit der europäischen Expansions- bzw. Kolonialgeschichte verknüpft. Der Vormarsch der abendländischen Kultur, verbunden mit Unterdrückung, Versklavung und Ausbeutung der nicht-europäischen Welt, ist für dieses Zeitalter prägend. Diesem geschichtlich wirkungsmächtigen Zusammenhang von Expansion und Fremderfahrung ist es auch geschuldet, dass Abhandlungen über das Fremde nie in einem herrschaftsfreien Diskurs entfaltet wurden (vgl. Sander 2012: 37).

Der Blick von oben auf „primitive Kulturen“ geschah vor allem auf der Suche nach der Naturgeschichte der Menschheit. Dieser Evolutionsschritt wurde für notwendig gehalten, worauf auch die klassische Soziologie basiert. Indem sie sich die Polarisierungsmöglichkeiten des Fremden zunutze machte und „sie ihn vornehmlich als sozialen wie kulturellenGrenzgenerator‘ auffaßte, der in seiner Unvertrautheit und Nichtzugehörigkeit ein modernistisches Konzept von Gesellschaft, Kultur und Individuum zum Ausdruck brachte, das sich im Sinne einer wohlintegrierten Ganzheit durch innere Homogenität und äußere Distinktion auszeichnete“ (Reuter 2002: 234). Dies war eine auf Macht und Herrschaft basierende Grenzziehung, die der Dualität des Eigenen und des Fremden verhaftet war, die Kategorien in Form von Gegensätzen voneinander trennte, den Fremden immer negativ konnotierte und auf diese Weise auch als unverträglich erscheinen ließ (vgl. ebd.). Das Fremde und die Grenzziehungspraxis gingen somit in der Geschichte der Soziologie immer Hand in Hand. Es wurde auf die Grenze als Ausdruck einer faktisch vorhandenen Differenz und ein Mittel zur Ein- und Ausgrenzung rekurriert.

Auch das entsprechende Kulturverständnis des frühen 18. Jahrhunderts weist auf die gleiche Entweder-Oder-Dualität hin, die einen Unterschied zwischen dem Kultivierten und Nicht-Kultivierten markierte. Dieses Kulturverständnis, das sich im Kontext der bürgerlichen Moderne und in Werken von Autoren wie Immanuel Kant etabliert hat, begreift Kultur als eine normativ geprägte, ausgezeichnete Lebensweise (vgl. Reckwitz 2005: 94). Hierin findet sich eine wirkungsmächtige Unterscheidung von Kultur und Zivilisation. Indem Kultur an Moralität gekoppelt wird, wird Zivilisiertheit als bloße Techniken des Anständigen begriffen vgl. ebd., 95).

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Spätestens mit der Entkolonialisierung in den siebziger Jahren und Jahrzehnte nach den kolonialistischen Eroberungsaktivitäten Europas hat eine kritische Aufarbeitung des kolonialistischen Zeitalters umfänglich begonnen (vgl. Sander 2012: 37), was mit einer Emanzipation der Sozialwissenschaften aus ihrem nordamerikanischen und westeuropäischen Parochialismus verbunden war (vgl. Randeria 1999: 373). Weder beruft man sich nun in den Kulturwissenschaften auf den normativen Kulturbegriff1 noch scheint die Auseinandersetzung mit der Thematik des Fremden Ähnlichkeiten mit ihren ursprünglichen Ansätzen zu haben. Es ist deutlich geworden, dass Fremdheit „weder ein Faktum der sozialen Welt darstellt, dem bestimmte Merkmale ‚per se‘ anhaften, noch eine Qualität von Personen oder Handlungen kennzeichnet, sondern daß es als soziales Artefakt und Beziehungsprädikat in gesellschaftliche Bedeutungsstrukturen rückgebettet bleibt, die jeweils unterschiedliche Zuschreibungen wahrscheinlich machen“ (Reuter 2002: 12). Zudem existiert das Fremde immer nur als Konstrukt und wird in sozialen Strukturen und Prozessen als solches erzeugt. Darüber hinaus ist das Fremde das Konstrukt jener Gruppe, die etwas als fremd wahrnimmt und bezeichnet. Außerdem besteht es immer in Relation zu einer sozialen Ordnung, die den Bereich des Selbstverständlichen, Vertrauten und Zugehörigen festlegt (vgl. Scherr 1999: 51). Außerdem ist diese Relationalität des Fremden ein Zeichen der untrennbaren Beziehung des Eigenen zum Fremden. Mit der Bezeichnung des Fremden als fremd wird immer das Eigene mitgedacht und hervorgehoben.

Schon seit Längerem beschäftigen sich geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungen mit dem Thema der Konstruktion sozialer wie kultureller Fremdheit und versuchen, Grenzziehungsprozesse im Kontext interkultureller Beziehungen besser darzustellen.2 Dabei nehmen sie vorwiegend kritische Standpunkte ein und warnen vor einem „verdinglichenden Mißverständnis kultureller Besonderheiten und von einer Verabsolutierung eher gradueller und immer erst aus der wechselnden Perspektive spezifischer Deutungsinteressen zu bestimmender Unterschiede“ (Osterhammel 1996: 276). Diesen Untersuchungen fehlt jedoch eine konkrete und umfangreiche Genese der Fremdheitskonstruktion in einer dieser außereuropäischen und ehedem als fremd und als Außenseiter wahrgenommenen Gesellschaften. Eine soziologische Untersuchung, basiert auf einer ←18 | 19→systematischen Methodologie und einem theoretischen Bezugsrahmen, der vor allem Quellen heranzieht, die bislang in der Soziologie weniger bearbeitet und zitiert wurden.

Die vorliegende Arbeit hat sich genau diese Forschungslücke vorgenommen. Die Praxis der kulturellen und sozialen Grenzziehung und die Genese des Fremdheitsphänomens in der iranischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts sollen anhand verschiedener persischsprachiger Auslandsreisetexte nicht nur möglichst vielseitig dokumentiert werden, sondern es wird zugleich versucht, sie auch im historischen Wandel darzustellen. Die hier rekonstruierten Fremdheitswahrnehmungen werden kein monolithisches und statisches Gebilde darstellen, sondern zeigen einen dynamischen Prozess, der bei allen Regelmäßigkeiten von inneren Widersprüchen, Ambivalenzen und diskursiven Verschiebungen geprägt ist.

Die Antwort auf die Frage, warum so eine Studie der außerwestlichen Geschichte für die Soziologie von Nutzen sein soll, steckt in der Sinnhaftigkeit der Soziologie selbst: Selbstverständlich spiegeln die Ordnungen der Soziologie nicht die natürliche Einteilung der Welt wider (vgl. Reuter 2002: 14). „Solange die wissenschaftlichen Ordnungen ihre Vorstellung geordneter Verhältnisse ausschließlich im Eigenen suchen, sind Fremdenfurcht und Fremdenfeindlichkeit gerade nicht Phänomene einer ‚in Unordnung‘ geratenen Welt, im Gegenteil, sie sind in einer solche Ordnung der Wirklichkeit zwangsläufig angelegt.“ (ebd., 15). Daher stellt eine Studie wie diese die Merkmale der Soziologie als Wissenschaft stärker in den Vordergrund. Die Soziologie wird für diese Arbeit als eine Wissenschaft definiert, die sich professionell mit den Ordnungen unterschiedlicher Gesellschaften beschäftigt und in einer erweiterten Konzeption Differenzen reflektiert, ohne die Welt auf partikularistische Phänomene zu reduzieren. Somit geht es darum, anhand solcher Untersuchungen jenseits einer „universal brotherhood“ und „universal otherhood“ (Randeria 1999: 373) einen interaktionistischen, relationalen dritten Weg als Reflexionshorizont der Soziologie zu finden. In dieser Art wissenschaftlicher Arbeiten, die nichtwestliche Gesellschaften als Gegenstand soziologischer Untersuchung, aber auch als Orte sozialwissenschaftlicher Produktion ernst nehmen, wird das Potenzial der Soziologie gezielt erweitert.

Die Frage nach der konstatierten Fremdheit in persischen Reiseberichten ist die Frage nach der inhaltlichen Repräsentation von Kultursphären, die jenseits einer nicht eindeutig festgelegten kulturellen Grenze situiert sind. Fremdheit ist dabei „keine objektiv gegebene Eigenschaft des betrachtenden Objekts, sondern wird in den Texten selbst erst geschaffen. […] Das Fremde ist also kein mit sich identisch bleibendes Thema […]. Es unterliegt selbst der Definitionsmacht des ←19 | 20→Betrachters und gerät dadurch in eine schwer arretierbare Bewegung.“ (Osterhammel 1997: 424).

Die iranischen Reisenden stellen auf der einen Seite die Figur des Grenzkonstrukteurs dar, auf der anderen Seite dienen sie allerdings als Normabweichler und zugleich als Fremde einer Gesellschaft. Sie sind sowohl Fremde in den Zielländern als auch Fremde im eigenen Land. Sie unterscheiden sich von den Einheimischen ihrer Gesellschaft, weil sie die Möglichkeit erhalten, sich mit anderen Wirklichkeitsordnungen auseinanderzusetzen, denn sie müssen als Vermittler die akzeptablen Elemente der fremden Welt in die eigene Gesellschaft übermitteln. Zudem sind sie in der Lage, die eigene Ordnung in Frage zu stellen wodurch sie sich zu einer Bedrohung für das Selbst- und Weltverständnis der Einheimischen entwickeln können. Zwar schafft es der Reisende durch artikulierende Grenzziehung im Hinblick auf das andere seine zugehörige Wir-Gruppe nach Innen stärker zu definieren und abzugrenzen, hin und wieder gelingt es ihm jedoch auch, abweichende Alternativen in Bezug auf die Normalität seines vertrauten Weltverständnisses zu deuten.

Mit diesen gelegentlichen Abweichungen schafft der Reisende neue Grenzen und somit neue Bezugsräume, die er der eigenen Gesellschaft übermittelt. Damit diese Praxis für die eigene Identität nicht gänzlich bedrohlich wird, muss der Normabweichler diese Grenzerweiterung bzw. -verschiebung legitimieren und nach Innen und Außen verteidigen (vgl. Stagl 1997: 93). Somit enthüllt der Reisende im und durch seinen Text die Grenzen des „Eigenen“, indem er diese Grenzen zum einen erweitert, zum anderen aber auch stärker abgrenzt.

Diese Grenzziehungen sind historisch und kontextuell bedingt und verschieben sich je nach Zeit und Ort und konstruieren neue Elemente des „Eigenen“ und „Fremden“. Zudem ist die entscheidende Variable bei der textlichen Fremdheitskonstruktion der Distanzgrad, d. h., die Distanz, die ein Autor zwischen sich und die Gegenstände seiner Beschreibung und Wertung schafft (vgl. Osterhammel 1997: 424). Daher ist es umso wichtiger, neben dem historisch-kontextuellen Hintergrund auch die konkret gelebten Erfahrungen des Beobachters im Blick zu behalten.

Als Untersuchungsmaterial dieser Arbeit wurden persischsprachige Reiseberichte ausgewählt, die im Zusammenhang mit einer Reise in den Westen (wobei hier mit dem Westen sowohl Europa als auch Russland gemeint sind) von iranischen Reisenden während des 19. Jahrhunderts verfasst worden sind. Das umfangreiche Textkorpus, der in Form von Reiseberichten während dieser Zeit produziert wurde, stellt eine geeignete Untersuchungsfolie für die Konstruktion und Konstitution des Fremden dar. Grenz- und Fremdheitskonstruktionen, die sich anhand dieser Texte analysieren lassen, sind radikalisierte Formen von ←20 | 21→Differenzierungen, die aus iranischer Sicht das Eigene vom Fremden trennen.3 Zudem sind hierzu noch die Intensivierung der Beziehungen zum Westen zur Wende des 19. Jahrhunderts und die in diesem Zusammenhang zunehmende Tendenz der Reiseaktivitäten und Reiseberichterstattung zu nennen, die zur eingehenden Erforschung und Erkundung des modernen Fortschritts und zur Verringerung des Machtgefälles zwischen dem Westen und dem eigenen Heimatland stattfand.4

←21 | 22→

Wo genau dieses Fremde begann und wo das Eigene endete, variierte allerdings nach Zeit und Raum. Nicht immer stellten sich die Sphären der Fremdheit und die des Eigenen als zwei endgültig getrennte Zonen dar. Es herrschten Überlappungen, Mischformen und Hybriditäten. Trotzdem existierten kulturelle und soziale Grenzziehungen, wie Gruppen-, Personen- und Identitätsdifferenzierungen (vgl. Lamont/Molnár 2002: 169). Aufgabe dieser Arbeit ist es, die bestehenden Fremdheitskonstellationen in den Reiseberichten, die entlang dieser Grenzen konstruiert worden sind, zu finden und klarzustellen, wie und wann und vor allem in welchen Verhältnissen sich diese Konstellationen im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewandelt haben.

Gliederung der Arbeit

Die vorliegende Studie ist in vier Teilbereiche (Einführendes, A, B und C) aufgefächert worden. Im einführenden Teil widmet sich die Arbeit im Kapitel II der eingehenden Auseinandersetzung mit dem Forschungsproblem und dem Ausgangspunkt dieser Studie. Dabei werden verstärkt die wesentlichen Forschungsfragen, Ziele und Aufgaben der Arbeit fokussiert. Im Kapitel III stehen Erläuterungen zum Forschungsstand und zur Forschungsrelevanz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Ausführung des theoretischen Bezugsrahmens der Untersuchung ist Aufgabe des IV. Kapitels. In diesem Abschnitt werden sowohl Ansätze der klassischen Soziologie über soziokulturelle Grenzen und der Begriff des Fremden und der Fremdheit herangezogen, als auch neuere Theorien umfangreich behandelt und dargestellt. Im letzten Kapitel des einführenden Teils wird die methodologische Herangehensweise der Arbeit gründlich vorgestellt. Auf der Basis einer qualitativen Methodik werden ausgewählte Reisetexte analysierend bearbeitet. Abgeleitet aus der Fragestellung und dem theoretischen Hintergrund werden grundsätzliche Strukturierungsdimensionen bestimmt. Danach werden deren Ausprägungen anhand eines erstellten Analyserasters inhaltsanalytisch ausgewertet. Auch Erläuterungen zur Fallauswahl, zum jeweiligen Untersuchungsabschnitt und zum Analyseraster selbst sind in diesem Teil zu finden.

Vermutlich seit es gesellschaftliches Leben gibt und verschiedene Kulturräume wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen zueinander pflegen, wurde gereist. Reisen folgt im Prinzip einem bestimmten Zweck und einer bestimmten Motivation, durch die sich das Reiseziel bestimmt. Aus dem Reisezweck ergeben sich verschiedene Reisetypen (vgl. Struck 2006: 16). Im ersten Kapitel des Teils A dieser Arbeit wird eine Skizze der Geschichte des Reisens und der Reiseberichterstattung in Iran vor dem 19. Jahrhundert entworfen. Dort ←22 | 23→wird versucht, zu zeigen, wie und unter welchen Umständen im damaligen Iran gereist wurde, wo die hauptsächlichen Ziele lagen und inwieweit Reiseberichte verfasst wurden, an welches Publikum die Berichte gerichtet waren und welche Konventionen eines Genres dabei zu erkennen waren.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahm das Medium des Reiseberichts in der gesellschaftlichen Vermittlung von Fremdheitskonstruktionen und als Informationsmedium vor allem über westliche Gesellschaften eine wichtige, wenn nicht zentrale Stellung im Iran ein. Daraufhin begannen auch funktionsdefinierte Herrschaftsreisen, die den Beginn einer neuen Ära in der iranischen Geschichte eröffneten. Teil B gestaltet die Bearbeitung der Entwicklungsgeschichte iranischer Fremdheits- und Grenzkonstruktionen in dieser Zeitspanne anhand ausgewählter Reiseberichte. Dieser Teil setzt sich aus drei Hauptkapiteln zusammen. Jedes Kapitel, das chronologisch aufgebaut ist, setzt sich mit jeweils einer Untersuchungsperiode aus dem 19. Jahrhundert auseinander. Hierbei werden sowohl der sozialhistorische Kontext jedes Zeitabschnitts, als auch die interpretative Text- bzw. Inhaltsanalyse der Berichte herangezogen. In jedem Teilabschnitt werden jeweils zwei Europareiseberichte und ein Russlandreisebericht behandelt. Die Aufteilung der ausgewählten Berichte in Europa- und Russlandtexte ist aufgrund der Bedeutung Russlands als nördlicher und semieuropäischer Nachbar Irans in der analysierten Ära begründet. Während der Regierungszeit Peters des Großen (1672–1725) setzte Russland eine aggressive Strategie gegen den Iran um, die im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. Seit diesem Zeitpunkt geriet der Iran mit Russland in eine Fremdheitsbeziehung, die sich noch lange bis in die 1940er Jahre hinein weiter verfolgen ließ5.

Außer dieser sozialhistorischen Bedingtheit, die diese beiden Räume in eine schicksalhaft verzwickte Lage brachte, war der euroasiatische Weder-noch-Zustand Russlands ein weiteres Kriterium für diese methodische Aufteilung der Berichte. Die Ambivalenz, die in der Lage Russlands immanent ist, eröffnet neue Perspektiven für die Beschreibung und Analyse der komplexen ←23 | 24→Konstruktionsprozesse von Grenz- und Fremdheitsfällen. Damit bricht das selbstverständlich gewordene binäre Konstrukt Europa/Nichteuropa auf und wird zusätzlich um eine dritte Dimension und Perspektive erweitert.

Abschließend wird versucht, im Teil C der Arbeit die Ergebnisse aus Teil B im Rahmen einer Schlussbetrachtung zu resümieren.

←24 |
 25→

1 Vgl. für eine detaillierte Darstellung der Geschichte des modernen Kulturbegriffs seit dem 18. Jahrhundert Reckwitz (2000, 2005).

2 Auf die Literatur zu Fremdheits- und Grenzkonstruktionen im interkulturellen Kontext wird im Abschnitt „Forschungsstand“ noch genauer eingegangen.

3 Bei der Differenzierung und starken Gegenüberstellung zwischen Europa und Nicht-Europa in den persischen Reiseberichten könnte man meinen, dass es sich um eine ziemlich irreale, irrelevante und mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmende Unterscheidung handelt, da sich weder das Europa des 19. Jahrhunderts als eine in sich stimmige und kohärente Einheit verstand noch die iranische Gesellschaft das Bild einer Gesamtheit von sich hinterließ, dass sich im Endeffekt klare Grenzen bzw. Sinngrenzen zwischen zwei ausgeprägten Kultureinheiten markieren und kennzeichnen ließen. Bedeutend sind hier jedoch die Wahrnehmung der Reisenden und die konstruierte Wirklichkeit in den Reiseberichten, die im Nachhinein auf der gesellschaftlichen Ebene reale Konsequenzen aufweisen. In den Reiseberichten lassen sich ausgeprägte Grenzziehungen zwischen dem „Fremden“ und dem „Eigenen“, „Europa“ und „Nicht-Europa“, „Farang“ und „Iran“ feststellen. Der iranische Reisende mag sich vielleicht bewusst sein, dass seine eigene Gesellschaft fragmentiert, zerstückelt und an sich heterogen gestaltet ist, bei der Konfrontation mit einer von Prinzip aus „anderen“ Ordnung ist jedoch bei ihm das Fremde nicht sein eigenes Land, sondern das ganze Europa. Dass wiederum in Europa kulturelle Besonderheiten einzelner Regionen existieren, wird selbstverständlich nicht ausgeschlossen, aber diese Partikularitäten stellen sich jenen scheinbar unabdingbaren Differenzen gegenüber, die der eigenen Ordnung gegenüber als fremd, unvertraut und nichtzugehörig empfunden werden.

Details

Seiten
352
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631816943
ISBN (ePUB)
9783631816950
ISBN (MOBI)
9783631816967
ISBN (Paperback)
9783631813690
DOI
10.3726/b16748
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (August)
Schlagworte
Soziale Fremdheit Kulturelle Fremdheit Iran Europa Symbolische Exklusion Materiale Exklusion Interkulturelle Begegnung Unvertrautheit Reisen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 352 S., 4 Tab.

Biographische Angaben

Sara Faridzadeh (Autor:in)

Sara Faridzadeh hat an den Universitäten Teheran, Wien und Berlin studiert. Promoviert hat sie an der Humboldt Universität zu Berlin im Fach Soziologie. Im Zentrum Ihrer Forschungsinteressen stehen Kultursoziologie, Soziologische Theorien, soziokulturelle Geschichte Irans, Reiseliteratur und historische Reiseberichte. Zurzeit ist sie als Assistenzprofessorin am Institut für Sozialwissenschaften an der Universität Teheran tätig.

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Titel: Die Grenzen des Fremden
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